Christine Lavant: "Das Wechselbälgchen"

Erzählung. Herausgegeben von Klaus Amann.


Viktor Kubczak, ein Verleger, der auf Christine Thonhauser (Lavant) aufmerksam wurde, meinte, dass die Autorin einst für das deutsche Volk das würde, was Dostojewsky für die Russen ist. Möglicherweise befand sich unter den Texten, die Christine Lavant dem Verleger 1946 vorlegte, auch "Das Wechselbälgchen". Innerhalb kürzester Zeit kam es zu drei Veröffentlichungen ("Das Kind", "Die unvollendete Liebe", "Das Krüglein"), weitere Drucklegungen ihrer Werke in diesem Verlag waren geplant. Der von Kubczak geleitete Brentano-Verlag geriet allerdings in wirtschaftliche Schwierigkeiten, sodass Christine Lavant  dem O. Müller-Verlag einige Jahre später "Das Wechselbälgchen" anbot, woraus jedoch keine Veröffentlichung erwuchs. Viele Jahre fristete das Typoskript im Archiv des Otto  Müller-Verlags ein unveröffentlichtes Dasein. 1997, 24 Jahre nach dem Tod der Autorin, wurde es wieder entdeckt, und nur ein Jahr später erfolgte die erstmalige Veröffentlichung in ebenjenem Verlag. Es ist davon auszugehen, dass gut 50 Jahre seit der Entstehung der Erzählung vergangen waren. Nunmehr macht sich der Wallstein-Verlag daran, das Werk von Christine Lavant zu betreuen und beginnt sein verlegerisches Engagement für die österreichische Autorin mit dem "Wechselbälgchen".

"Das Wechselbälgchen" handelt von einem Mädchen, das von Geburt an missgestaltet und, wie sich bald herausstellt, mit geistigen Defiziten ausgestattet ist. Das Schicksal treibt Schabernack mit dem Mädchen, und die auftauchenden Figuren sind allesamt von der Minderwertigkeit des "Bälgchens" überzeugt. Am meisten wohl der Stiefvater, der die Mutter regelmäßig windelweich schlägt und Zitha ignoriert. Was aus dem Text herausströmt, ist eine Welt, die von Aberglauben und unreflektierter Religiosität gekennzeichnet ist. Die Autorin hat sich laut dem Nachwort von Klaus Ammann an Georg Grabers Sagen aus Kärnten orientiert. Märchen- und Sagenmotive dringen gut erkennbar durch den Text und gehen eine Verbindung mit realen Lebenswelten einer Kärntner Dorfgemeinschaft des frühen 20. Jahrhunderts ein. Christine Lavant hatte selbst in gesundheitlicher Hinsicht immer wieder Rückschläge erlitten, und es ist nicht auszuschließen, dass sich persönliche Erfahrungen auch im "Wechselbälgchen" in gewisser Weise widerspiegeln.

Es ist unmöglich, die Geschichte einfach nachzuerzählen, weil sie mehrere Dimensionen abdeckt und zahlreiche Assoziationen hervorruft, durch die der Leser eine eigene Geschichte konzipieren kann. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass die Vernichtung "unwerten Lebens", die von den deutschen und österreichischen Nationalsozialisten initiiert wurde, die Geschichte beeinflusst hat. Doch wie auch immer Interpretationen aussehen, die erzählerische Kraft von Christine Lavant übt einen Sog aus, der in die Abgründe menschlicher Untiefen führt.

(Jürgen Heimlich; 09/2012)


Christine Lavant: "Das Wechselbälgchen. Erzählung"
Herausgegeben von Klaus Amann.
Wallstein Verlag, 2012. 103 Seiten.
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Christine Lavant, geboren 1915 in ärmlichsten Verhältnissen in St. Stefan im Kärntner Lavanttal, litt seit früher Kindheit an schwersten Erkrankungen, die sie lebenslang beeinträchtigten. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie mit Stricken. Sie begann schon in den 1930er-Jahren mit dem Schreiben, ihre ersten Veröffentlichungen erschienen ab Ende der 1940er-Jahre. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt sie 1954 und 1964 den "Georg-Trakl-Preis für Lyrik" und 1970 den "Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur".
Christine Lavant starb 1973.

Weitere Bücher der Autorin:

"Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus"

Ein Klassiker der Österreichischen Nachkriegsliteratur: In Bildern, denen man sich kaum entziehen kann, erzählt Christine Lavant vom Aufenthalt in einer "Irren-Anstalt". Selten zuvor wurde so offen, so schonungslos und so poetisch von den Abgründen der Psyche und dem Alltag der Psychiatrie erzählt, selten zuvor hat sich eine Autorin so radikal dem eigenen Leben genähert. (Haymon)
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"Gedichte"
Herausgegeben von Thomas Bernhard.
Die aus dem Kärntner Lavanttal stammende Autorin ist als Christine Lavant zu einer der großen Dichterinnen deutscher Sprache geworden. Thomas Bernhards Auswahl gilt dem elementaren "Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist". (Bibliothek Suhrkamp)
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"Das Kind" zur Rezension ...

Noch ein Lektüretipp:

Günter Häntzschel, Sven Hanuschek, Ulrike Leuschner: "Zur Präsenz deutschsprachiger Autorinnen. Frauen und Medien"

Der Anteil von Frauen im literarischen Feld der 1950er-Jahre spiegelt ihr öffentliches Auftreten insgesamt wider - in der ernsthaften Literatur liegt er knapp über zehn Prozent. Dennoch gelten Autorinnen wie Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Marieluise Kaschnitz, Nelly Sachs, Hilde Domin, Christine Lavant oder Oda Schaefer als repräsentativ für die deutschsprachige Literatur dieses Zeitraums. Ihr Erfolg unterliegt dabei der Legendenbildung einer fraglosen und raschen Anerkennung. Die Beiträge dieses Bandes, die auch Außenseiterinnen und gescheiterte Karrieren thematisieren, kommen zu anderen Ergebnissen: Frauen werden als Mitarbeiterinnen marginalisiert wie im Falle Inge Müllers, einer in Deutschland gebliebenen Vertreterin der Neuen Sachlichkeit wie Ilse Langner misslingt der Anschluss ebenso wie der Remigrantin Paula Ludwig. So sind die Bedingungen weiblichen Schreibens geeignet, die Mechanismen des Buchmarkts insgesamt transparent zu machen. Ergänzt wird der Band durch Untersuchungen zur weiblichen Sozialisation durch Lektüre und zur Frauenrolle im Film am Beispiel von Liselotte Pulver. (edition text+kritik)
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