Roberto Bolaño: "Das Dritte Reich"


Die Geburtsstunde eines großen Autors

"Das Dritte Reich" ist ein früher, aus dem Nachlass veröffentlichter Roman von Roberto Bolaño. Das fertige, auf der Schreibmaschine gefertigte Manuskript stammt aus dem Jahr 1989 und zeigt bereits Ansätze und Ideen, die in späteren Romanen des Autors zur Vollendung gebracht wurden. Es ist nicht bekannt, ob Roberto Bolaño im Falle einer Veröffentlichung noch die Chronologie der Tagebucheinträge wie zum Beispiel im späteren Roman "Die wilden Detektive" verändert hätte, oder eben nicht. Nichtsdestotrotz ist "Das Dritte Reich" ein wichtiger und interessanter Roman, der gewichtig von der Geburtsstunde eines großen Autors zeugt.

Udo Bergers Leidenschaft ist das Brettspiel, genauer gesagt, das Spielen von Strategiespielen, oder noch genauer, des Spiels "Das Dritte Reich". Ein Strategiespiel, das die militärischen Bewegungen des Zweiten Weltkriegs den Spielenden überlässt und auch auf internationaler Ebene, zumindest in der fiktiven Welt dieses Romans, gespielt wird.

In Form eines Tagebuchs, eine Romanform, die Roberto Bolaño einige Jahre später in "Die wilden Detektive" zur Vollendung führen sollte, erzählt Udo Berger penibel genau von seinem Urlaub mit seiner Freundin Ingeborg in einem Küstenort in Spanien.

Bereits die Genauigkeit der Tagebucheinträge weist auf den Fanatismus des Protagonisten hin. Udo Berger ist nämlich hauptsächlich von verschiedenen taktischen Möglichkeiten des Spiels angetan, die er für eine besonders wichtige internationale Partie und für eine Fachzeitschrift perfektionieren und in allen Varianten ausprobieren will, aber auch von der Hotelbesitzerin, die offensichtlich seit seiner Jugend in seinem Kopf spukt.

Udo und Ingeborg treffen in einer Disko auf ein junges, äußerst gegensätzliches Paar, das sie für den Rest des Urlaubes mehr oder weniger begleitet. Die aufregende Hanna und der Alkoholiker Charly ziehen Udo und Ingeborg trotz aller Unvereinbarkeiten an, man trinkt gemeinsam, badet gemeinsam; und lernt gemeinsam schließlich "den Verbrannten" kennen, der sich in Folge zu einem der wichtigsten Protagonisten entwickelt. Aus dieser Konstellation sondert sich Udo immer stärker ab, bis er den Großteil seiner Zeit im Zimmer über dem dort aufgelegten Spiel verbringt.

Sobald Roberto Bolaño alle Protagonisten eingeführt hat, beginnt man zu spüren, auf wie vielen Eben hier gleichzeitig Abläufe stattfinden. Meisterhaft, wie nebensächlich verpackt hier die Dramen des Lebens ablaufen, während Udo immer tiefer in seinem Spiel versinkt.

Als Charly dann spurlos im Meer verschwindet, wird der Verbrannte zum Gegenspieler Udos. Auch hier, systematisch, jeden Abend um die gleiche Uhrzeit, neurotisch genau, erscheint der Verbrannte, um Udo ein würdiger Gegner zu sein.

Die verschiedenen Handlungsebenen berühren sich immer wieder, laufen knapp aneinander vorbei, klären auf und lassen doch vieles im Dunklen. Der Mann der Hotelbesitzerin, an einer unbekannten Krankheit in der Einsamkeit seines Zimmers leidend, ist bis knapp vor dem Ende eine unsichtbare, unbekannte Figur, deren Einfluss auf den Roman nicht erkennbar ist, obwohl man tiefgehende Verstrickungen vermutet.

Und so spielt Roberto Bolaño virtuos mit seinen Lesern, während sich die akribischen Tagebuchaufzeichnungen vom grauen, gelangweilten Geplänkel zur spannenden, fast die Grenzen der Übersicht sprengenden aufregenden Lektüre entwickelt.

Nach Charlys Verschwinden bleibt Udo mit vielen offenen Fragen im Hotel zurück, während sich Ingeborg ein paar Tage später zurück nach Deutschland begibt. So kann sich Udo auch effizienter seinen Annäherungsversuchen an die Hotelbesitzerin widmen.

Während der im Grunde nicht unsympathische, wenngleich etwas asoziale Udo daran arbeitet, die Taktik der Deutschen Wehrmacht zu perfektionieren und einen Sieg gegen die Alliierten, mittlerweile vertreten durch den Verbrannten, zu erringen, als hätte es die Geschichte nie gegeben, lösen sich die Trennwände zwischen den Handlungsebenen langsam auf, und Udo merkt, dass hinter dem Verbrannten eine ihm unbekannte Macht steht. Bald ist die Ebene des Bösen nicht mehr klar definierbar, da sich die Spielzüge und die Realität soweit ineinander verzahnen, dass am Ende nicht mehr genau erkennbar wird, ob sich das Böse auf dem Spielbrett oder in Udos Erlebnissen entfaltet.

Und so entsteht ein sich jeglicher Moralisierung entziehender Textfluss, der sich, vom Autor nie einer Bewertung unterzogen, frei nach Georges Bataille zur Schuldigkeit bekennt und im Bösen verharrt und das Wesentliche dadurch in sich selbst, als Literatur per se, findet. Ein Wesenszug, der sich bis zum Ende durch das Werk dieses großen, viel zu früh verstorbenen Autors zieht.

Ein großartiger, früher, wichtiger Roman, in einigen Punkten natürlich noch nicht auf dem Niveau von "Die wilden Detektive" und "2666", aber ein äußerst faszinierender, wenn auch zu Lebzeiten unveröffentlichter Debütroman.

(Roland Freisitzer; 09/2011)


Roberto Bolaño: "Das Dritte Reich"
Übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Carl Hanser Verlag, 2011. 317 Seiten.
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