Jean-Philippe Toussaint: "Die Wahrheit über Marie"
Begehren, Sehnen, ein Kriminalfall und die Liebe
In einer schwülen, drückend heißen Nacht in
Paris erlebt Marie ihr Golgatha:
Der Mann, mit dem sie gerade noch in leidenschaftlicher Liebe vereint
war, bricht zusammen und muss unter Aufbietung höchster
Alarmbereitschaft ins
Krankenhaus. Der Erzähler dieser Geschichte, ihr ehemaliger
Liebhaber, wohnt nur einiger Straßen entfernt von ihr und
kommt ihr zu Hilfe. Er verlässt fluchtartig seine Wohnung, in der er eine Frau
zurücklässt, die zufällig auch
Marie heißt. Heiße Nächte haben beide
Paare hinter sich.
Übergangslos berichtet der Erzähler
rückblickend dann von einem reichen französischen
Pferdebesitzer, der sein bestes Rennpferd zu einem bekannten
Pferderennen nach Japan begleitet hatte. Das Pferd Zahir wurde krank,
hatte einen entzündeten Zahn, und Jean-Christophe de G. zieht sich
fluchtartig mit ihm nach Europa zurück.
Bei der ausführlich beschriebenen Flucht wird der gesamte
Flugverkehr des Tokioter Flughafens vorübergehend lahmgelegt,
weil das Pferd scheut und störrisch immer wieder entfliehen kann. War das
Pferd gedopt?
Man ahnt es bereits: Jean-Christophe ist jener Liebhaber Maries, der
kürzlich in Paris zu Tode gekommen ist!
Die beiden hatten sich in Tokio kennengelernt, und Marie hat an seiner
abenteuerlichen Flucht nach Europa teilgenommen.
In einem letzten Kapitel berichtet der Erzähler noch eine
andere Geschichte von Marie: Sie lebt jetzt in ihrem Haus auf Elba, wo
sie sich zuletzt mit dem Erzähler, ihrem langjährigen Liebhaber, wieder
vereint.
Jean-Philippe Toussaint hat eine geheimnisvolle Geschichte um
Jean-Christophe de
G. aufbereitet.
Der
Erzähler versucht die Wahrheit über den
Liebhaber von Marie herauszufinden. Ihn kennt er nicht, aber "er
wusste die Wahrheit über Marie". In anhaltender Spannung wartet
man, ob es vielleicht
noch weitere wissenswerte Aufklärung um Jean-Christophes
Verhalten gibt. Er ist umschattet von Geheimnis und dunklen Geschäften.
Der Erzähler denkt an Marie, malt sich ihre Begegnungen mit
Jean-Christophe aus, beobachtet sie und
bewahrt eine schmerzlich-sehnsüchtige Haltung ihr
gegenüber.
Wunderschöne poetische und sinnenfreudige Bilder vom
rauschenden Meer und von der farbenfrohen Natur, auch von den
Düften der Luft und der
Fauna werden mit vielseitiger Ausdruckskraft beschworen. Szenen
gewaltiger Liebesgier
sind von schwülen und dunklen Gewitterwolken umrahmt.
Geheimnisvoll bleibt die eigentliche Liebesgeschichte, die mit zarten Worten das
drängende Verlangen nach Erfüllung andeutet.
Wie es im Klappentext heißt: "Toussaint
erzählt von einer Liebe, die
nie zu einem Ende finden kann. Vielleicht ist das die Definition
wirklicher Liebe."
