Atiq Rahimi: "Stein der Geduld"
Irgendwo
in Afghanistan oder
anderswo
Für "Stein der Geduld" erhielt der seit 1984 in Frankreich
lebende
Atiq Rahimi 2008 den begehrten "Prix Goncourt". "Stein der Geduld"
ist auch Atiq Rahimis erstes in französischer Sprache
geschriebenes Buch.
Karge Sprache dominiert diesen kurzen aber eindringlichen Roman. Prosa,
die erzählt,
indem sie beschreibt. Ein Zugang, der streckenweise an die Machart
eines Filmdrehbuchs
erinnert. Man spürt die Qualitäten des
Dokumentarfilmers, der Atiq Rahimi auch
ist, schon im Ansatz zur Entwicklung und in den beeindruckenden Farben
dieses
Buches.
"Das Zimmer ist kahl. Schmucklos. Nur an der Wand zwischen den
beiden
Fenstern hängt ein kleiner Handschar, und über dem
Handschar das Foto eines
schnurrbärtigen Mannes. Er dürfte um die
dreißig sein. Gelockte Haare ...
Seine schwarzen Augen glänzen. Sie sind klein, durch eine
Adlernase getrennt.
Der Mann lacht nicht, sieht aber aus, als hielte er ein Lachen
zurück. Das
verleiht ihm einen merkwürdigen Ausdruck, den Ausdruck eines
Mannes, der sich
insgeheim über den Betrachter mockiert ..."
Eine Frau sitzt am Bett ihres bewusstlosen, im Sterben liegenden
Mannes. Sie
spricht mit sich selbst und damit auch mit ihm. Ihr Kind erscheint von
Zeit zu
Zeit im Zimmer. Indem sie spricht, erinnert sie sich. Erinnerungen an
ihre Ehe
sprudeln aus ihr heraus, alle Enttäuschungen, alle Schmerzen,
die er ihr durch
sein Unverständnis, das sich auch durch seine Rolle als Mann
in Afghanistan
(oder anderswo) definiert. Eine wahre Anklageflut bricht aus der Frau
heraus.
Immer wieder klopft der Mullah, nicht immer wird er hereingelassen. All
das, während
draußen die Kriegshandlungen fortgesetzt werden.
Die unterschiedlichen Verhältnisse zu Schwiegervater und
Schwiegermutter sind
zwei der wunden Punkte, auch die Unterdrückung durch die
eigenen Eltern und die
Traditionen in Afghanistan. Der Monolog der Frau ist eine Anklage, ein
verzweifelter Hilfeschrei für die Rechte und Würde
der Frauen in Afghanistan
(oder anderswo).
"Da begriff mein Vater. Er sperrte mich in den Keller. Dort
war es ganz
dunkel. Ich musste zwei Tage unten bleiben. Er schloss eine Katze mit
mir
zusammen ein - eine andere herrenlose Katze, die in der Gegend
herumstreunte -
und verkündete mir voller Genugtuung, wenn das Tier Hunger
bekäme, werde es
mich zur Beute nehmen. Aber zum Glück war unser Haus voller
Ratten
..."
Immer näher rückt man als Leser an das Geheimnis
ihrer Ehe. Eine schmerzhafte
Erfahrung mit einem jungen Soldaten gibt der Frau Mut, ihrem Mann auch
den
letzten Rest ihres Geheimnisses zu erzählen.
Atiq Rahimi hat mit diesem Roman einen wirklich eindringlichen, starken
Roman
geschrieben und zu Recht damit auch den "Prix Goncourt" gewonnen.
"Stein der Geduld" wirkt wie ein extrem konzentriertes
Kammerstück
und ist ein Werk, in dem jeder Satz, jedes Wort sitzt. Ein Roman, in
dem es
keinen Anflug eines Leerlaufes gibt.
"Stein der Geduld" ist ein kurzes Stück großer
Literatur, mit
unvergesslichen Szenen und mit einer großartigen
Protagonistin.
(Roland Freisitzer; 10/2009)
Atiq
Rahimi: "Stein der Geduld"
(Originaltitel "Syngué Sabour")
Aus dem Französischen von Lis Künzli.
Ullstein, 2009. 168 Seiten.
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Hörbuch
(ungekürzte Lesung):
Sprecherin: Katja Riemann.
Hörbuch Hamburg, 2009. 3 CDs.
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Atiq
Rahimi, 1962 in Kabul geboren, studierte Literatur. 1984 floh er
über
Pakistan nach
Frankreich, wo er vor allem als
Dokumentarfilmer tätig ist. Sein international vielbeachtetes
"Erde und Asche" wurde im Jahr 2004 verfilmt. "Stein der Geduld" ist
sein dritter Roman.
Weitere Bücher des Autors:
"Der Krieg und die Liebe"
Eine zarte Liebesgeschichte und die beeindruckende Schilderung eines
Frauenschicksals im Islam aus dem Blickwinkel eines Mannes. (List)
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"Erde und Asche"
Mit seiner anrührenden und erschütternden Parabel hat
Atiq Rahimi ein Werk von
zeitloser Gültigkeit geschaffen. Denn in dem Schicksal eines
afghanischen Großvaters,
der mit seinem Enkel unterwegs ist, um dem Sohn vom Tod aller
Verwandten zu
berichten, spiegeln sich der Schmerz und das Leid all jener, die unter
Gewalt
und Verfolgung leiden. (List)
Zur
Rezension ...
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Zusätzliche Empfehlung:
Malalai Joya: "Ich erhebe meine
Stimme. Eine Frau kämpft gegen den Krieg in Afghanistan"
Eine bewegende, zutiefst menschliche Geschichte vom
Mut einer jungen Frau. Malalai Joya kämpft gegen den Krieg in
Afghanistan, gegen die Unterdrückung und den Terror in ihrem
geschundenen Land – und für ein
menschenwürdiges Leben.
Was
für eine mutige Frau! Malalai Joya ist erst 30 Jahre alt und
doch schon
das Vorbild für Millionen von Frauen. Sie war es, die als
Abgeordnete
des ersten demokratischen Parlaments in Afghanistan den regierenden
Kriegsherren dort persönlich entgegentrat und ihnen ihre
Verbrechen
vorhielt. Vier Attentate hat sie seitdem überlebt, aber sie
gibt nicht
nach. Natürlich nicht – bei ihrem
Lebensweg: Schon ihr Vater, ein Arzt,
kämpfte gegen die sowjetischen Invasoren. Sie wuchs deshalb
in
Pakistan, von der Familie getrennt, in einem Flüchtlingslager
auf. Nach
ihrer Rückkehr ließ sie sich zur Sozialarbeiterin
ausbilden und baute
eine Organisation zur Förderung und Weiterbildung von Frauen
mit auf.
Sie kämpfte weiter gegen die mörderischen Taliban und
lebte deshalb im
Untergrund. (Piper)
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