Martin Geck: "Wenn der Buckelwal in die Oper geht"
33 Variationen über die Wunder klassischer Musik
Docere,
movere, delectare - lehren, bewegen, erfreuen
Auch unmusikalische Menschen verstehen etwas von Musik. Das zeigen
neueste wissenschaftliche Studien.
Das menschliche Gehirn mag und braucht diese "organisierte
Form von Schallereignissen" von Geburt an, wenn nicht schon
früher. Musikalität scheint angeboren zu sein. Musik
ist ein menschliches Bedürfnis. Und jene, die ihre besonders
ausgeprägte Musikalität auch noch
auszudrücken verstehen und sie mittels Noten auf Papier
festhalten, haben unsere ganze Bewunderung.
Martin Gecks Wertschätzung, ja seine Leidenschaft, gilt der
klassischen Musik. Der Professor für Musikwissenschaften
widmet sich ihr auf ganz eigene Art - mit Worten. Und er stimmt damit
in den Dreiklang vieler Künstler und Gelehrter ein, die "Sinn
und Zweck ihrer Kompositionen, Bilder, Bücher und Reden in
schönem Latein" beschrieben: "Docere,
movere, delectare - lehren, bewegen, erfreuen."
In seinen "33 Variationen über die Wunder klassischer Musik" -
wie es der Untertitel verkündet - lädt er den Leser
zu einer Rundfahrt zu "originellen Stätten
klassischer Musik" ein. Dabei hat er für stete
Abwechslung gesorgt: "Werke, Schaffensmomente, Probleme und
ihre Lösungen, historische Kontexte, Widersprüche,
Ausblicke", so wirbt Geck in seinem Vorwort oder
"Thema" wie er es tituliert. Für ihn
selbst "sind es allesamt Wunder an Inspiration, Sinndichte,
Nachdenklichkeit, Zerbrechlichkeit, Wirkungsmacht und
Widersprüchlichkeit". Die Auswahl der Themen
spiegelt seine jahrelange Beschäftigung mit Musik wider, sei
es nun beim Schreiben und Lehren oder noch mehr beim Hören und
Musizieren.
"Die Welt taumelt, Musik fängt sie auf."
Bunt gemischt hat er seine Variationen, die sich allesamt über
drei bis fünf Seiten erstrecken und mit vielen kleinen
lustigen Illustrationen versehen sind. Man muss das Buch keineswegs
stringent von vorn nach hinten durchlesen, sondern es empfiehlt sich
geradezu, einmal das eine, dann wieder ein anderes Thema zu
verinnerlichen. Denn diese folgen keinem steten Ablauf, sondern sind
bunt gemischt und nahezu wahllos aneinandergereiht.
Geck betrachtet Anfänge und (Leit-)Motive in klassischen
Stücken, untersucht Formenanalyse und Formenlehre, kehrt die
revolutionäre Macht der Harmonik heraus oder huldigt der Musik
als Körpersprache. Geradezu essayistischen Charakter nehmen
seine Betrachtungen von Gewalt und Humor in der Musik, der Einzug des
Boudoirs und Bordells in der Oper oder von Tonbuchstabenspielen einiger
Komponisten an. Der Autor spricht der Reprise ein Lob aus,
erörtert die Notwendigkeit einer Generalpause, um letztendlich
über das Inszenieren unterschiedlichster Abschiede zu
plaudern. Dabei bedient er sich mehr oder weniger bekannter
Musikstücke und natürlich ihrer Schöpfer -
der Komponisten. Bach,
Haydn,
Mozart,
Beethoven,
Schubert,
Mendelssohn,
Brahms,
Debussy, Wagner bis hin zu Arnold Schönberg schlendern durch
die Zeilen.
Bleibt noch die Frage zu klären, wie es zu dem Titel des
Buches kam. Denn Buckelwale können weder gehen (auch wenn
ihnen dies in rauen Urzeiten zu Eigen war), noch spazieren sie in
die Oper. Gelegentlich sind sie dort zwar anzutreffen, so
gesehen bei einer modernen Inszenierung von
Puccinis "Madama Butterfly" in der Semperoper Dresden, aber
dann mit feinstem Bambus überzogen und als höchst
sonderbares Ambiente und wunderliche Dekoration des Papierpalastes von
Cio-Cio-San.
Martin Geck geht es mit diesem auffälligen Bild um etwas ganz
Anderes: um das Spannungsverhältnis zwischen Natur und Kunst,
zwischen Vertrautem und Anderem, ja Undenkbarem. Buckelwale
verkörpern mit ihrem Gesang die Natur. Und wir Menschen "sind
Buckelwale, die sich in die Oper verirren; denn auch wir selbst tragen
die Natur der Musik in uns, können singen, wie uns der
Schnabel gewachsen ist, stundenlang ein und dieselbe Melodie vor uns
hin pfeifen. Es gibt den Buckelwal-Gesang unter der Dusche und die
vielstimmigen Buckelwal-Strophen auf dem Fußballplatz -
gleichfalls kilometerweit zu hören. Doch gottlob sind viele
von uns nicht nur Buckelwale, sondern auch Delfine - und damit geborene
Liebhaber ’klassischer’ Musik",
erklärt Geck und spielt damit auf eine Geschichte
Herodots aus dem klassischen Griechenland an.
Diese Spannung jedenfalls, die sich unweigerlich einstellt, wenn wir
Musik machen oder hören, versucht dieses Buch zu analysieren
und zu erklären. Denn diese hat - da ist sich Martin Geck
sicher - "etwas mit unserem Woher und Wohin zu tun [...]
Indem wir im Augenblick leben, wissen wir DASS wir sind. WER wir sind,
erfahren wir über unsere Vergangenheit und unsere Zukunft -
und dabei hilft Musik auf unverzichtbare Weise. Sie verschafft uns
Zugang zu Dingen, die wir zwar in uns tragen, aber immer wieder
vergessen." Musik ist nicht widerspruchsfrei, doch sie reicht
"dem Menschen die Hand zur Versöhnung - zur
Versöhnung mit sich selbst. Die Welt taumelt, Musik
fängt sie auf."
Conclusio:
Martin Gecks Buch ist alles in allem eine sehr unterhaltsame und kluge,
ungewöhnliche und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema
klassische Musik. Es fungiert durchaus als kleiner Cicerone
("Fremdenführer") für den interessierten Konzert- und
Opernbesucher. Ihm gelingt es, dem Leser anhand vieler Beispiele "aus
dem klassischen Repertoire unversehens eine kleine
Musikästhetik unterzuschieben."
Nur überfordert Geck den Musiklaien ein wenig. Denn wer ist
schon so stilsicher bzw. hat eine derart umfangreiche CD-Sammlung zu
Hause, dass er den vielen Fachbegriffen, Fall- und Notenbeispielen
folgen kann.
Eines bewirkt das Buch aber auf jeden Fall: Es setzt
Verständnisprozesse in Gang bzw. erweitert den Horizont.
(Heike Geilen; 06/2009)
Martin
Geck: "Wenn der Buckelwal in die
Oper geht. 33 Variationen über die Wunder klassischer Musik"
Siedler, 2009. 224 Seiten.
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