Frank Schätzing: "Breaking News"
Tom Hagen ist das, was man
einen Kriegsberichterstatter nennen würde - oder auch einen
Krisenberichterstatter. Seit Jahren bewegt er sich durch Gegenden, aus
denen viele Menschen am liebsten wieder verschwinden würden, und in
diesen Gebieten ist er mehr oder minder zuhause. Dort scheint das Leben
für ihn eine gewisse Normalität erreicht zu haben, und so findet er
nichts dabei, mit Truppen an vorderster Front unterwegs zu sein und sich
die Kugeln und Granatsplitter um die Ohren fliegen zu lassen. Und immer
findet er Gleichgesinnte, die um ihn herum fotografieren oder sogar
Volontäre, die mit ihm in das größte Chaos eintauchen. Er ist einer der
Stars der Szene und von seinen Arbeitgebern in Hamburg
hochgeschätzt.
Doch dann lässt er sich in
Afghanistan im Jahr 2008 in eine Geiselnahmeverhandlung verwickeln
und erfährt dabei Dinge, die die Geheimdienste dringend wissen wollten.
Bei einer anschließenden Befreiungsaktion wird er allerdings von der
Begleitung der Truppe offiziell ausgeschlossen - und begibt sich mit
seinem Fotografen Krister Björklund und seiner Volontärin Inga trotzdem
in das fragliche Gebiet. Alles geht gut, bis nur Sekunden vor dem
Zugriff die Geiselnehmer auf Inga aufmerksam werden. Ergebnis: tote
Inga, alle Geiseln und etliche Geiselnehmer tot und auch einige der am
Einsatz beteiligten Soldaten. Und Toms Ruf ist dahin.
In der Folge stürzt er sich intensiv in die Suche nach Muammar Gaddafi
nach dem Fall Libyens, aber als dieser dann gefunden wird, liegt Tom
bewusstlos in einer Krankenstation. Sein Leben wie auch seine Karriere
scheinen einen Tiefpunkt erreicht zu haben, und Tom beginnt sich immer
mehr mit König Alkohol anzufreunden, während er alle anderen privaten
Kontakte durch sein Leben im Krieg schon längst verloren hat und ihn
eigentlich nichts mehr zurück nach Deutschland zieht. Sein Absturz geht
bis auf ein höchst unerwartetes Plateau.
Da taucht auf einmal wieder Krister Björklund in seinem Leben auf und
bittet ihn, bei einer Aktion in Israel dabei zu sein. Anscheinend hat er
eine Art israelischen Banning gefunden, der zwei CDs mit Daten der
Arbeit der Schin Bet anzubieten hat. Das könnte seiner Karriere
schlagartig wieder auf die Beine helfen. Doch die Sache läuft dann erst
einmal vergleichsweise enttäuschend ab, denn die Daten auf der für
25.000 US-Dollar angekauften Doppel-CD sind eigentlich nicht sonderlich
aktuell - oder beinhalten Namen von Schin Bet-Undercoveragenten,
die er auf keinen Fall in Gefahr bringen möchte. Seinen Geldgebern in
Deutschland verspricht er allerdings einen möglichen Skandal, zu dem
sich auf den CDs gar nichts findet, und plötzlich wird sein Leben so
interessant wie noch niemals zuvor. Während jenes von Krister sehr
abrupt und unschön endet.
Auf der Flucht in einem fremden Land, in dem er die Sprache nicht
beherrscht und das nicht zu seinen Spezialgebieten gehört, muss Tom
nicht nur sein eigenes Leben schützen, sondern auch das einer jungen
Frau, die er ungewollt mit in die Sache hineinzieht, und er muss
versuchen herauszubekommen, warum man ihn überhaupt umbringen möchte.
