Linn Ullmann: "Das Verschwiegene"
Psychologisch raffiniert
komponierte Lektüre
Der vorliegende Roman der in ihrer Heimat Norwegen ebenso bekannten wie
beliebten Schriftstellerin Linn Ullmann thematisiert die Geschichte
einer scheinbar glücklichen Familie, die aber unter der Oberfläche Risse
und Verwerfungen zeigt, die an jedem Familienmitglied unterschiedlich
nagen und ihre Ursachen in zahlreichen Geheimnissen haben, die sie
voreinander verstecken.
Die Handlung erstreckt sich über insgesamt zwei Jahre und beginnt
sozusagen mit dem Ende, als drei Knaben in einer norwegischen
Küstenstadt bei der Suche nach einem vor längerer Zeit vergrabenen
Schatz auf die halb verwesten Überreste einer weiblichen Leiche stoßen.
Schnell stellt sich heraus, dass es sich bei der Toten um jene Mille
handelt, die zwei Jahre zuvor, während des Geburtstagfestes von Jenny
Brodal, spurlos verschwunden ist.
Jenny Brodal ist 75 Jahre alt, arbeitete früher als geachtete
Buchhändlerin und lebt nun in ihrer weißen Holzvilla an der Küste,
zusammen mit einer stillen und reservierten Frau, die ihr Partnerin und
Haushaltshilfe zugleich ist. Ihre Tochter Siri führt ein Restaurant in
Oslo, und der Schwiegersohn Jon ist Schriftsteller, der vor langer Zeit
die ersten beiden Bände einer sehr erfolgreichen Trilogie veröffentlicht
hat, seither jedoch vergeblich versucht, diese mit einem dritten Buch
abzuschließen.
Siri und Jon verbringen jedes Jahr mit ihren beiden Töchtern Liv und
Alma den Sommer bei Jenny im Haus. In diesem Jahr möchte Siri gegen
deren Willen für ihre Mutter zum 75. Geburtstag ein großes Fest
vorbereiten, und Jon beabsichtigt, an seinem Buch zu arbeiten, weswegen
sie wenig Zeit für ihre Töchter erübrigen können. Deshalb engagiert das
Paar ein neunzehnjähriges Kindermädchen namens Mille, das einige Zeit
vor dem Fest ins Haus kommt und in der Nacht der Geburtstagsfeier
spurlos verschwindet.
Relativ bald ist dem Leser aufgrund einiger Bemerkungen klar, was
geschehen ist, doch dies ist dem weiteren Lesevergnügen keineswegs
abträglich, denn das Buch ist schließlich kein Kriminalroman, und im
Mittelpunkt steht somit nicht die Aufklärung eines Verbrechens.
Linn Ullmann ist in all ihren Romanen vielmehr daran gelegen,
Verwerfungen und Abgründe in menschlichen Beziehungen aufzuspüren und
den schmalen Grat zwischen Liebe und Hass zu erkunden. Insbesondere in
"Das Verschwiegene" geht es um jene Geheimnisse,
welche die Mitglieder einer Familie voreinander verbergen. Und es geht
überdies darum, wie sich das Verschwiegene zu einer eigenen mächtigen
Kraft entwickelt, die alles zu zerstören in der Lage ist, was den
Menschen in dieser Familie etwas bedeutet.
Mit viel Feingefühl und geschickt aufgebaut, breitet Linn Ullmann nicht
nur die unterschiedlichen Beziehungen, die jeder in der Familie in der
Zeit von Milles Anwesenheit zu diesem Mädchen aufgebaut hat, vor dem
Leser aus, sondern die Autorin beschreibt auch, den Leser immer tiefer
in Psyche sowie Geschichte der Familie und ihrer einzelnen Mitglieder
einführend, was nach dem rätselhaften Verschwinden des Mädchens in der
fraglichen Nacht in den Protagonisten vorgeht.
Da tauchen plötzlich tiefe Gefühle auf, Ängste und Unsicherheiten
übernehmen die Herrschaft in einer Familie, die sich zunächst vergeblich
der Gefahr ihrer Zerstörung entgegenstemmt. Als dann endlich die Leiche
des Mädchens gefunden wird, wirkt dies wie eine Erlösung, und es
scheint, als könne nun all das Verschwiegene eine Sprache
bekommen.
Zunehmend wird deutlich, warum sich jeder Einzelne so verhält, wie er es
tut. Lässt es der Leser zu, kommen ihm die Romanfiguren stellenweise
dermaßen nahe, dass er sich anhand so mancher Verhaltensweise in ihnen
wiedererkennen kann.
(Winfried Stanzick; 05/2013)
Linn Ullmann: "Das Verschwiegene"
(Originaltitel "Det dyrebare")
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Luchterhand Literaturverlag, 2013. 352 Seiten.
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Linn
Ullmann wurde 1966 in Oslo geboren. Sie studierte Englische Literatur an
der New York University und kehrte nach zehn Jahren anno 1990
nach Oslo zurück, wo sie sich als Literaturkritikerin und Kolumnistin
bei den norwegischen Zeitungen "Dagbladet" und "Aftenposten" einen Namen
machte. Seit 1998 veröffentlichte Linn Ullmann mehrere Romane, die
großen Anklang bei Presse und Lesern fanden und in 30 Sprachen übersetzt
wurden.
Weitere Bücher der Autorin:
"Gnade"
Von schrecklicher Zärtlichkeit und gnadenlosem Mitgefühl.
Johan Sletten muss erfahren, dass ihm nicht mehr viel Zeit im Leben
bleibt. Als er zurückblickt, gesteht er sich ein, dass er immer ein
schwacher Mensch gewesen ist, ein durchschnittlicher, unscheinbarer
Mann. Sein ganzes Glück ist seine Frau Mai, sie ist seine Gnade, wie er
oft sagt. Ihre Liebe zu ihm macht ihn stolz, in ihrer Gegenwart verliert
er jede Ängstlichkeit. Daher trifft er nun die erste mutige Entscheidung
seines Lebens: Er will in Würde sterben, und Mai soll ihm bei seinem
letzten Gang helfen. Aber reicht ihre Liebe so weit? Und ist Johan
seinem letzten Wunsch überhaupt gewachsen? (btb)
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"Die
Lügnerin"
Die Bloms sind eine Familie: jeder einzelne liebenswert und verrückt,
leicht schräg und auf besondere Art unglücklich. Vor allem die Frauen
aus drei Generationen geben den Ton an: June und Selma, die alten
Kämpferinnen, dann Annie, die Unwiderstehliche, und schließlich ihre
Töchter, hier Julie, stets am Rand der Verzweiflung, da Karin, die gern
Geschichten
erzählt, Männer verführt
und lügt. Julies Hochzeit bildet den Auftakt zu einem Familienporträt,
das mit Witz und Scharfsinn Lebenslügen demontiert und erzählt, was so
alles zwischen Menschen passieren kann, die sich nahestehen. (btb)
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