Tiziano Scarpa: "Stabat Mater"
Ich
bin ein Nichts
Kann man Romane hören? Natürlich, wird man entgegnen,
zum Beispiel durch das akustische Medium der
Hörbücher. Doch nein, das ist hier nicht gemeint. Die
Frage muss präzisiert werden. Kann man einen Roman wie ein
Musikstück empfinden, ihn wie eine Partitur auf Notenpapier
lesen? Ja, man kann. "Stabat Mater" ist so ein Buch. Mit dem
wichtigsten italienischen Literaturpreis - dem "Premio Strega" 2009 -
geehrt, ist diese feine, beinahe wie mit Tönen gemalte kleine
Erzählung eine Ode des Autors an seinen Lieblingskomponisten
Antonio Vivaldi.
Wie stimmt man sich auf so einen Roman ein? Am besten mit der Musik des
venezianischen Priesters und noch besser mit einem Auszug aus seiner
Bearbeitung des "Stabat Mater". Ein Stück, das ernster,
elegischer ist als der Vivaldi den man sonst meistens kennt.
Leid, Klage, aber auch Trost sind die Hauptakzentpunkte des Stabat
Mater, des ursprünglich mittelalterlichen Gedichts, das die
Gottesmutter in ihrem Schmerz um den Gekreuzigten besingt. Leid, Klage
und Trost sind auch die vorherrschenden Grundtöne in
Tiziano Scarpas kleinem Kabinettstück, ohne jedoch den
wehklagenden Unterton in den Vordergrund zu rücken. Er
umspielt eher dezent und unauffällig den klaren, ja beinahe
nüchternen Text. Der italienische Autor versteht es virtuos
unter Einsatz einer hochentwickelten Sprache eher kühl als
tränenreich, eine anspruchsvolle und keineswegs banale
Geschichte zu entwickeln.
Plaudereien mit dem eigenen Tod
Als Hauptfigur des Romans, der im Venedig des 18. Jahrhunderts
angesiedelt ist, begegnet dem Leser die
fünfzehnjährige Cecilia. Sie lebt im
örtlichen Kloster und Waisenhaus, dem Ospedale della
Pietà. Dieser Ort ist keineswegs zufällig von
Scarpa gewählt, denn er selbst wurde in den 1960er-Jahren dort
geboren. Die Geburtsklinik des Ospedale Civile von Venedig war in dem
historischen Gebäude untergebracht. "Ich wurde dort
geboren, wo einst die Zimmer der Waisenmädchen waren, wo
Vivaldi unterrichtete und seine Schülerinnen dirigierte und
für sie eine Unmenge an Konzerten und geistlicher Musik
komponierte", erläutert er im Nachwort. Für
Scarpa war dieser
Zufall
eine Art Wink des Schicksals. Der Ursprung
seiner Fantasie beflügelte ihn zu seiner melancholischen
Erzählung.
Düstere, schwere Gedanken Cecilias bestimmen die erste
Hälfte des Romans. Das junge Mädchen, das hinter den
Mauern des Waisenhauses, isoliert vom Rest der Welt,
aufwächst, erzogen in Pflicht und christlicher
Nächstenliebe, aber ohne jegliche familiäre Bindung
und das innigste aller Gefühle, die Liebe, schreibt heimlich
verzweifelte, vorwurfsvolle, flehende Briefe an ihre unbekannte Mutter:
"Frau Mutter, habt Ihr Euch jemals vorgestellt, wie ich wohl
bin? Habt Ihr Euch je gefragt, wie ich meine ersten Lebensjahre
verbracht habe? Wenn Ihr wollt, dass Eure Vorstellung mit der
Wirklichkeit übereinstimmt, müsst Ihr Euch ein
kleines Mädchen denken, das die Nächte mit offenen
Augen verbringt, von Angst gepeinigt."
Ihr einziger Begleiter ist ein dunkles Fantasiegebilde, eine Frau mit
schwarzen Schlangen auf dem Kopf, ihr eigener Tod, mit dem sie von Zeit
zu Zeit "plaudert". Ihre einzige Freiheit ist die Musik. Cecilia ist
eine begnadete Violinspielerin, aber ihr ist noch nicht wirklich
bewusst, was es heißt, durch Musik zu sehen, zu leben und mit
der Außenwelt des Seins in Kontakt zu treten. Das
Mädchen ist stark depressiv und am Rande des Wahnsinns.
Dem
Tod mehr zugehörig als dem Leben, verliert sie immer mehr den
Kontakt zur Wirklichkeit. Seite um Seite umgibt sie sich mit einer
tiefen Dunkelheit, aus der nur vereinzelt ein kleines Aufflackern
spürbar ist: "Gerade habe ich geschrieben, dass die
Worte sich entrollen, aber vielleicht verknoten sie sich. Sie entrollen
sich und verknoten sich, in ein und derselben Bewegung. Vielleicht bin
ich dabei, mich zu befreien, vielleicht kerkere ich mich selbst ein."
Akustische Visualisierung
Doch dann scheint Licht in ihre dunkle Seele zu kommen, in Person des
jungen Priesters und neuen Violinlehrers Don Antonio (Vivaldi). Scarpa
wählt dessen berühmte "Vier
Jahreszeiten" als
Inspiration und Anstoß zu einem wichtigen Schritt, zu einem
eigenen Weg, den Cecilia gehen wird. Von nun an werden die
Töne im Buch heller, die Düsternis weicht, das
Mädchen hebt den Kopf und bemerkt am Himmel die Schwalben, die
es so unnachahmlich auf seiner Violine nachzuahmen weiß. Der "Windhauch
des Universums" durchdringt sie und rüttelt sie auf.