1929 in Palästina, Kfar Malal
Hier beginnt der zweite große Handlungsstrang dieses Romans, und er
erzählt die Geschichte einiger jüdischer Familien, die an diesem Ort
erstmals die Angriffe ihrer muslimischen Nachbarn erleiden müssen. Durch
die Geschichte des Zweiten
Weltkriegs, die britische Mandatszeit und all die Verträge und
Versprechungen, die in dieser Zeit gemacht wurden, die Neugründung des
Staates Israel und die Geschichte der sich daraus entwickelnden
Konflikte, geht es bis ins Jahr 2011, in dem Tom Hagen ein Ende dieser
Geschichte unbewusst aufnimmt und dadurch nicht nur ein unsagbares altes
Verbrechen aufdeckt, von dem die Welt gar nichts gewusst hat, sondern
ein geradezu weltuntergangseinflößendes neues aufdeckt. Eine lange,
komplexe und sehr erhellende Erzählung über Ängste,
religiös-historische Ansprüche, Freundschaften, Verrat und gebrochene
Verträge, Geheimdienstarbeit und Diplomatie, politische Strömungen an
allen Ecken und Enden, die scheinbar offensichtliche Lösungen immer
wieder hintertreiben, um ihre eigenen Interessen zu schützen oder sogar
voranzutreiben.
Frank Schätzing, der bereits mit "Lautlos" einen ganz gut recherchierten
Ausflug in die Welt des globalisierten Terrorismus unternommen hat, hat
sich hier nach ausgiebiger Recherche und wohl auch nach Gesprächen mit
Fachleuten an eine Erzählung gemacht, die den schnellen Wunsch nach
aktuellen Krisennachrichten, wie man sie immer wieder im Fernsehen
sieht, mit einer möglicherweise dahinter stehenden Wirklichkeit in
Verbindung bringt. Dabei liegt der Betrachtungsschwerpunkt stark auf der
israelischen Seite, weil gerade im zweiten Erzähltau (von einem Strang
zu sprechen wäre hier eher albern) eben diese Perspektive vorliegt. Die
Siedlerinnen
und Siedler, die Ärzte und Politiker, die Soldatinnen und Soldaten
sind diejenigen, durch deren Augen wir die Geschichte Israels erleben -
und dabei erleben wir eine durchaus durchwachsene Geschichte, die
fürchterliche Gräuel zeigt, wie sie selbst einigen der daran Beteiligten
zu viel geworden sind. Stellenweise liest man fassungslos die Seiten,
die da vor einem liegen, und fühlt sich am Ende eines Abschnitts beinahe
ebenso traumatisiert wie die Person, durch deren Augen man das Ganze
wahrgenommen hat.
Schwere gebundene Form, Lesebändchen (bei mehr als 900 Seiten wirklich
notwendig) und vorne und hinten Kartenmaterial, ein Glossar und eine
umfängliche Danksagungsliste für die Recherchehelferinnen und
Recherchehelfer sind auch rein handwerklich ein dicker Brocken. Die
Perspektive mag dem Autor Kritik aus beiden Richtungen eintragen, denn
vieles in "Breaking News" ist deutlich israelkritisch, wie z.B. die
Unterhaltung einiger jüngerer Israeli mit Reportern einer Publikation,
die gerade etwas über ihr Denken und Fühlen wissen will - und deren
Ergebnis man dann tatsächlich vor wenigen Jahren so hatte lesen können.
Der Nahostkonflikt - oder vielleicht besser: der Konfliktkomplex -
entzieht sich seit vielen Jahrzehnten einfachen Definitionen und
Erklärungen - und vielleicht gerade deswegen auch einfachen Lösungen.
Schätzings Versuch, diese Komplexität erzählerisch einzufangen, ist
gewagt - und gleitet gelegentlich auch in das Überexpositorische ab;
aber nicht so extrem, dass man nicht doch das Interesse am Weiterlesen
behält. Ein Reißer im Sinne der älteren Ken Follet-Titel. Zwischendurch
kam beim Rezensenten die Überlegung auf, wie man das filmisch umsetzen
könnte, auch wenn die Familiengeschichten einigen Leuten vielleicht zu
ausgewalzt erscheinen mögen.
Fazit:
Eine lange - jedoch äußerst zufriedenstellende - Leseerfahrung.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 03/2014)
Frank
Schätzing: "Breaking News"
Kiepenheuer & Witsch, 2014. 965 Seiten.
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