Doris Dörrie: "Diebe und Vampire"
Doris
Dörrie hält dem Leben im Allgemeinen und der
Literaturszene im Besonderen einen Spiegel vor und schaut auch selbst
hinein: Erkenntnisse und Münchhausiaden vom Feinsten!
Multitalent Doris Dörrie, am 26. Mai 1955 in Hannover geboren,
tritt nicht nur mit Kinofilmen (z.B. dem Welterfolg "Männer")
und Dokumentationen (zuletzt anno 2014 "Dieses schöne
Scheißleben" über weibliche Mariachis in Mexiko) in
Erscheinung, sie verfasst auch Kinderbücher, Romane und
Kurzgeschichten.
In einem Interview mit "Die Welt", erschienen am 26. Oktober 2014,
merkte die Autorin zum Titel ihres aktuellen Romans an, "dass
man auch als Schriftsteller üben muss, zu klauen und aus der
Realität Blut zu saugen."
"Diebe und Vampire", über weite Teile in Mexiko spielend,
behandelt in höchst unterhaltsamer Form nicht nur die
Schriftstellerei in ihren unterschiedlich ausgelebten
Erscheinungsformen, den Literaturbetrieb mit seinen Eitelkeiten und
internen Gepflogenheiten, sondern auch allgemein Menschliches wie das
Älterwerden (zuerst als reine Beobachtung, dann als Erfahrung
der Icherzählerin am eigenen Leib), die Geschlechterrollen im
Wandel der Jahrzehnte, Beziehungen, Abhängigkeiten und
Freundschaften, die Wirkung auf Mitmenschen, eigene und fremde
Manipulierbarkeit sowie den Umgang mit jenen Rollen, die man nur in
einem gewissen Alter spielen zu können glaubt. Es sind
vermutlich auch einige autobiografische Elemente in die teils
köstlich heitere, teils betrüblich bittere Geschichte
eingeflossen. Doris Dörrie beherrscht es meisterhaft, ihre
Figuren auch in Momenten der Schrecknis mit sympathischer
Lebensklugheit und gelassener Heiterkeit auszustatten, was erheblich
zur Lesefreundlichkeit ihres Romans beiträgt.
"Schriftstellern sollte man aus dem Weg gehen. Sie sind Diebe
und Vampire allesamt." (S. 185)
Alice Hofmann, mit Leib und Seele Büchern (und
Männern) verfallen, selbst allerdings mehr theoretisch als
praktisch Autorin, jedoch immerhin mit einer mehr als
blühenden Fantasie ausgerüstet, inzwischen
fünfzig Jahre alt und (manchmal unfreiwillig) gereift und
selbstironisch, blickt auf prägende Erfahrungen
zurück, die sie im Lauf ihres Lebens ab dem Alter von 22
Jahren gemacht hat, bis man mit ihr in der Gegenwart angekommen ist.
Sie berichtet in chronologisch angeordneten Episoden aus verschiedenen
Perioden ihres Lebens, erzählt von ihren jeweiligen
Männern und Lebensumständen, gespickt mit tragischen
wie auch lustigen Details und überraschenden Wendungen.
Beispielsweise sind die absolut treffenden Beschreibungen der "alten"
Körper der Freunde und Bekannten aus der Perspektive der
22-Jährigen sehr gelungen, ebenso die exakten
Ausführungen über Zunftkollegen im letzten Abschnitt.
Geistreich und originell werden auch Länder und Leute,
allgemeine Zustände und Verhaltensweisen eingefangen, unter
Anderem wohlhabende Touristen in Acapulco, bestechliche
Gefängnisbedienstete in Mexiko, hoffnungsvolle
Jungschriftsteller, die ihre Krisen ungehemmt ausleben und bisweilen zu
sonderbaren Experimenten neigen, oder auch die us-amerikanische
Spezialität, hinter Masken floskelbeladener
Freundlichkeit und scheinbarer Hilfsbereitschaft Unaufrichtigkeit und
Desinteresse mehr schlecht als recht zu verbergen.
"Man hätte auch sagen können, ich log gern,
aber ich dachte, dass ein gewisses Talent zur Lüge als
Grundvoraussetzung für das Schreiben nicht das Schlechteste
war." (S. 19)
Alice ist 22 Jahre alt, studiert eigentlich Amerikanistik und
Ethnologie, tatsächlich tut sie meistens nichts. Insgeheim
treibt sie der Wunsch, zu schreiben, ebenso sehr an, wie er sie
quält, doch damit bleibt sie unverstanden. Ihr Notizheft will
sich nicht so recht mit Nennenswertem füllen, ihr
"Schreibmuskel" verfügt nicht über die
Kraft, interessante Geschichten hervorzubringen.
