Ivo Andrić: "Die Brücke über die Drina"

Eine Chronik aus Višegrad


Sprachlich verfeinerte Übersetzung eines zeitlosen Meisterwerkes

"Die Brücke über die Drina" ist ein Buch, das sich, obwohl ein großangelegtes, episches Werk der Fiktion, der Kategorie des Romans im Prinzip weitgehend entzieht. Mit diesem Werk hat Ivo Andrić ein äußerst originelles, vielschichtiges und großartiges geschaffen.

Die narrative Struktur dieses Romans wird nur durch die Brücke selbst zusammengehalten, da die Protagonisten und Protagonistinnen dieses Romans über vierhundert Jahre verteilt auftreten, verschwinden und vergänglich sind, wie die Zeit. Einzig die Brücke bleibt als unbeirrbare Konstante bestehen.

Die Brücke, die ursprünglich das Eindringen des Osmanischen Reichs in Europa ermöglichen hätte sollen, wurde knapp vierhundert Jahre nach ihrer Entstehung 1914 teilweise zerstört, im Versuch, die bestehende politische Struktur in Mitteleuropa zu retten.

"Am Anfang hat Gott die ganze Erde topfeben geschaffen, damit sich die Menschen ohne große Schwierigkeiten von einem Ort zum nächsten bewegen können. Dann aber zerkratzte der Satan in seiner Missgunst die ganze Erdoberfläche, so dass Berge, Schluchten und Täler entstanden. Damit die Menschen sich auch weiterhin auf der Erde fortbewegen können, schenkte ihnen der Herr in seiner Gnade die Brücke, die neben dem Brunnen größte Gabe der Schöpfung an das Menschengeschlecht."

Unbeirrbar, wie ein sich den Weg selbst bahnender Fluss, fließt die Erzählung von Ivo Andrić dahin. Andrić interessieren die Menschen, deren Leben sich rund um so eine Brücke abspielt, deren Leben durch diese besondere Brücke geformt, beeinflusst und geleitet wird.

Symbolisch am Mittelpunkt der Brücke angelegt, ist die terrassenförmige Kapija, die zu Beginn von der jüdischen, moslemischen und christlichen Bevölkerung rund um die Drina als friedlicher Treffpunkt zum Kaffeetrinken genutzt wird. Oder auch als Ort zum Austauschen von Neuigkeiten.

Der fast märchenhafte Tonfall, der sich in den Dienst der Sagen und Mythen der Menschen der Drina stellt, ist, wie auch der sich nie auf eine bestimmte Seite schlagende Erzählduktus, die große Errungenschaft und Kunst Ivo Andrićs. Man folgt dem allwissenden Erzähler gebannt bei seinen Geschichten von unglücklichen Liebespaaren, Geistlichen, Taugenichtsen, eingemauerten Kindern, Helden und Schurken.

Doch die friedliche Geschichte der Brücke wird dem Strom der Geschichte ausgesetzt. Durch den Rückzug der Türken aus Ungarn verliert man gute Einkünfte, was sich auf das Leben rund um die Drina auswirkt, die serbischen Aufstände gegen die Türken haben zur Folge, dass bald Köpfe der ermordeten Christen die Brücke zieren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommen die Mitteleuropäer und bringen die Straßenbeleuchtung, Hotels, die Eisenbahn, Freudenhäuser, Spielkasinos und ihren Geschäftssinn mit. Das Leben verändert sich schnell, Geld wird nun rasant verdient, aber auch rasch verloren. Die Jugend beginnt, die Gegend zu verlassen, um zu studieren.

Mit dieser Entwicklung hält auch ein unausgereifter nationalistischer Gedanke Einzug, der sich mit der serbischen Freiheit auseinandersetzt. Dieser führt letzthin zur Ermordung Franz Ferdinands in Sarajewo und zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Ivo Andrić beschreibt über seine Geschichten rund um die Brücke über die Drina urteilsfrei die Entwicklung der Region. Er zeigt, wie eine friedlich miteinander auskommende multiethnische, multireligiöse Bevölkerung durch die Politik geleitet in verfeindete Gruppen auseinanderbrechen kann. Die einzige Wertung erfolgt gegen Ende des Romans. Es ist eine klare Verurteilung aller Tendenzen des Nationalismus.

So ist "Die Brücke über die Drina" ein wunderbarer, tiefgehender und zeitloser Roman. Katharina Wolf-Grießhaber hat die alte Übersetzung von Ernst E. Jonas behutsam und fein überarbeitet und an die deutsche Sprache unserer Zeit angepasst. Dadurch liest sich dieses großartige Buch noch flüssiger und poetischer als bisher. Ein großer Roman eines wunderbaren und leider viel zu wenig beachteten Schriftstellers, der seinerzeit mehr als verdient den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Sicherlich war dieses Buch auch ausschlaggebend für die Entscheidung der damaligen Jury.

Der Rezensent würde sich ähnlich feine, sprachlich überarbeitete Neuausgaben der anderen Werke Ivo Andrićs wünschen ...

(Roland Freisitzer; 07/2011)


Ivo Andrić: "Die Brücke über die Drina. Eine Chronik aus Višegrad"
Übersetzt von Ernst E. Jonas, überarbeitet von Katharina Wolf-Grießhaber.
Nachwort von Karl-Markus Gauß.
Zsolnay, 2011. 496 Seiten.
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Ivo Andrić wurde am 9. Oktober 1892 in Travnik/Bosnien geboren und starb 1975 in Belgrad. Er studierte Slawistik und Geschichte in Zagreb, Wien, Krakau und Graz. 1924 trat er in den diplomatischen Dienst ein, 1939 war er jugoslawischer Botschafter in Berlin.  Im Jahr 1961 erhielt Andrić den Nobelpreis für Literatur.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Die verschlossene Tür"

Erzählungen.
Der weltweite Ruhm des Nobelpreisträgers Ivo Andrić geht zurück auf die beiden großen Chroniken, die er während des Zweiten Weltkriegs schrieb: "Brücke über die Drina" und "Wesire und Konsuln". Weniger bekannt ist, dass Andrić auch kürzere Prosatexte geschrieben hat, die in seiner Gegenwart, in der Ära der beiden Jugoslawien nach 1918 und nach 1945 spielen. Diese nuancierten, abgründigen und unerbittlichen Erzählungen gehören zum Besten, was Andrić geschrieben und was die Prosa des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Die von Karl-Markus Gauß besorgte Auswahl zeigt Andrić als meisterhaften Diagnostiker des modernen Lebens. (Zsolnay)
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Noch ein Buchtipp:

Zoran Živković: "Der unmögliche Roman"

Zoran Živković erzählt Geschichten, die die Grenzen des Möglichen ausloten: So erhalten Figuren mysteriösen Besuch und das Angebot, eine Reise in die Zukunft zu unternehmen. Andere können vergangene Entscheidungen rückgängig machen und ihrem Leben damit einen alternativen Verlauf geben. Gelegentlich klingelt es auch beim Autor höchstpersönlich an der Tür, und eine seiner Figuren bittet um Einlass ...
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