(Claudine Borries; 09/2010)
Jean-Philippe
Toussaint: "Die Wahrheit über Marie"
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Gebundene Ausgabe:
Frankfurter Verlagsanstalt, 2010. 240 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2012.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Die Dringlichkeit und die Geduld"
"Für die Recherchen zu seinem Roman 'Die Wahrheit
über Marie' stieg er sogar zum ersten Mal in seinem Leben auf
ein Pferd; für den gleichfalls in dem Buch beschriebenen
Herzinfarkt wollte er es dann doch nicht so weit treiben, es auf einen
Selbstversuch ankommen zu lassen", schreibt Bernard Pivot,
Frankreichs "Literaturpapst", in seiner begeisterten Kritik
über dieses Buch Jean-Philippe Toussaints, das im
März 2012 anlässlich seiner aktuellen Ausstellung im
Pariser Louvre "Toussaint: La Main et le Regard - Livre/Louvre"
erschien: luzide Aufsätze über Literatur,
Lesen und
das eigene Schreiben, eine charmante Hommage an die Literatur,
brillante Texte, anekdotisch-unterhaltsame Miniaturen, die mit
großer intimer Kenntnis und Wissen über
große Literatur sprechen. Wie beiläufig,
unterhaltsam und doch so ungeheuer scharfsinnig führt
Toussaint den Leser in sein literarisches Universum, erzählt
von seinen Lektüren, von seinen ersten Schritten als junger
Autor, von den berühmtesten der berühmten Autoren der
Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts und blickt
humorvoll-analytisch hinter die Kulissen der Weltliteratur. Die
literarischen Begegnungen mit
Proust,
Kafka
und
Dostojewski
und die Erweckungserlebnisse, die diese Lektüren zur Folge
hatten, runden das Bild ab. Und dann natürlich die
folgenschwerste Begegnung, die Begegnung mit dem
Werk
Becketts, dem er dann eines Tages in einem dunklen Flur
persönlich gegenübersteht. (Frankfurter
Verlagsanstalt)
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"Nackt"
Ein Kleid aus Honig bildet den Höhepunkt der Herbstkollektion, die Marie in
Tokio präsentiert. Nackt, nur mit glänzender Süße überzogen, schreitet das
Mannequin über den Laufsteg, gefolgt von einem lebenden Bienenschwarm. Ein
erhabener und doch fragiler Moment, der erst Perfektion erlangt, als die
minutiöse Planung dramatisch scheitert ...
Mit dieser umwerfenden Szene beginnt der Roman von Jean-Philippe Toussaint um
die Modeschöpferin Marie Madeleine Marguerite de Montalte.
Am Ende des gemeinsamen Sommers wartet der Erzähler vergeblich am Fenster seiner
Pariser Wohnung auf ihren Anruf. Seine Erinnerung führt in zurück zu der Nacht
in Tokio, als er Marie durch ein Fenster auf dem Dach eines Museums beobachtete
und ihr in Gedanken sagte, was er nicht laut auszusprechen wagt - dass er sie
liebt, auch später nicht, vielleicht aus Angst, sein Bild von ihr, diese
zerbrechliche Schichtung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, könnte
unwiederbringlich zerfallen. Als sie ihn schließlich doch anruft, im
herbstlichen Paris zwei Monate später, um ihn nach Elba einzuladen, wirkt Marie
gegenwärtiger, wirklicher als je zuvor. Bei ihrer Ankunft liegt über der Insel
nach einem Feuer in einer Schokoladenfabrik ein kakaogeschwängerter Schleier,
den der Regen allmählich aus der Luft wäscht. Und noch etwas stimmt nicht:
Jemand ist in Maries Schlafzimmer eingedrungen. Dort, im Dunkeln des verlassenen
Hauses, endet das stetige Umkreisen der Liebenden in einer entblößten
Empfindung, die zugleich jeder Entzauberung entgeht ... (Frankfurter
Verlagsanstalt) zur Rezension ...