Als ihre Waffen gegen die Einsamkeit und die Panik vor dem Alleinsein
bezeichnet sie schon früh Bücher und Männer.
Sie hat sich in ihrem weitgehend verpflichtungsfreien Faulenzerleben an
der Seite eines 17 Jahre älteren verheirateten Dermatologen,
er wird nur als "Pe" bezeichnet, gemütlich eingenistet. Alice
genießt in erster Linie die materiellen Vorzüge, die
der gutsituierte Arzt ihr bieten kann, er die körperlichen
Reize einer jungen Frau und das relativ freie Leben fernab seiner
Gattin und der drei Töchter.
Ein gemeinsamer Badeurlaub in Mexiko kurz vor Weihnachten beschert Pe,
der es als Dermatologe eigentlich besser wissen sollte, einen heftigen
Sonnenbrand und Alice die Bekanntschaft mit einer erfolgreichen
us-amerikanischen Schriftstellerin, die mit ihrem
Lebensgefährten Blake, einem Kieferorthopäden,
ebenfalls Urlaub am Meer macht. Diese Dame wirkt überaus
weltgewandt, unerschrocken und souverän und beeindruckt Alice
sehr, auch aufgrund ihrer mit Neid beobachteten eisernen und
täglich zur Schau gestellten Schreibdisziplin.
Während die Männer bald miteinander ins
Gespräch kommen und vereint isometrische Übungen
ausführen, versucht Alice, die sich erst als Erwachsene zu
geben lernen muss, das Interesse der bewunderten Autorin, die sie "die
Meisterin" nennt, zu erregen.
Nach einigen Fehlschlägen gelingt dies mittels eines
Zeitungsartikels über einen verwundeten Knaben, der in einem
Männergefängnis unter unmenschlichen
Umständen inhaftiert ist. In weiterer Folge besuchen die
beiden so grundverschiedenen Frauen mehrmals den
minderjährigen Häftling.
Es entwickelt sich jedoch kein echtes Engagement, sondern eine eher
strohfeuerartige Neugier - entsprechend den "Dieben und Vampiren". Mehr
als eine rührselig betriebene
Spendensammlung im Nobelhotel für die Verlegung des Knaben
Fernando in ein Jugendgefängnis und die routiniert
abgewickelte Bestechung des Gefängnisdirektors, (nicht umsonst
war die Meisterin früher mit einem schwulen General
verheiratet), ergibt sich daraus nicht.
Als Alice krank im Bett liegt, verrät ihr die Meisterin in
einem seltenen Moment ehrlicher Nähe: "Weißt
du, die Jugend ist die einsamste Zeit von allen. Es wird besser. Durch
andere wirst du die Einsamkeit nicht los. Auch durch mich nicht. Du
musst dich anderswo nach Trost umsehen. Schreiben hilft. Ein
bisschen."
(S. 65)
Es folgt eine vage Einladung der Meisterin, sie in San Francisco zu
besuchen, dann reisen die Schriftstellerin und ihr
Kieferorthopäde ab, eine Woche vor Alice und Pe. Die beiden
Übriggebliebenen verbringen ihre
restliche Urlaubszeit gelangweilt oder mit Auseinandersetzungen, die
sogar handgreiflich werden. Noch ahnt Alice freilich nicht, wie sich
Jahrzehnte später die Szenen allem Anschein nach
ähneln werden, nur mit veränderten Rollen aufgrund
des Generationenwechsels.
Alice besucht Fernando einmal allein im Gefängnis, wo sie
seiner Mutter begegnet. Die
Verlegung in das weit entfernte Jugendgefängnis bedeutet, dass
die Mutter Fernando nicht mehr besuchen und ihm nichts mehr zu essen
bringen kann - hier bewahrheitet sich wieder einmal, dass gut gemeint
nicht gleich gut ist.
Alice schreibt einen tollkühnen Brief an die Meisterin,
fantasiert darin eine wilde Geschichte über die Verlegung
herbei, wonach sie Fernando während der mehrstündigen
Fahrt begleitet und wüste Küsse mit ihm ausgetauscht
hätte, danach auf einer Raststation zurückgelassen
worden sei; der "Schreibmuskel" zuckt quasi
unkontrolliert.
Pe verbringt Weihnachten bei seiner Frau und den Kindern,
Alice bei ihrer depressiven, trinkenden Mutter.
