Thomas Glavinic: "Das Leben der Wünsche"
Unsere
Vorstellungen von der
Wirklichkeit oder wissen ist besser als schätzen
"Der Wunsch ist ein Begehren oder Verlangen nach einer Sache
oder einer
Fähigkeit, ein Streben oder zumindest die Hoffnung auf eine
Veränderung der
Realität oder das Erreichen eines Zieles für sich
selbst oder für einen
anderen." So nüchtern ist es in der freien
Enzyklopädie "Wikipedia"
nachzulesen. Viele Philosophen, Psychologen und Literaten, aber auch
die
Religionen haben sich mit diesem menschlichen Phänomen
auseinandergesetzt. Epikur unterschied drei Arten: natürliche und
notwendige Wünsche, natürliche
und nicht notwendige Wünsche und nicht natürliche und
nicht notwendige Wünsche.
Sigmund
Freud
meinte, dass verdeckte Wunscherfüllungen in unseren
Träumen zutagetreten, und
Ludwig Wittgenstein beschreibt das Wünschen in seinen
"Philosophischen
Untersuchungen" als ein charakteristisches Erlebnis, wie
Wiedererkennen, sich Erinnern. Der Wunsch antizipiere die Zukunft, denn
er
scheine schon zu wissen, was ihn erfülle, meinte der
österreichische
Philosoph.
In der Literatur und ganz besonders im Märchen wird dem
Wünschen oft ein magischer
Charakter zuteil. Meist hat der Protagonist drei Wünsche
frei, deren Erfüllung ihm zugesichert und gewährt
wird. So beginnt auch Thomas
Glavinics Roman "Das Leben der Wünsche". Der
fünfunddreißigjährige
Familienvater Jonas, Texter in einer etwas chaotischen Werbeagentur,
wird in
seiner Mittagspause von einem diffusen Typen auf der Straße
angesprochen, der
ihn offensichtlich sehr gut zu kennen scheint. Zumindest weiß
er viele -
inklusive pikante - Details aus seinem Leben aufzuzählen, zu
denen auch die
intensive außereheliche Liaison mit mit der Flugbegleiterin
Marie zählt. Widerwillig lässt sich Jonas
von dem etwas eigenartigen Typen mit Goldkettchen, weißem
Anzug und Bierfahne
überreden, auf einer Parkbank Platz zu nehmen. Dort
überrascht ihn jener mit
der lächerlich erscheinenden Aussage:
"Jonas, ich erfülle Ihnen drei Wünsche."
Jonas, der an einen Scherz seiner Kollegen glaubt oder an einen
Erpresser, der
mit dem Wissen um seine private Situation einen Vorteil herausschlagen
will, tut
diese ungewöhnliche Aussage als Lächerlichkeit ab.
Doch sein diffuses Gegenüber gibt
nicht auf. "Ich bin keine Fee, und das hier ist kein
Märchen. Ich erfülle
Ihnen drei Wünsche. Nennen Sie sie!" Mehr in
Gedanken als bewusst
sinniert Jonas über die potenzielle Erfüllung seiner
Träume und
Begehrlichkeiten: "Ich könnte mir wünschen
zu erfahren, ob das Leben
einen Sinn hat. (...) Ich hätte gern mehr über den
Tod gewusst, ehe ich sterbe
(...) Aktiver zu sein, neugieriger, lebendiger. Neues auszuprobieren!
(...) In
Zukunft und Vergangenheit schauen. (...) Vor allem möchte ich
verstehen! Ich
will die Dinge und Verhältnisse verstehen, wenigstens ein
wenig, (...) Größe
könnte ich mir in meinem Leben wünschen, Dramatik und
Besonderheit (...) Ich könnte
mir einen sinnvollen Tod wünschen, damit er besser zu ertragen
ist ..."
Diese absonderlichen Gedankengänge sollen sich im Laufe der
Geschichte einstellen, mehr
langsam als plötzlich, mehr unbewusst als klar erkennbar. "Etwas
passiert, sagte er. Ich kann nicht erklären, was. Etwas geht
vor sich."
