Viktor Jerofejew: "Russische Apokalypse"

Essays


"Russische Apokalypse" heißt Viktor Jerofejews neuestes Buch; es könnte jedoch auch "Was Sie schon immer über Russland wissen wollten, sich aber nie zu fragen getraut haben" heißen.
Dieses in vier Abschnitte unterteilte Buch ist eine herrlich unterhaltende und pointierte Sammlung von Essays zum Thema Russland.

"Auf dem Schlachtfeld der russischen Flüche"
Im ersten Teil widmet sich Viktor Jerofejew unter anderem dem Liebesleben Anton Pawlowitsch Tschechows, Solschenizyns Lebenssinn, dem letzten Helden Sergei Awerinzew, der Frage um die die Wichtig- bzw. Nichtigkeit des Geldes im postkommunistischen Russland, dem Komponisten Alfred Schnittke und der sehr menschlichen Zusammenarbeit an der Oper "Das Leben mit einem Idioten" und einem äußerst humoristischen Traktat über den Gebrauch der sich wie Metastasen in die Umgangssprache eingefressenen russischen "Mat"-Wörter. Er mokiert sich augenzwinkernd über einen mehr als hoffnungslosen Versuch einiger Mitglieder der russischen Duma, den Gebrauch der "Mat"-Wörter gesetzlich zu unterbinden.

"Warum russische Schönheiten immer billiger werden"
Im zweiten Teil erfährt man, wieso Schürzenjäger vom Schlage Onegins und Petschorins nicht dem Typus des idealen Gatten entsprachen, dass es die ideale Ehefrau wohl gibt (nicht aber den idealen Gatten), über Neid in der Frauenumkleide, über Puschkins Fehler (Viktor Jerofejew hält hier fest: "Wenn du ein großer Dichter bist, heißt das nicht, dass deine Frau kein Flittchen sein kann"), über die Liebe jedes Russen zu seiner Heimat, über die Kunst und Geschichte des Fellatio, über den Venushügel à la Versailles, Mutterschaft und Vaterschaft.

Im dritten Teil spielt er mit den Themen Freundschaft, dem Unterschied zwischen Erbe und Vererbung, den Hedonisten in den verschneiten Weiten der Heimat, Eric Blair (oder George Orwell), dem Wendekreis im Krebsgang, Che Guevara, dem französischen Verlierer und der Sprache der Offenbarung.

Im vierten und letzten Teil mischt sich symbolträchtig eine Gegenstimme kontrapunktisch in das Geschehen ein, das sagenumwobene sprechende Pferd Ilja Muromezs. Die nun mehrstimmigen Essays widmen sich Fluten, Pechvögeln, dem Wunsch, wenigstens einmal unsichtbar zu sein, den Ähnlichkeiten zwischen König Herodes und dem tschetschenischen Rebellenführer Bassajew, Michail Chodorkowski und einem imaginären Roman, den manche der Feder des russischen Präsidenten zuordnen und dem Smoking. Nebenbei gibt es noch einen offenen Brief an W. W. Putin vom 04.09.2002 und eine sehr schöne Aussage zur Wichtigkeit Michail Gorbatschows, der in Russland (im Gegensatz zu Europa) als Kremltreidler, Verlierer und richtige Schandfigur gilt.

"Russische Apokalypse" ist eine wunderbare Sammlung, die nie auch nur ansatzweise im quasi intellektuellen Sumpf vieler Kollegen und Essayisten verkommt. Jeder Essay ein kleiner Schatz, ist man erstaunt ob der Fähigkeit dieses Autors zu fesseln und zu bewegen. Man spürt eine immense Liebe zu seiner Heimat Russland; eine sehr kritische Liebe, die nicht von rosa Scheuklappen verunstaltet ist.
Viktor Jerofejew nimmt sich kein Blatt vor den Mund, seziert präzise, schwelgt jubilierend auf Wolke Sieben, reißt gefährliche Themen an, kritisiert vorurteilsfrei, verliert aber auch nie die Übersicht über die Fragen zur Wichtigkeit der jeweiligen Kritik.