Etwa zwei Jahre später, Alice und Pe sind kein Paar mehr, will
die junge Frau der Einladung der Meisterin folgen und begibt sich unter
Aufwendung ihrer gesamten Ersparnisse nach San Francisco. Dort
angekommen muss sie allerdings feststellen, dass sie offenbar
keineswegs willkommen ist, denn sie wird bei Anrufen
vertröstet oder abgewimmelt und muss sich daher notgedrungen
eine Unterkunft suchen, nachdem sie viele Stunden völlig
durchnässt in einem Kaufhaus und einem "Drugstore"
(sogar schreibend!) zugebracht hat. Wie es der Zufall will, landet sie
mit dem Matrosen Hugh, der ihr nicht nur eine erst spät
entdeckte unerwünschte Schwangerschaft beschert, sondern sie
auch mit Meditation vertraut macht, in dessen Hotelzimmer. Hugh
versüßt ihr das Warten auf eine "Audienz" bei der
Meisterin, doch auch er, wie viele Männer vor ihm in Alices
Leben, kann mit Büchern absolut nichts anfangen.
Bei einem Treffen mit Blake erfährt Alice, dass die Meisterin
an einer Depression leidet und sich in einer akuten Krise befindet,
ausgelöst durch die Aussage eines Literaturkritikers
über ihr neuestes Buch, sie sei eine
"schreibende Hausfrau".
Als Alice ins Hotel zurückkehrt, ist Hugh abgereist, doch er
hat ihr ein Abschiedsgeschenk hinterlassen: das neueste Buch der
Meisterin, worin unter Anderem Fernandos Geschichte in abgewandelter
Form enthalten ist.
Die Meisterin zeigt sich noch tagelang unnahbar; Alice muss auf die
für sie immer unwichtiger werdende Begegnung warten. Immerhin
lernt sie in San Francisco viele interessante Leute kennen, darunter
einen aufgeweckten Zen-Mönch, der Alice einige entscheidende
Fragen stellt, z.B.: "Wer bist du, wenn dir niemand zuschaut?".
Der schließlich doch noch stattfindende Besuch bei der
Meisterin verläuft enttäuschend und geradezu
langweilig.
Im dritten Teil ist Alice eine kommerziell erfolgreiche
Schriftstellerin, nun selbst angehimmelt und bekannt und inzwischen
auch mit der Kehrseite der Medaille vertraut.
Das von ihr mit viel Erfolg in Ratgebern für
Möchtegernautoren vermarktete Konzept der Heldenreise konnte
Alice selbst freilich nicht retten, bildet jedoch den ironischen
Hintergrund, vor dem sich ihr eigenes Schicksal entsponnen hat und
womöglich seinen weiteren Lauf nehmen wird.
Sie richtet sich an ein "du", es handelt sich hierbei um ihren Exmann,
der sich nach 15 Ehejahren von ihr getrennt und mit einer
jüngeren Frau eine Familie gegründet hat.
Alice reist auf Einladung zu einem Schriftstellertreffen nach
Mexiko,
diesmal ist sie die bewunderte Autorin, nicht, wie Jahrzehnte zuvor,
die aufdringliche Nachwuchsschreiberin, obwohl sie außer
einem erfolglosen Band mit Kurzgeschichten nur Ratgeber für
Möchtegernschriftsteller mit Schreibblockade
veröffentlich hat.
Doch auf der Bühne der Eitelkeiten sind die bekannten Rollen
wieder einmal gnadenlos zu besetzen, und prompt findet sich eine junge
Frau ein, die Alice zu vergöttern scheint ... Diesmal wird sie
allerdings selbst Opfer einer fremden
überschießenden Schriftstellerfantasie und gewaltig
an der Nase herumgeführt.
Mit einer wirklich wahren Geschichte, die Alice nie jemand geglaubt
hat, weil sie so unwahrscheinlich klingt, endet der Roman;
nachdenklich, ein bisschen wehmütig, zugleich lebensbejahend.
Doris Dörrie hat mit "Diebe und Vampire" einen auf
wohlerworbener Menschenkenntnis beruhenden mitreißenden Roman
geschrieben, der anspruchsvolle Unterhaltung mit Tiefgang bietet.
(kre; 06/2015)
Doris
Dörrie: "Diebe und Vampire"
Diogenes, 2015. 224 Seiten.
