Jorge Luis Borges: "Ein ewiger Traum"
Essays
Literarisches und
Historisches
Der als Ergänzungsband zur Hanser-Werkausgabe gedachte Band "Ein ewiger
Traum" umfasst insgesamt 41 bislang weitgehend unbekannte und teilweise
hier erstmals auf Deutsch erscheinende Essays des großen argentinischen
Literaten Jorge Luis Borges. Von 1922 an - der 1899 geborene Borges war
in seinen frühen Zwanzigern - bis in das Jahr 1985 hinein, ein Jahr vor
seinem Tod, erstreckt sich die Zeitspanne, in welcher diese Aufsätze
entstanden sind. Die Essays erscheinen im vorliegenden Band in
chronologischer Reihenfolge mit Ausnahme eines autobiografischen Essays,
der 1970 entstanden ist und in diesem Buch den Schlusspunkt markiert. Es
ist auch der mit Abstand umfangreichste Text dieses Bandes, die
persönliche Bilanz, die Borges hier zieht, packt er auf immerhin 58
Seiten, wohingegen er ansonsten meist die verknappte Form des Essays
gewählt und mit Inhalt zu füllen gewusst hat. Und gerade in der Kürze
vieler Aufsätze liegt dann auch häufig deren Kraft gebündelt. Der Leser
jedenfalls erhält mit dem Erwerb dieses Buches eine überzeugende
Sammlung von Aufsätzen, die die geistige Grandezza ihres Autors immer
wieder fühlbar werden lassen, Borges' Autorität auf dem Gebiet der
Literatur aber auch auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaften spricht
aus den Zeilen des Buches von der ersten bis zur letzten Seite. Seine
sprachliche Meisterschaft fühlte sich wohl auch dem Alter gegenüber
nicht tributpflichtig, ebenso wenig wie die Schärfe seines Verstandes,
das können die in seiner letzten Lebensphase erschienenen Essays
eindrucksvoll belegen.
Der Buchtitel "Ein ewiger Traum" - gleichzeitig Titel eines 1983
entstandenen Essays - spielt an auf das Werk Franz
Kafkas. "In jedem Fall ist Kafka, dieser Träumer, der nicht
wollte, dass seine Träume bekannt würden, heute Teil des universalen
Traums, der das Gedächtnis ist." Immer wieder taucht der Name
Kafka in diesen Aufsätzen auf, beinahe ebenso oft wird Joyce
erwähnt, doch welchen der beiden Autoren Borges ganz oben auf dem
Dichterolymp ansiedelt, darüber lässt er keinen Zweifel aufkommen: "Kafka
war einer der großen Autoren aller Literatur. Für mich ist er der
Erste in diesem Jahrhundert. Ich habe an den Hundertjahrfeiern für
Joyce teilgenommen, und als jemand ihn mit Kafka verglich, habe ich
gesagt, dies sei Blasphemie." Auch andere Schriftsteller-Kollegen
finden mehr oder weniger rühmliche Erwähnung: Kipling, Ernst
Jünger, Franz Werfel, Tagore,
Chesterton, Taliesin, der walisische Dichter aus dem 6. Jahrhundert, und
sogar Edgar Wallace. Und natürlich erfahren wir aus berufener Feder so
einiges über William
Shakespeare. Eine seiner bemerkenswertesten Aussagen über
Literatur traf Borges 1927 in seinem Essay "Literarischer Genuss": "Es
gibt keinen Dichter, der die totale Stimme des Liebens, des Hassens,
des Todes oder der Verzweiflung wäre. Das heißt, die großen Verse der
Menschheit sind noch nicht geschrieben. Es ist dies eine
Unvollkommenheit, die unsere Hoffnung aufmuntern sollte." Und da
die Literatur mitunter auch ein "Nistplatz von Engeln" ist,
fanden auch diese Lichtwesen Eingang in einen der Essays, in "Geschichte
der Engel" (1926). Nietzsches
Übermensch diskutiert Borges ebenso wie den Don
Quijote des Spaniers Cervantes, wo er auf 18 Seiten eine fundierte
Analyse des letzten Kapitels aus dem "Don Quijote" liefert.