Jonas' bis dato eher dahinplätscherndes und bequem
eingerichtetes Leben nimmt
einen radikal anderen Verlauf. Die zu Beginn beschmunzelte, ja
zweifelhafte
Begegnung mit der "zauberhaften Fee" weicht einer erschreckend
realistischen Wirklichkeit, und deren märchenhafte
Versprechungen scheinen
ungeheuerliche Wahrheit zu werden. "Sein Leben schien
bisweilen
schneller abzulaufen, um urplötzlich zu stoppen und ihn etwas
Entscheidendes
behutsam erleben zu lassen. Bald darauf lebte er wieder wie vor einer
Kamera,
schnell, doch nicht schmerzlos." Schon bald schiebt sich eine
große
Wolke vor das sonnige Leben des Protagonisten, deren dunkle Schatten
nicht nur
Jonas, sondern auch den Leser mit hinab in den Abgrund
reißen, den die
Hauptperson erreichen wird. "Was da aufklaffte, war ein Tor
zum Grauen
selbst. Man konnte das Grauen vor sich haben, es betrachten, sich davor
ekeln,
sich davor fürchten, vor allem aber konnte man es sehen und
verstehen, dass es
existierte und nicht nur eine Geschichte aus Büchern und
Zeitungen war."
"Eine zufällige, lange, alte Sekunde, hier
und jetzt, jetzt und
einst, eine von Milliarden und Abermilliarden."
(Aus "Das Leben der Wünsche")
Gleichzeitig offenbart die Handlung eine wunderschöne
Liebesgeschichte, ohne
Pathos und Tand. Ein märchenhaftes Ende darf jedoch nicht
erwartet werden. Das hat der österreichische Autor schon in "Die
Arbeit der Nacht"
verweigert. "Das Leben der Wünsche" ist auf nahezu unheimliche
Art
und Weise mit diesem Roman verwoben und eine Lektüre des 2006
erschienenen
Buches nahezu ein Muss, um den imposant-brillant gespannten Bogen, der
beide
Werke verbindet - obwohl jedes Buch für sich steht -, zu
verinnerlichen und
fasziniert zu betreten. Ein Hinüberwechseln von A nach B ist
auf jedwede Manier
möglich, egal welchen Text man zuerst liest.
Wie ein Sog zieht das Geschehen den Leser ins Buch. Alles verschwimmt,
schiebt
sich ineinander, weich und kräftig, diffus und klar,
imaginär und wahrhaftig, "durchtanzt
von Farben und Geräuschen und Bewegungen".
Gefühle werden ausgelöst
und an die Oberfläche gezogen. Am Ende wird man nur
mühsam aus dem Text, der -
ganz Thomas Glavinic - viele Fragen offen lässt, auftauchen.
Und es braucht gewiss einige Zeit, die suggestive Gefangennahme, die
faszinierende Ergriffenheit, aber auch die irritierende
Verstörtheit abzuschütteln und sich aus dem Netz zu
befreien, das
der Schriftsteller unmerklich um den Leser legt. Ja, es braucht Zeit,
um wieder am realen Leben
teilzunehmen.
In einer nüchternen und beschreibenden, keineswegs jedoch
unverständlich-avantgardistischen,
sondern stets gut lesbaren Sprache ist Thomas Glavinic ein Wurf auf
literarisch
und stilistisch allerhöchstem Niveau gelungen.
Die Textpassage aus Roberto
Bolaños (1953-2003, chilenischer Schriftsteller)
"Der unerträgliche
Gaucho", die der österreichische Autor seinem Roman
vorangestellt hat,
trifft den Inhalt des vorliegenden Buches aufs Vortrefflichste: "Ich
nehme an, ich will sagen, dass Kafka
begriff, dass Reisen, Sexualität und Bücher Wege
sind, die nirgendwohin führen,
auf die man sich aber dennoch begeben muss, um sich zu verirren und
wiederzufinden oder um etwas zu finden, was auch immer, ein Buch, eine
Geste,
einen verlorenen Gegenstand, irgend etwas, vielleicht eine Methode, mit
etwas Glück:
das Neue, das, was immer schon da war."
(Heike Geilen; 08/2009)
Thomas
Glavinic: "Das Leben der Wünsche"
Gebundene Ausgabe:
Carl Hanser Verlag, 2009. 319 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Lisa"
Lisa, eine
Schwerkriminelle, begeht auf der ganzen Welt rätselhafte Verbrechen. Die
Zeichen mehren sich, dass ein Mann ihr nächstes Opfer wird: Sie ist bereits
in seine Wohnung eingebrochen. Doch sie bleibt unsichtbar, außer ihrer DNS
gibt es keine einzige Spur.
Verschanzt in einem verlassenen Landhaus, mit
reichlich Whiskey und Koks, spricht der Mann jeden Abend per Internet-Radio zu
einem virtuellen Publikum. Komisch bis zum bitteren Ende erzählt Thomas
Glavinic aus Österreich vom unsichtbaren Grauen der virtuellen Welt.
"Lisa" ist ein Meisterwerk zwischen Humor und Horror, ein
Psychogramm des Grauens. Denn Lisa ist überall. (Hanser)
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