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Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Hörbuch-CDs bei amazon.de bestellen
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Kirschblüten. Hanami. Ein Filmbuch"
Rudi und Trudi sind seit dreißig Jahren ein Paar. Als Trudi
plötzlich stirbt, fliegt Rudi zu Sohn Karl nach
Japan, um das
zu sehen, was Trudi wichtig war und was sie zusammen nicht mehr erleben
konnten: ihren Sohn in Japan, die legendäre japanische
Kirschblüte, den Fujiyama und auch den Butoh-Tanz, der
früher einmal Trudis Leidenschaft gewesen war. Das Buch
enthält Fotos aus dem Film mit der Kürzestversion der
Geschichte in Untertiteln, das komplette Drehbuch und Hintergrundinfos
von Doris Dörrie über den Dreh am Fujiyama, ihr
Verhältnis zu Japan, den Butoh-Tanz und über Zen.
(Diogenes)
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"Das
blaue Kleid"
Eine Gedächtnismodenschau für Alfred, seinen vor
einem Jahr an Krebs gestorbenen Geliebten, wollte Florian organisieren.
Aus jeder Kollektion ein geniales Stück: das tomatenrote
Wickelkleid von 1996, die schwarzen Kaschmirschlaghosen von 1998, das
cremeweiße Satinetuikleid von 1999 - und natürlich
das blaue Kleid vom Frühling 2000. Auf der Suche nach je einem
der Modelle gerät Florian an Babette, die das blaue Kleid, ein
Traum aus mittelmeerblauem Organza, gekauft hatte. "Das Kleid wird Ihr
Leben verändern!", hatte Alfred ausgerufen, als er Babette
damit zögerlich aus der Kabine treten sah. Und der
Modeschöpfer hatte nicht zuviel versprochen: So vieles war
seitdem geschehen. Eine Geschichte über die Liebe und den Tod
- die beiden Themen, die die Weltliteratur schon immer
beschäftigt haben. (Diogenes)
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"Liebe,
Schmerz und das ganze verdammte Zeug. Vier Geschichten"
Vier großartige, liebevolle, traurige, grausame Geschichten:
"Mitten ins Herz", "Männer", "Geld", "Paradies".
Es sind Geschichten, aus denen Doris Dörrie ihre Filme
entwickelt, von denen "Männer" der weltweit erfolgreichste
deutsche Film seit Jahrzehnten wurde. Geschichten um eine Kindfrau, um
Liebe und Langeweile, um Eifersucht, Geld und Erfolg. Geschichten von
befreiender Frische. (Diogenes)
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"Alles
inklusive"
Ihren albernen Vornamen verdankt Apple ihrer Hippie-Mutter Ingrid. Das,
ein paar Neurosen und die Liebe zu gebügelten Blusen und
Bürgerlichkeit. Nie mehr will Apple so chaotisch leben wie in
ihrer Kindheit. Wie damals in Spanien in dem Zelt am Hippie-Strand, im
Sommer 1976, als Apples Mutter Karl Birker kennenlernte. Ingrid, die
Strandkönigin von Torremolinos,
barbusig, schön und verwegen, und Karl, der Bankangestellte
aus Hannover mit Frau und Sohn und schmuckem Ferienhaus, verliebten
sich Hals über Kopf ineinander - mit unausdenklichen Folgen
für fünf Menschen.
Dreißig Jahre später reiht die erwachsene Apple ein
Liebesdesaster ans andere, während ihre beste Freundin Susi
ein Haus in Spanien sucht. Dort, unter der Sonne des Südens,
soll Susis schwerkranker Mann Ralf endlich gesund werden. Und Ingrid,
auch mit über sechzig noch ein rebellischer Freigeist, kehrt
nach drei Jahrzehnten an den Schauplatz jener verhängnisvollen
Sommerliebe zurück. Vor lauter Hotelbunkern erkennt sie das
einstige Fischerdorf kaum wieder - mit manchen alten Bekannten ergeht
es ihr genauso ...
Ein herzzerreißend komischer Roman über
Mütter und Töchter, über die Zumutungen der
Liebe und das Glück der Freundschaft,
und über unsere
ewige Sehnsucht nach dem Süden. (Diogenes)
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"Mimi
und Mozart"
Geschichte mit
Bildern
von Julia Kaergel.
Mimi soll Klavier üben und langweilt sich. Lustlos klimpert
sie herum - da steigt plötzlich ein Knabe mit komischer
Bekleidung und einer weißen Perücke
aus dem Klavier.
Er spielt Klavier
wie der Teufel, schaut dabei nicht einmal auf die
Noten, und alles ist völlig fehlerfrei ... (Diogenes)
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