Christoph Türcke: "Jesu Traum"
Psychoanalyse des Neuen Testaments
Das vorliegende Buch ist nicht das erste des Leipziger Philosophen Christoph Türcke,
in dem er sich, selbst studierter Ev. Theologe, als der er sich immer noch und auch
versteht, mit dem Christentum auseinandersetzt. Nachdem er sich für eine seiner
vorigen Veröffentlichungen ausführlich mit der Traumdeutung Sigmund
Freuds befasst
hatte, wendet er die dort gewonnenen Erkenntnisse nun auf sein Lebensthema
(und auch Lebenstrauma?) an.
Er will im vorliegenden Buch "Jesu Traum" nichts Geringeres als die latenten
Traumgedanken der Urchristen und zugleich auch Jesu eigenes Trauma aufdecken.
Den neutestamentlichen Wissenschaftlern wirft er vor, dieser Dimension ihrer Quellen
bisher keine Beachtung geschenkt zu haben.
Als kritischer Theologe kennt man Christoph Türcke seit Langem schon als Autor von
kritischen und genialen Diagnosen einer völlig geistlos gewordenen Theologie und schöner
Essays über Grundbegriffe der religiösen Sprache. Das ist das Erste, was einen vor der
Lektüre schon einnimmt. Das Andere ist sein erkenntnisleitendes Interesse. Er formuliert
es religionspolitisch. Die Tatsache, dass der Islam nach Jahrhunderten der Abwesenheit
nun seit Jahrzehnten wieder machtvoll in den Westen zurückkehre, zwinge die westlichen
Gesellschaften und eben auch die Wissenschaftler und erst recht die Philosophen,
verstärkt über de "christlichen Fermente" ihrer eigenen Gesellschaften
und Kultur nachzudenken. Dazu sei es nötig, dass insbesondere religions- und
glaubenskritische Aufklärer und Zeitgenossen sich das Christentum und seine Grundlagen
neu aneigneten. Denn die Bedeutung des Christentums für die westliche Kultur werde in
ihrer Prägung weithin unterschätzt.
Sich auf Nietzsche berufend, der von den christlichen "Eingeweiden"
Europas sprach, will sich Türcke sozusagen auf eine psychoanalytische "Eingeweideschau"
begeben, die er an einer Stelle des Buches "Tiefenhermeneutik mit Fingerspitzengefühl
für mentale Verdauungsprozesse und Ablagerungen" nennt.
Es gilt als gesichert, dass der Jude Jesus von Nazareth nicht im Sinn hatte, eine Religion
zu begründen. Doch schon bald nach seiner Kreuzigung, deren historische Realität Türcke nicht
bezweifelt, wurde er von seinen Anhängern als der Christus verkündigt, der sich für die
Rettung der sündigen Menschheit geopfert habe und am dritten Tage auferstanden sei.
Ein Problem für die Forschung ist seit jeher, dass es keine außerchristlichen Quellen
über das Leben und Denken des Juden Jesus gibt. Nur die frühchristlichen Zeugnisse, die
Evangelien und die Briefe des NT, die aber alle Jesus schon als Herrn und Messias beschreiben.
Türcke nun behauptet, man könne in den "höchst dubiosen" frühchristlichen
Quellen neben "viel fabulieren, fingieren und erfinden" durchaus
"Begebenheiten aus dem wirklichen Leben Jesu" finden.
Seine These: "Das Zustandekommen neutestamentlicher Texte sieht der Bildung und
Bearbeitung von Träumen frappierend ähnlich." Er liest die Texte als Hinweise
auf das Seelenleben der Jünger, und selbst Jesu eigene Traumata und Herzenswünsche vermag
er so aufzudecken.
Diese "Psychoanalyse des NT" kennt keine Grenzen der historischen Vernunft.
Türcke kann Jesus sogar ins Herz schauen. Er sieht Jesu Schicksal als Martyrium für das
Nichtidentische und ist auch hier ganz der Adorno-Schüler, der er schon immer war. Er
verteidigt mit seiner Traumtheorie seine Auffassung, dass Jesus für den Kampf gegen allen
Identitätszwang steht und deshalb seine Traumgedanken nicht verdrängt werden dürfen, denn
seit Freud wissen wir: "Verdrängtes kehrt wieder."
Und so kann man sein Buch auch als ein durchaus frommes Bekenntnis lesen, das er in einer
Mischung aus psychoanalytischer Sprache und gleichsam pietistischer Herzensrede formuliert.
Damit rettet er seinen Jesus als Märtyrer für das Nichtidentische, seine eigene Identität als
Theologe und - älter werdend - seinen
Glauben.
Ein auch für den theologischen und philosophischen Laien erstaunlich gut zu lesendes Buch ist es,
das eine Ahnung davon gibt, dass auch diese Deutung nicht die letzte eines Geschehens gewesen ist,
das die katholische Kirche nicht ohne Grund ein Geheimnis nennt. Dieser Jesus, sein Leben, sein
Sterben und seine Auferstehung, aber auch das, was Theologen wie Paulus daraus theologisch entwickelt
haben (er war mitnichten seelenkrank, wie Türcke behauptet), wird auch weiter Menschen bewegen,
begeistern und verändern. Das wird auch eine Politik oder Aussage irgendeiner Amtskirche nicht ändern.
Denn Jesus ist der fleischgewordene Logos und das Christentum die Lehre dieser Verkörperung, die sie
auszeichnet gegenüber den mystischen, östlichen und gnostischen Religionen. Ein höherer Zustand ist
nämlich nicht durch Entkörperung zu erreichen, sondern er muss sich ebenso verkörpern können, zum
Beispiel auch in Institutionen.
Dennoch empfehle ich das Buch allen christlichen Theologen und Gläubigen als eine interessante und
manchmal auch positiv verstörende Lektüre.
(Winfried Stanzick; 12/2009)
Christoph
Türcke: "Jesu Traum.
Psychoanalyse des Neuen Testaments"
zu KLAMPEN!, 2009. 157 Seiten.
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