Michael Dangl: "Rampenflucht"
Ein Nachspiel
Eine Hassliebe
"Meine Damen und Herren, es tut mir leid, dass wir Sie langweilen ...
es tut mir leid, dass wir ... dass Sie Ihr dummes Abonnement gerade
heute zwingt, hier zu sitzen ... Ich wollte eine Bühne immer nur
betreten ... um (Pause, gehaltener Atem des Publikums) ... aber so
geht es nicht ... darum werde ich jetzt gehen ... auf Wiedersehen."
Mit diesen Worten, während einer unruhigen Vorstellung an das
überraschte Publikum gerichtet, tritt Stefan Kowalsky von der Bühne. Er
fährt heim, löst seine Versicherungsverträge, seinen Mietvertrag, seinen
Mobiltelefonvertrag und die Mitgliedschaft im Fitnessclub auf.
Er zieht sich in sich zurück und schreibt, quasi als vorläufig letzte
theaterbezogene Handlung, einen in Auftrag gegebenen Text über das
Theater. Einen Text, der Ausdruck seiner persönlichen Hassliebe zum
Theater ist.
Davon ausgehend, entwickelt Michael Dangl einen herrlich bissigen,
schimpfend parlierenden Monolog, einen Gedankenstrom, dem man gerne bis
in die Eingeweide des Theaters, des Theaterlebens folgt.
"Stadtrandlokal, früher Nachmittag, Kowalsky hat auf einmal viel
Zeit. Die letzten zwei Monate war er immer schon mindestens zwei
Stunden vor Probenbeginn im Theater gewesen, weil er sich für den
Othello schwarz schminken wollte. Er hätte dazu einen Maskenbildner
haben können, verzichtete aber auf dessen verständnisloses
unausgeschlafenes Gesicht und blieb lieber allein. Die extremen Masken
hatte sich Kowalsky immer selbst verpasst ... Einmal, er hatte sich
zweieinhalb Morgenstunden besonders sorgfältig geschminkt, saß er um
zehn allein da. Er hatte das Telefon nicht gehört und so nicht
erfahren, dass die Probe schon seit acht abgesagt war, weil der
Regisseur krank im Bett lag. Kowalsky saß allein auf der leeren kalten
Probebühne, angezogen und angemalt und muskelbepackt als Mohr von
Venedig, aß langsam eine Banane, sah sich beim Kauen im Spiegel zu,
warf die Schale weg und schminkte sich wieder ab. Seltsames Geschäft,
dachte er."
Michael Dangls Stefan Kowalsky ist ein leidenschaftlich dem Theater
verfallener Künstler, der aus Enttäuschung über das Rundherum, das
Publikum, die Mitschauspieler und die Regisseure das Theater verlässt.
Sein Drang nach Perfektion sowie seine akribische Vorbereitung scheinen
im Geschäft unerwünscht, ja altmodisch zu sein.
Michael Dangls Prosadebüt lebt vom Wechsel zwischen dem Sein von Stefan
Kowalsky und dem von Stefan Kowalsky verfassten Text, der sich fast wie
ein Roman im Roman liest und mindestens gefühlte zwei Drittel des
"Nachspiels" ausmacht.
Wütend kreisend, variierend und immer wieder abschweifend, bewegt sich
Stefan Kowalskys Text vorwärts, berührt die wunden und die heilen
Punkte, öffnet dem unwissenden Leser Türen und bestätigt die Wissenden.
"Ich bin nicht eitel", sagt der Schauspieler, "ich kann mein mir
zufällig unterkommendes Spiegelbild gar nicht ertragen!" - Ja, aber
nicht aus Uneitelkeit, sondern weil es seinem eigenen Bild, das er von
sich selbst gemacht hat, und das er, es produzieren wollend,
ununterbrochen mit sich herumträgt, nicht gleichkommen kann. Der
Schauspieler blickt in einen beiläufig ihm begegnenden Spiegel
skeptisch und doch irgendwie hoffnungsvoll, und angewidert schnell
wieder weg, Letzteres zu Recht. Doch sein eigenes Bild hat er sich
wiederum nicht aus Eitelkeit gemacht, sondern aus einem Gefühl der
Leere, der Gesichtslosigkeit. Tatsächlich hat der Schauspieler, der
jüngere vor allem, lange Phasen zwischen seinen Rollen, kein Gesicht.
Weil er nicht weiß, wie er aussehen soll, sieht er nicht aus. Der
ältere hat schon so viele Rollenabdrücke auf seinem Gesicht, dass sie
irgendwann selbst wie ein Gesicht aussehen, aber bei näherem Hinsehen
sieht man: Es ist gar kein Gesicht, nur viele, viele Momentaufnahmen
zusammengenommen, Zehntausende Belichtungen auf einem von
Zehntausenden Blitzen wie erschrockenen, zu einem Scheingesicht
geronnenen, verhärteten Stück Schädelvorhang ..."
Während Stefan Kowalsky auf eine Lesereise geht, schreibt er in
Hotelzimmern weiter an seinem Text, der, immer dichter werdend, das
Theater wie eine Zitrone ausquetscht, bis der Protagonist am Ende in
Venedig doch noch das Glück seiner Lebensrolle, seines Lebens
entdeckt bzw. wiederentdeckt.
Ein beeindruckend sicheres und überzeugendes Debüt, ein starker und
eindringlicher Text.
(Roland Freisitzer; 09/2010)
Michael Dangl: "Rampenflucht. Ein
Nachspiel"
Braumüller Literaturverlag, 2010. 142 Seiten.
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Michael Dangl, geboren 1968
in Salzburg, arbeitet seit vielen Jahren als Schauspieler u.A. in
Hamburg, Köln, München, Salzburg und seit 1998 im Ensemble des Wiener
Theaters in der Josefstadt. Seine Rollen umfassen "Don
Carlos" wie "Figaro", "Mozart" wie "Tellheim". "Europäischer
Kulturpreis" für die Aufführung von "Besuch bei Mr. Green" mit Fritz
Muliar. Kino, Fernsehen, Radio, Lesungen. Die Figur des Stefan Kowalsky
in Gabriel Baryllis "Butterbrot" spielte er (1992 in Koblenz und 2009 in
Wien) rund 150-mal. Mit Christa und Agilo Dangl (bei deren Theatergruppe
"Karawane" er aufwuchs) schrieb er die Komödie "Denn das Glück ist immer
da".
Lien: zu
einem Interview mit dem Autor
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