Genau da liegt auch der Unterschied zu den billigen lemmingartigen Unkenrufen mancher Kollegen, der Unterschied zwischen politischem Geplänkel und großer Literatur.
"Russische Apokalypse" ist eindeutig Letzteres. Großartige Prosa in Essayform, leuchtende Momentaufnahmen, überraschende Denkanstöße, interessante Themen und viele Szenen zum Schmunzeln ergeben eine faszinierende und im besten Sinne des Wortes unterhaltende Lektüre, auf die man gerne immer wieder zurückgreift.

Für jene Leser, die in der russischen Politik- und Medienlandschaft der Postperestroikazeit und der russischen Geschichte nicht so bewandert sind, gibt es im Anhang noch ein sehr hilfreiches und informatives Personenregister.

Eine absolute Empfehlung, speziell wenn man sich für Russland interessiert.

(Roland Freisitzer; 03/2009)


Viktor Jerofejew: "Russische Apokalypse"
(Originaltitel "Russki apokalipsis")
Aus dem Russischen von Beate Rausch.
Berlin Verlag, 2009. 255 Seiten.
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Viktor Jerofejew, 1947 in Moskau geboren, gilt als einer der führenden Autoren Russlands. Er schreibt regelmäßig für für "Geo", "Die Zeit" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" sowie die "New York Review of Books" und den "New Yorker". Zudem ist er Herausgeber der ersten russischen Nabokov-Ausgabe.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Die Moskauer Schönheit"
Die laszive und korrupte Schönheit Irina, eine Femme fatale aus der Provinz, erobert Moskau unter Einsatz ihrer weiblichen Reize und genießt das süße Leben in vollen Zügen. Jerofejews kompromissloser wie kunstvoller Roman zeichnet das "Sittenbild" der privilegierten russischen Gesellschaft und provoziert durch die dunkle, groteske Ästhetik von Sex, Gewalt und Tod. Die Erzählerin Irina überzeugt als herrlich skandalöse Chronistin, die einen eigenen Platz neben den Emmas, Nanas und Mollys der Weltliteratur verdient. (Bvt Berliner Taschenbuch Verlag)
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 "Der gute Stalin"

Vatermord im Schatten Stalins. Viktor Jerofejews bewegende Doppelbiografie.
"Papa arbeitete im Kreml. Was er da eigentlich machte, wusste ich nicht so genau, aber wenn ich mit meinen Freunden am Kreml vorbeifuhr (im Winter bis über die Nase in Schals gehüllt, in Biberlammpelzen, Mützen, Filzstiefeln und mit Schäufelchen ausgerüstet, um im Gorki-Park im Schnee zu spielen), dann sagte ich sachkundig zu ihnen: 'Hier arbeiten mein Papa und Genosse Stalin.'"
Viktor Jerofejew wuchs im Herzen der politischen Macht auf, sein Vater gehörte zum Stalin'schen Hofstaat. Die Welt der privilegierten Herren porträtiert der Autor mit melancholischem Spott, zugleich wahrt er jedoch den Blick des Kindes, das nicht anders kann, als den Vater zu lieben. Letztlich aber ist dieser eindrucksvolle Roman die Geschichte der Geburt eines Schriftstellers und Dissidenten, die Geschichte des Triumphs der künstlerischen Freiheit - dank des politischen Mordes an seinem Vater wurde der Autor paradoxerweise ein freier Mensch. Dass ihm ebenjener "Ermordete" zur Seite steht, als die politische Verfolgung einsetzt, zeugt von der menschlichen Größe der Protagonisten dieses literarischen Zeitzeugnisses. (Bvt Berliner Taschenbuch Verlag)
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"Der Mond ist kein Kochtopf. Ein Russe auf Reisen"
In seinen Reisereportagen erweist sich Viktor Jerofejew als leidenschaftlichster Temperamentsautor Russlands.
Seine Stationen sind St. Petersburg, Japan, Südafrika, die Krim, Capri - und wo auch immer er aus dem Flugzeug steigt, saugt der an den Widersprüchen seiner Heimat geschulte Blick die Bilder der Fremde auf und wandelt sie um in Sprache, die Wort für Wort einer zutiefst russischen Seele entspringt. (Bvt Berliner Taschenbuch Verlag)
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"Die Akimuden"
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