Peter Handke: "Der Große Fall"
Der
Erzähler ist nackt
Ein Schauspieler, der morgens von einem Gewitter geweckt wird, flaniert
durch
seine Stadt. Er ist ein Müßiggänger,
der
auf diverse Leute trifft - Läufer,
Obdachlose oder Frauen beispielsweise -, die nicht so recht
kommunikativ auf ihn
reagieren. Die äußere Handlung ist minimal, auch die
sogenannte innere
Handlung erscheint nicht sonderlich spektakulär. Das ist bei
Handke eben öfters
so, also kommt es auf die Art und Weise des Erzählens an. Wir
müssen uns als
Leser wieder einmal sensibilisieren für die subtilen Signale
und Symbolismen.
Wir müssen damit rechnen, dass es einiges zu
übersehen gibt. Handke ist
filigran und verspielt, er ist vernarrt in die Marginalien der Welt.
Und wir
sollen ihm jedesmal glauben, dass durch geduldiges Isolieren jede
Kleinigkeit
Bedeutung gewinnen kann, ja muss. Und so folgen wir dem Meister der
großen
Miniaturen mit wohlmeinender Bereitschaft.
Was wäre denn nun aber, wenn ein Leser oder gar ein Interpret
entdeckte: Der
Erzähler ist - wie weiland der Kaiser in dem parabolischen Märchen
- ziemlich nackt. Es schützt ihn hier bestenfalls ein
auratischer Tanga vor der
letzten Respektlosigkeit. Die hier vorgelegte Prosa birgt ein enormes
Restrisiko, relativ unsentimental missverstanden werden zu wollen.
Womöglich
bedeutet der Titel ja auch, dass der Autor seinen literarischen "Fall"
zelebriert - in des Wortes doppelter Bedeutung. Der schlimmste Fall
führt zum
Niedergang, der Autor demontiert, ja demoliert sich selbst?!
Bereits der erste Satz verrät, dass der Tag mit dem
"Großen Fall"
enden wird. Dies herauszufinden, worum es sich dabei handelt, ist
eigentlich das
ganze Spannungselement, soweit es eine kaum nacherzählbare
Handlung anbetrifft.
Freilich schildert uns Handke wieder einmal die mehr oder weniger
banalen und
abstrusen Befindlichkeiten von Mitmenschen in loser Folge und
lakonischer
Manier. Dabei muss er sich aber quasi selbst zur Ordnung rufen: "Sagen
ist
nicht bloß Sagen, Worte, selbst die unausgesprochenen,
sind nicht bloß
Worte." Man spürt womöglich so etwas wie
eine Magie des
Unausgesprochenen.
Ein alternder Schauspieler bereitet sich mental auf seine Rolle als
Amokläufer
vor, indem er sich völlig harmlos und passiv durch die
Straßen treiben lässt.
Sein Blick ist eher auf den Boden gerichtet, da er in seinem
früheren Beruf
Fliesenleger war. Nun zumindest geht es bei Handke immer um Wahrnehmung
bzw.
Wahrnehmungsnuancen, und freilich kann die Genauigkeit dadurch
gewinnen, dass
man den Horizont limitiert. Aber wie in der modernen Literatur
üblich, wird
weniger das Schöne, sondern eher das Groteske und
Störende wahrgenommen - denn
die Texte, die das
Schöne wahrnehmen, sind ja
bekanntermaßen trivial. Und
diesem Vorwurf möchte sich ein arrivierter Autor nicht
aussetzen. Den
Protagonisten quält durchaus die Frage, ob es ihn vielleicht
doch zum Schönen
drängte, bzw. ob das Unschöne ihn bedrängte.
Bleibt die provozierende These, ob nicht ein Sich-Verlieren ins allzu
Marginale
auch einen Hauch des Trivialen abbekommen könnte?! Aber es
geht darum, dass der
Protagonist kein "Eigentümer" mehr sein möchte, weil
er als solcher
nur noch das "Einzelne ... Nebensächliche ...
Unordentliche,
Schadhafte, Kaputte" sehe. Und er möchte sich
folglich zwingen, den
Blick auf das zu richten, "was einem nicht gehörte"
und "hinauf,
zum Himmel." Allerdings wurde daraus häufig nur ein "Hinaufschielen",
wobei der Blick zum Boden auch gekoppelt schien mit dem
Bedürfnis zu helfen.
Ach ja, das eigentlich Spannende könnte hier auch sein, dass
ein müßiggehender
Schauspieler sein "Ich" spielt, ohne dass er eigentlich spielt. Obwohl
so einer gewohnt ist, Rollenspieler zu sein. Ja freilich,
könnte man auch
wieder gleich einwerfen, spielen wir nicht alle ohnehin
ständig eine Rolle -
und dies allerdings nicht auch immer in des Wortes doppelter Bedeutung.
Vielleicht geschieht auch deswegen hier die Reduktion auf die
Nichtbedeutsamkeit
eines Protagonisten, der im Grunde nichts Substanzielles zum Fortgang
einer
Handlung beiträgt. Und so heißt es im Text: "Mit
seinen Filmen war er
zum Star geworden, ohne daß ihn auf den Straßen,
die sein Element blieben, bis
auf seltene Ausnahmen jemand erkannte." Was ja u.A. die
scheinbar
rhetorische Frage aufwirft, woran man eigentlich jemanden
unverwechselbar
erkennt. Den Schauspieler beschäftigt die Frage, ob er denn
Zuhörer bzw.
