Amin Maalouf: "Die Auflösung der Weltordnungen"
Essay
Hat die Menschheit die
Schwelle zur moralischen Inkompetenz bereits überschritten?
"Jede Geschichtstheorie ist ein Kind ihrer Zeit; um die Gegenwart zu
verstehen, ist sie lehrreich; auf die Vergangenheit angewendet,
erweist sie sich als vage und befangen; in die Zukunft projiziert,
wird sie gewagt und zuweilen zerstörerisch." (Seiten 214f.)
Die zentrale These des ausführlichen Essays ist gleichzeitig das
Resümee: Die Unordnung und Regellosigkeit der Welt hat weniger Einfluss
auf den "Kampf der Kulturen" als die gleichzeitige Erosion all dessen,
was die moralische Würde unserer Zivilisation ausmacht. Der Ära der
ideologischen Spaltungen, die zu einem trügerischen Sieg des Westens
führte, folgt ein Zeitalter des Konkurrenzkampfs der Identitäten. Dabei
werden Zugehörigkeiten über die Maßen betont und Leitlinien persönlicher
Schicksale.
Das Problem multipler Identitäten und die damit verbundenen Chancen der
Mehrsprachigkeit und Offenheit gegenüber mehr als einer Kultur ist das
persönliche Spezialgebiet des Autors: Amin Maalouf, Jahrgang 1949,
gebürtiger Libanese mit Wohnsitz in Frankreich, stammt aus einer
melkitischen (d.h. griechisch-katholischen) Familie, ist protestantisch
getauft und römisch-katholisch erzogen. Aus eigener Anschauung und als
preisgekrönter Autor zahlreicher historischer Romane weiß er um die
Bedeutung von Identität, v.a. der Gewichtung einzelner Aspekte der
Identität wie Sprache, Religion, Herkunft. Nur wo gelernt wird, mit
Verschiedenheit umzugehen, haben Menschheit und Menschlichkeit eine
Chance auf Zukunft.
Die Bezüge
zwischen
Islam und dem Okzident ziehen sich nicht nur durch die Geschichte
von Amin Maaloufs Heimatland, sie sind auch stete Beispielsquelle für
die Argumentation des Essays. Der Diskurs in beiden Gesellschaften hat
zwar theoretisch einen gemeinsamen Ursprung, aber in der Realität verrät
jede der beiden Weltkulturen seine eigenen Ideale. Der Westen gab und
gibt vor, dem Rest der Welt die Demokratie zu bringen, unterstützt aber
z.B. im Nahen Osten mitunter auch undemokratische Regimes im Kampf gegen
demokratische Reformen. Die Werte stehen stets im Dienste der
Machtpolitik. Die islamische Welt hingegen orientiert sich nach den
Niederlagen der Neuzeit an Idealvorstellungen eines "Goldenen
Zeitalters" im ersten Jahrtausend nach der Religionsgründung, ohne
willens zu sein, für die Zukunft die dafür nötigen Voraussetzungen
zuzulassen. So findet sie keinen Zugang zur Notwendigkeit universeller
Werte. Diese moralische Inkompetenz zeigt sich auch im Unwillen, gegen
globale Probleme wie die Erderwärmung oder die Wirtschaftskrise
vorzugehen.
Um die Menschheit steht es also schlecht. Amin Maalouf ist freilich
nicht der Erste, der darüber schreibt; eingangs gibt er auch zu, sich
damit in eine lange Reihe von bedeutenden und auch unbedeutenden Autoren
einzuschreiben. Die Lektüre der ersten Seiten, einer einleitenden
Anreihung von wohlbekannten Fakten und Überlegungen, lässt noch erneutes
unproduktives Wiederkäuen befürchten. Doch der Essayist Maalouf begnügt
sich nicht mit einer - stilistisch zweifellos gewinnenden - Plauderei
über Gemeinplätze. Kraftvolle Empathie, aufrichtiger Altruismus und eine
klare Vision fesseln den Leser zunehmend bei der Analyse einer Welt am
Rande oder schon nach Überschreiten der Schwelle zur immer wieder
nachweisbaren moralischen Inkompetenz.