Scarpa komponiert sein "Stabat Mater" aus Worten wie Musik. Er
lässt seine literarischen Töne, anfangs in tiefstem
Moll, am Ende in ungeahnte Höhen steigen. "Geräusche,
die ich noch nie gehört hatte, drangen zu mir",
sinniert Cecilia, "Ich versuchte mir vorzustellen, was sie
wohl bedeuten und wer sie hervorbrachte." Ähnliches
passiert mit Scarpas Text, den man beim ersten Lesen kaum erfassen
kann. Nur durch eine "akustische Visualisierung" erfasst man ihn in
vollends. Dann wird der Klang oder die Bedeutung eines Wortes zu einem
Akkord, ein Satz entwickelt sich wie ein Kontrapunkt und wird zu einer
Melodie. Olaf Matthias Roth ist nicht nur Kopist, sondern hat mit
seiner Übersetzung aus dem Italienischen eine
großartige deutsche Variation "komponiert".
"Ich wünschte mir, ich hätte dieselbe
Fähigkeit, Worte und Gedanken in Einklang zu bringen, das was
mir durch den Kopf geht, und das, was ich schreibe. Ich möchte
mit derselben Übereinstimmung schreiben können, die
zwischen einer geschriebenen und einer gespielten Note besteht",
erstrebt Cecilia für sich. Tiziano Scarpa hat es vollbracht.
Er hat voller Erfindungsgeist die Einfachheit herausgekitzelt.
(Heike Geilen; 08/2009)
Tiziano
Scarpa: "Stabat Mater"
(Originaltitel "Stabat Mater")
Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth.
Verlag Klaus Wagenbach, 2009. 144 Seiten.
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Tiziano
Scarpa wurde 1963 in
Venedig geboren. Seine Bücher wurden in mehrere
Sprachen, unter Anderem ins Französische,
Spanische, Chinesische und Englische übersetzt.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Venedig ist ein Fisch"
Tiziano Scarpa führt den Leser durch seine Heimatstadt und
lässt ihn Venedigs Stadt- und seine Körperteile neu
entdecken.
Dass Venedig die Form eines Fisches hat, sieht jeder, der auf eine
Landkarte schaut. Tiziano Scarpa lädt uns ein, diesen
Wunderfisch mit allen Sinnen zu entdecken - deshalb schreibt er nicht
über Venedig, sondern darüber was mit uns in Venedig
passiert. Die Kapitel lauten: Füße, Beine, Herz,
Gesicht, Ohren, Mund, Nase, Augen. Wir erfahren, warum man sich in
Venedig unbedingt verirren sollte, weshalb die Stadt als Kulisse
für Liebeserklärungen ungeeignet ist und wieso
Venedigs Schönheit hochgradig gesundheitsgefährdend
ist. Scarpa wirft viel vom Bildungsballast, der auf Venedig lastet, ins
Meer und sorgt dafür, dass man über diesen
wunderlichen Venedig-Fisch auf ganz neue Art ins Staunen
gerät. (Verlag Klaus Wagenbach)
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"Körper"
Wie in "Venedig ist ein Fisch" erkundet Tiziano Scarpa die Welt
über
die Körperteile - von den Augen bis zu den
Füßen. Am Ende dieses herrlich
überraschenden
Buchs erscheint einem das vermeintlich Bekannte, der eigene
Körper, wie der
fremdeste aller Planeten.
Augen und Ohren, Hände und
Füße, Herz und Haut, Zähne, Muskeln und Nerven
werden in kurzen Kapiteln beschrieben, in denen der
Ich-Erzähler die eigenen Körperteile
mit dem staunenden Blick eines Fremden betrachtet.
Tiziano Scarpa dichtet ihnen märchenhafte Geschichten an. Die
Lippen etwa sind
dem Zauber einer schönen Prinzessin verfallen und beginnen bei
jeder Berührung
von selbst zu küssen. Die Beine tragen ihn wie Riesen durch
die Welt. Die
Ellbogen sind dazu da, Geister zu vertreiben, während die
Hände wie Straußenköpfe
in den Taschen stecken. Die Nerven sind die Blitze des
Körpers, von Zeus
gesandt.
Fünfzig Körperteile in fünfzig Kapiteln: ein
äußerst vergnügliches Buch für
zwischendurch. (Verlag Klaus Wagenbach)
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"Was ich von dir will"
Ein sehr junges, freches und auch noch brillant geschriebenes Buch
über ein
altes Thema: Liebe und Sex, Leidenschaft und Langeweile,
Enttäuschung und
Hoffnung.
Wie wird es ausgehen, wenn ein Mädchen am Strand einen
Illustrierten-Fragebogen
zum Thema "Wenn Sie aus einem erotischen Traum erwachen ..."
ausfüllt
und dabei von drei braungebrannten, gutgebauten jungen Männern
angesprochen
wird?
Oder: Was passiert, wenn zweien die letzte Tram gerade
davonfährt, er
romantisch durch die milde Sommernacht spazieren, sie aber so schnell
wie möglich
nach Hause zu handfesteren Beschäftigungen will und ihre ganze
verbale Verführungskraft
einsetzt?
Oder: Welches Herz wird die Kreatur auf Lady Frankensteins
Operationstisch wählen:
das zynische oder das sentimentale?
Tiziano Scarpas dicht geschriebene und raffiniert gebaute
Erzählungen führen
immer wieder in die Irre und nehmen überraschende Wendungen,
die selbst den
erfahrenen Leser verblüffen. (Verlag Klaus Wagenbach)
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