Zuschauer habe auf seinem Spaziergang und ob er sich denn vor einem
potenziellen
Beobachter entlarve. Er versucht eben, seiner beruflichen Gepflogenheit
zu
entweichen, nämlich für Andere jemanden darzustellen.
Nun möchte er sich mit
der Reduktion auf sich selbst zufrieden geben.
Dem hier vorgeführten Schauspieler fehlt laut eigener
Feststellung die Liebe.
Die Liebe ist ja eigentlich die intensivste Form der Wahrnehmung. Und
die schönste.
Aber um Schönheit soll es ja hier nicht gehen. Ach und man
könnte auch fragen,
ob jemand freiwillig auf die Liebe verzichten könne. Oder auf
die Wahrnehmung.
Oder ist der Mensch das Wesen, das nicht nicht lieben oder nicht nicht
wahrnehmen kann?! Und dann noch die für Intellektuelle so
gefährliche Frage
nach der Harmonie! Der Protagonist hat das Gefühl, dass er
für Sekunden mit
anderen unterwegs Seienden harmonisiert - was er allerdings gleich
wieder als Täuschung
zu bewerten bereit wäre, wenn dieses Harmonieempfinden eben
nicht doch "bewegend"
gewesen wäre.
Allerdings bleibt er empfindlich gegenüber den
Geräuschen, die seine
Mitmenschen im Übermaß erzeugen. Den Spaziergang
empfindet der Protagonist wie
eine "Expedition", auf der es ihm allerdings
unmöglich
erscheint, den "geraden Weg" zu gehen. Er wollte
wenigstens "mit
Bestimmtheit" gehen und gelangt dabei am Rande der Stadt zu
einer "Schneise
von Niemandsland". Dort wird er absurderweise von zwei
Zivilpolizisten
vertrieben, weil dies eine Gegend sei, die gerne von
Selbstmördern aufgesucht
werde - und zu einem solchen solle er nicht werden. Was der Protagonist
auch
nicht vorhatte, dazu fehlt ihm doch die tragische Fallhöhe,
die existenzielle
Verzweiflung. Die Probleme bleiben zu theoretisch, zu konstruiert, zu
sehr an
seine Filme angelehnt.
Was Handke uns hier vorführt, ist quasi die Angst des
Elfmeters vor dem
Tormann. Freilich könnte ein Fußballspiel ohne den
Ball nicht stattfinden,
dennoch sind es die Spieler, welche den Verlauf des Spiels bestimmen.
Es ist die
Penibilität der Beobachtung und Beschreibung, die uns Leser an
einem Autor
faszinieren kann - aber wenn die Gegenstände der Beobachtung
zu beliebig und
austauschbar werden, dann verliert man als Leser die Lust. Es steht zu
befürchten,
dass der Erzähler hier nackt ist, dass Handke eine kleine
assoziative Studie
vorgelegt hat, die wir als vorläufigen Entwurf zur Kenntnis
nehmen dürfen. Da
möchte man fast albernerweise an ein Akrostichon denken und
aus dem Amok-Läufer
einen Koma-Grübler machen. Denn die Titulierung
"Großer Fall"
erweist sich als erzählerische Finte, als eine Mogelpackung.
Und sollte uns das Grundmuster vom Gang durch eine Stadt an einem Tag
womöglich
noch an den "Ulysses"
von James Joyce erinnern, der statt der hier vorgelegten neun genau die
doppelte
Anzahl von achtzehn Kapiteln aufweist, dann wird dies wohl wilde
Spekulation
bleiben, wiewohl es bei Handke heißt: "Und niemand
durfte wissen, daß
er mit einem Diamanten in der Brust unterwegs war, im Vergleich mit
dem
der
Wie-hieß-er doch? nichts war; daß er zudem in
geheimer Mission war."
Immerhin wird erinnert an einen altgriechischen Schauspieler und
Sänger,
welcher von einer Hundemeute zerrissen worden war.
Das Buch lässt uns ratlos zurück, es endet mit dem
"Großen Fall",
dessen Eigentlichkeit wir nicht erfahren. Jetzt fragt man sich
legitimerweise
nach soundsovielen Stunden Lesezeit: War es die Sache wert?! In einem
längeren
Gespräch
mit Peter Hamm im Jahr 2002 erläutert
Handke, sein Schreiben sei "ein
Zur-Geltung-Bringen des Übersehenen. Und der Versuch, aus dem
Übersehenen die
Zentralorte des Weltgeschehens und der Welt zu machen." In
seiner
"Geschichte des Bleistifts" (1982) hatte er bereits formuliert, ihm
schwebe vor "ein Epos ohne Handlung, ohne Intrige, ohne
Dramatik und
doch erzählend." Und genau das liefert er uns hier.
Und somit dürften
wir als Leser eigentlich nicht enttäuscht sein. Es ist aber
wohl manchmal eine
Überlegung wert, inwieweit es einem Autor tatsächlich
gelingt, dem Leser die
Dringlichkeit seiner Notizen zu verdeutlichen.
(KS; 03/2011)
Peter
Handke: "Der Große Fall"
Suhrkamp, 2011. 279 Seiten.
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