Die sprachgewandte Demonstration von abhanden gekommener Legitimität -
einem weiteren Schlüsselbegriff - führt zu
Kemal Atatürk und Gamal Abdel Nasser, dem ägyptischen Präsidenten,
der sich besonders in der Suezkrise 1956 dem Okzident widersetzte und
versuchte, die arabischen Völker zu vereinen. Nicht nur historisches
Wissen, auch die packende Erzählkunst machen aus den politischen
Biografien nachvollziehbare und überzeugende Analysen. So erfährt man
auch von den Mandäern, einer kleinen Religionsgemeinschaft im Süden des
Irak, deren physische und kulturelle Existenz in ihrer abgestammten
Heimat nach fast zweitausend Jahren durch die politische Gewalt nach dem
us-amerikanischen Einmarsch aufs Ärgste bedroht ist. Der Autor, dessen
überzeugendste Passagen seine tiefe Kenntnis und Verbundenheit mit dem
Westen wie auch mit der arabischen Kultur beweisen, versucht, gemeinsame
Wege zu einer harmonischen Koexistenz zu bahnen. Nach seiner Meinung und
auch nach seinem persönlichen Beispiel sind Kultur und Aufklärung Träger
einer neuen Politik zur Vermeidung jener Kirchturmpolitik, die die Welt
global bedroht.
Trotz aller sprachlicher und inhaltlicher Brillanz wiederholt sich der
Autor bisweilen leider in seinen Argumenten und Schlüssen. Der Verdacht
liegt nahe, dass das Buch nicht in einem Guss entstand, sondern aus
früheren Artikeln oder anderen Einzeltexten zusammengesetzt ist. Anders
als bei seinem ersten Essay, "Mörderische Identitäten" (2000), kommt er
diesmal schwerer auf den Punkt, bleibt in Lösungen vage und teilweise
von der Aktualität des Jahres 2009 bestimmt: Das französische Original
erschien bereits Anfang 2009 und ist im Epilog von der Hoffnung auf eine
neue Mobilisierung der USA unter Barack Obama inspiriert - eine
Erwartung, die sich rückblickend als vorschnell erwies.
Auch das starsinnige Festhalten an der alten Rechtschreibung lässt das
Buch schon alt aussehen.
(Wolfgang Moser; 08/2010)
Amin
Maalouf: "Die Auflösung der Weltordnungen. Essay"
Deutsch von Andrea Spingler.
Suhrkamp, 2010. 248 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Weitere Buchtipps:
Dirk Ansorge (Hrsg.): "Der Nahostkonflikt. Politische, religiöse und
theologische Dimensionen"
Spätestens seit dem 11. September 2001 wird die Bedeutung von Religionen
für politische Konflikte wieder verstärkt wahrgenommen. Zugleich setzt
sich die Einsicht durch, dass Friedenspolitik und praktische
Friedensarbeit ohne die Einbeziehung der religiösen Dimensionen von
Konflikten nicht gelingen können. Damit steht die Forschung vor der
Frage, welchen Beitrag Religionen zur Eskalation wie zur De-Eskalation
von Konflikten liefern können. Im Nahen Osten tritt die Ambivalenz der
Religionen besonders zutage: Einmal eröffnen sie Perspektiven des
Friedenshandelns, dann wieder verschärfen sie schwelende Konflikte. Das
komplexe Zusammenspiel von gesellschaftlichen, politischen und
religiösen Dimensionen im
Nahostkonflikt wird erst in der Zusammenschau von soziologischer,
politologischer, religionswissenschaftlicher und theologischer
Perspektive durchschaubar. (W. Kohlhammer)
Buch bei amazon.de bestellen
Dieter Vieweger: "Streit
um das Heilige Land. Was jeder vom israelisch-palästinensischen
Konflikt wissen sollte"
Der Konflikt in Israel/Palästina ist nur ein Höhepunkt in der langen
Geschichte der Auseinandersetzungen im Nahen Osten. In ihm verflechten
sich jahrhundertealte politische Interessen, mangelndes Verständnis
zwischen Orient
und Okzident sowie unterschiedliche soziale und ökonomische
Lebensgrundlagen. Dazu spielen vorgeschobene wie tatsächliche Interessen
dreier Weltreligionen eine große Rolle.