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"Fliehen"
Marie und der namenlose Erzähler haben in Toussaints vorigem
Roman "Sich lieben" versucht, sich zu trennen. Nun sucht er sein Heil
in der Fremde und reist
nach
Shanghai, wo er sich in amouröse Verwicklungen
verstrickt - kann er vor seiner Liebe, vor Marie fliehen? Ein einziger
Anruf wird alles ändern ... (btb)
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Leseprobe:
Erst später, als ich an die dunklen Stunden dieser
glutheißen Nacht zurückdachte,
wurde mir bewusst, dass wir beide, Marie und ich, damals im gleichen
Augenblick Liebe gemacht hatten, nur nicht miteinander. Zu einer
bestimmten Zeit
derselben Nacht - die erste Hitzewelle des Jahres war brutal
über die
Stadt hereingebrochen, drei Tage hintereinander herrschten in Paris
Temperaturen von bis zu 38 Grad Celcius und nie unter 30 Grad -,
machten Marie und ich
Liebe, in Appartments, die kaum einen Kilometer Luftlinie voneinander
entfernt
lagen. Zu Beginn des Abends hätte es sich sicherlich keiner
von uns
beiden vorstellen können, auch nicht später, zu
keinem Moment, es war
ganz einfach unvorstellbar, dass wir in dieser Nacht aufeinandertreffen
würden, dass wir noch vor dem Morgengrauen zusammen sein, wir
uns sogar in dem dunklen
erschütternden Flur unserer Wohnung kurz umarmen
würden. Aller
Wahrscheinlichkeit nach, angesichts der Uhrzeit, zu der Marie in die
Wohnung
zurückgekehrt ist, (in unsere Wohnung oder vielmehr in ihre
Wohnung, man müsste jetzt
sagen in ihre Wohnung, weil wir seit jetzt fast vier Monaten nicht mehr
zusammen
wohnten), und angesichts der fast identischen Uhrzeit, zu der ich in
meine kleine
Zweizimmerwohnung zurückgekehrt bin, in die ich nach unserer
Trennung gezogen bin, nicht allein, ich war nicht allein - mit wem ich
zusammen war,
spielt keine Rolle, darum geht es hier nicht - , kann man darauf
schließen, dass es etwa zwanzig nach Eins gewesen sein muss,
spätestens aber halb
Zwei Uhr morgens, als Marie und ich in dieser Nacht
in
Paris Liebe machten, beide leicht betrunken, mit
heißen Körpern im Halbdunkel bei weit
geöffneten Fenstern, durch die doch kein Lüftchen ins
Zimmer wehte. Die Luft war
stickig und drückend
schwül, es herrschte eine fast fiebrige Temperatur, die keine
Erfrischung mehr bot, die Hitze lag selbstherrlich und schwer auf
unseren willenlosen
Körpern. Es war etwa zwei Uhr (Fehler JPT) morgens - ich
weiß es, denn
ich habe auf die
Uhr gesehen, als das Telefon geklingelt hat. Aber ich will lieber
vorsichtig sein, was die Chronologie der Ereignisse jener Nacht
betrifft, denn
immerhin geht es um das Schicksal eines Mannes, um seinen Tod, lange
hatte man
nicht gewusst, ob er überleben würde oder nicht.
Ich selbst habe seinen Namen niemals richtig gekannt, ein Namen mit
Bindestrich: Jean-Christophe de G.. Sie waren nach einem gemeinsamen
Abendessen
gemeinsam in Maries Appartement in der rue de La Vrillière
gegangen, es
war die erste Nacht,
die die beiden zusammen in Paris verbrachten, sie hatten sich im Januar
in Tokio auf der Vernissage von Maries Ausstellung im Contemporary Art
Space von Shinagawa kennengelernt.
Es war kurz nach Mitternacht, als sie das Appartement in der rue de La
Vrillière erreichten. Marie holte eine Flasche Grappa aus
der Küche, und
sie setzten sich mit lässig ausgestreckten Beinen ins
Schlafzimmer aufs Parkett
am Fußende des Bettes, mitten in ein Durcheinander aus
Polstern und Kissen. Es
herrschte eine schwerblütige, stockende Hitze in der Wohnung
der rue de La
Vrillière, die Fensterläden waren am Vorabend
geschlossen worden, damit die
Hitze des Tages nicht eindringen konnte. Marie öffnete das
Fenster weit und
schenkte im Halbdunkel sitzend den Grappa ein, sie beobachtete, wie die
Flüssigkeit durch die versilberte Dosierungsvorrichtung der
Flasche
langsam in die Gläser floss, und spürte sofort, wie
das Aroma des Grappas ihr zu Kopfe
stieg, sie nahm in Gedanken den Geschmack vorweg, bevor die Zunge ihn
erkundet hatte,
diesen parfümierten, fast likörartigen
Grappageschmack, eine Erinnerung, die sie
seit so vielen Sommern in sich trug und die sie mit Elba in Verbindung
bringen musste,
eine Erinnerung, die unvermittelt und unerwartet in ihr Bewusstsein
stieg.
Sie schloss die Augen und nahm einen Schluck, beugte sich
hinüber
zu Jean-Christophe de G. und küsste ihn mit feuchtwarmen
Lippen,
mit einer plötzlichen
Empfindung von Frische und Grappa auf der Zunge. (...)