Von den mehr an der Historie ausgerichteten Essays vermochten unter
anderen jene Aufsätze besonders zu beeindrucken, die sich mit dem
nationalsozialistischen Deutschland befassen, wo Borges in gewisser
Weise Verständnis äußert nicht für Hitler
und seine Schergen, aber für das deutsche Volk. 1939 schreibt Borges
dazu in seinem Essay "Versuch in Neutralität": "Ich verabscheue
Hitler, gerade weil er meinen Glauben an das deutsche Volk nicht
teilt." Bemerkenswert und in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem
Thema dann einige Gedanken zu Europa (1985 geschrieben), wo Borges die
Ursache der beiden Weltkriege vor allem darin sieht, dass die Europäer
vergessen haben, dass sie Europäer sind und somit die beiden
europäischen Weltkriege letztendlich als Bürgerkriege zu betrachten
sind. Und die gesamte westliche sowie einen großen Teil der östlichen
Welt betrachtet Jorge Luis Borges als Spiegelbild Europas. (Nicht nur)
für seine Heimat Argentinien zieht er daraus den Schluss: "Ich
glaube, wir machen einen Fehler, wenn wir in die Richtung zweier
Länder blicken, die eigentlich zweitrangig geworden sind, wie dies bei
der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten der Fall ist. Wir sollten
die Augen auf Europa richten, denn wir sind exilierte Europäer,
außerdem ausreichend weit exiliert, so dass wir Europa betrachten
können, denn in Europa kann man vor Bäumen den Wald
nicht sehen. Wir dagegen können sehr wohl diesen großen Wald sehen,
diesen jahrhundertealten Wald namens Europa, und wir können seine
Einheit wahrnehmen."
Soweit Borges' Plädoyer für Europa. Sein Schlussfazit am Ende seines
autobiografischen Essays lautet: "Versagen oder Ruhm, beides ist
belanglos, und ich kümmere mich um keines von beiden. Jetzt steht mir
der Sinn nach Frieden, nach der Freude am Denken, nach Freundschaft
und, mag dies auch allzu ehrgeizig klingen, nach dem Gefühl, zu lieben
und geliebt zu werden."
Das Fazit des Rezensenten zu "Ein ewiger Traum": Nicht nur als
Ergänzungsband zur Werkausgabe, sondern auch als Einstieg in die
Gedankenwelt Jorge Luis Borges' eine sehr begrüßenswerte Neu- bzw.
Erstveröffentlichung.
(Werner Fletcher; 10/2010)
Jorge
Luis Borges: "Ein ewiger Traum. Essays"
Herausgegeben und übersetzt von
Gisbert Haefs.
Hanser, 2010. 294 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Das Handwerk des Dichters"
Lange galten Jorge Luis Borges' sechs legendäre Harvard-Vorlesungen
aus dem Jahren 1967/1968 als verschollen, bis man endlich die Tonbänder
eines Mitschnitts entdeckte. Der Fund war eine Sensation, denn in ihnen
schreitet der zu dem Zeitpunkt halberblindete Lyriker, Erzähler,
Essayist und Historiker den ganzen Umkreis seines Werkes ab und legt so
die konzentrierteste Einführung in sein Werk und Denken vor: "Ich
habe mein Leben damit verbracht, zu lesen, zu analysieren, zu
schreiben (oder mich am Schreiben zu versuchen) und zu genießen. Ich
fand, dass Letzteres das wichtigste von allem war."
Dass das Glück des Lesens das Glück zu schreiben aufzuheben vermag, dass
der Kommentar zu einem verlorenen Vers glänzender sein kann als die
verschollenen Worte selbst, dass eine altnordische Metapher uns
unmittelbarer berühren kann als die Schilderung einer zeitgenössischen
Kaffeehausszene - all diese großen Rätsel seines Werkes reicht er hier
seinen Lesern weiter.
"Das Handwerk des Dichters" ist der zentrale poetologische Text eines
der größten Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts. (Fischer)
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