Dieter Vieweger hat dieses Buch für Menschen geschrieben, die von Europa
aus den Konfliktherd betrachten: Die Vorgänge in Nahost sollen
nachvollziehbar werden, die Vielschichtigkeit der historischen und
gegenwärtigen Interessenlage in ihrer Komplexität fassbar. Denn den
Rufen nach schnellen und radikalen Lösungen, von welcher Seite auch
immer, kann nur mit nüchterner Aufklärung begegnet werden. (Gütersloher
Verlagshaus)
Buch bei amazon.de bestellen
Angelika
Neuwirth: "Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang"
Ist der Koran eine Botschaft an die Heiden der arabischen Halbinsel, die
innerhalb von nur 22 Jahren zur Gründung einer neuen Religion geführt
hat? Ist er die schon kurz nach dem Tod ihres Verkünders kanonisierte
heilige Schrift, die uns dennoch authentisch erhalten ist? Angesichts
des beispiellosen Erfolgs des Koran ist es kein Wunder, dass diese
Darstellung immer wieder in Frage gestellt und Hypothesen formuliert
werden, die die frühislamische Geschichte umschreiben und den Koran in
einer anderen Region, zu einer anderen Zeit und sogar ohne die
Mitwirkung Muhammads
entstehen lassen. Alle bisherigen Rekonstruktionen sind aber miteinander
unvereinbar und ergeben kein plausibles Bild der Ereignisse, sondern
werfen nur zahllose neue Probleme auf.
Die Frage muss anders lauten: Ist der Koran wirklich ein rein
islamischer und damit uns fremder Text? Oder ist er nicht eher eine neue
und eigenwillige Stimme in jenem Konzert spätantiker Debatten, mit denen
auch die theologischen Grundlagen der jüdischen und christlichen
Religion gelegt worden sind? Nicht den Koran müssen wir aufgrund neuer
Handschriftenfunde oder mit Hilfe linguistischer Experimente
ummodellieren - unsere Perspektive auf den Koran müssen wir entscheidend
ändern, wenn wir seine revolutionäre Neuheit in den Blick bekommen
wollen. Angelika Neuwirth, Leiterin des Projekts "Corpus Coranicum -
Textdokumentation und historisch-kritischer Kommentar zum Koran" an
der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, liest den
Koran als Text der Spätantike, einer Epoche, die auch für die
europäische Kulturgeschichte formativ war. Der Koran wird so als ein
vertrauter Text erkennbar, den wir unbeschadet zum "europäischen Erbe"
rechnen könnten, trennten ihn nicht uralte Vorurteile von einer
unvoreingenommenen Wahrnehmung. (Verlag der Weltreligionen im Insel
Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen
Jan
Assmann: "Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische
Aufklärung"
Im 17. Jahrhundert schlägt die Geburtsstunde der Religionswissenschaft.
Sie entsteht aus der Frage nach der Herkunft der Götter, des
Polytheismus, der "Idolatrie". Der Monotheismus, darin war man sich
einig, bildete die Urreligion: Das war nicht die Religion der
Offenbarung, sondern die Religion der Natur und der Vernunft, die allen
Menschen gemeinsam und auch in allen heidnischen Religionen aufspürbar
ist. Die Vielgötterei entstand erst mit den Staaten; denn
Herrschaft braucht die Götter, um dem Volk politische und moralische
Orientierung zu geben. Unter diesen Bedingungen zog sich die Urreligion
in den Untergrund zurück: So entstanden die Mysterien.
Grundmodell dieser Entwicklung ist das
Alte
Ägypten, der erste Staat der Geschichte, in dem sich diese
religiöse Doppelstruktur besonders klar ausprägte. Die Ägypter hatten
zwei Schriften, so las man es bei den Griechen: eine fürs Volk, eine für
die Mysterien, und sie bauten über der Erde für die offizielle und unter
der Erde für die geheime Religion, nämlich den Kult der verschleierten
Isis, in der man Spinozas Deus sive Natura erkannte: oben also die
vielen Götter, unten der Gott der Philosophen. In dieses Bild blickten
die Geheimgesellschaften wie in einen Spiegel.
Ende des 18. Jahrhunderts hoben Lessing,
Mendelssohn und Andere diese Idee der doppelten Religion auf eine neue
Ebene. An die Stelle der Mysterien trat bei ihnen die Idee einer
"Menschheitsreligion" und an die Stelle der Kultur, die zwei Religionen
hat, der Mensch, der sich einerseits seiner angestammten Kultur, Nation
und Religion und andererseits einer menschheitlichen Verbundenheit
zugehörig weiß. Keine Religion besitzt die Wahrheit, allen aber ist sie
als Ziel aufgegeben. In dieser Form gewinnt die Idee der doppelten
Religion im Zeitalter der Globalisierung
eine ungeahnte Aktualität. (Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen