Thomas Glavinic: "Wie man leben soll"


Das Leben eines Taugenichts

Als im Jahr 1986 die us-amerikanische Raumfähre "Challenger" 73 Sekunden nach dem Start explodiert, macht der Held von Thomas Glavinics Roman "Wie man leben soll" gerade seine ersten sexuellen Erfahrungen, und als das Space Shuttle "Columbia" 2003 ein ähnliches Schicksal erleidet, endet das Buch des österreichischen Autors.
In den dazwischen liegenden siebzehn Jahren begleitet der Leser - oder besser "man" - den beinahe ebenso katastrophalen Lebensweg des Protagonisten Karl Kolostrum. Behindert durch einige Kilos zuviel - sprich stark übergewichtig - und eine extrem unreine Gesichtshaut laviert sich Charlie, wie er genannt wird, mehr schlecht als recht durchs Leben. Er bringt die Schule hinter sich, studiert Kunstgeschichte - weil da die hübschesten Mädchen anzutreffen sind -, träumt von einer Karriere als Rockstar, landet aber letztendlich als Taxifahrer in Wien.

Familiär ist der Dicke gleichfalls nicht gerade mit einfühlsamen Familienmitgliedern gesegnet. Seine alleinerziehende Mutter ist alkohol- und tablettenabhängig, und der Rest der Sippe hat gehörig Haare auf den Zähnen. Gelegentlich ist er in seiner phlegmatischen und tollpatschigen Art Auslöser von Fehlleistungen, die eben besagten katastrophalen Ausgang nehmen und einige Verwandte frühzeitig dahinscheiden lassen. Dummerweise ist darunter auch seine Lieblingsgroßtante Ernestine, die ihn in finanzieller Hinsicht deutlich über Wasser hält. Da bleibt diesem mehrfach beeinträchtigten adoleszenten Burschen nur noch die geschlechtslose Form des Erzählens übrig: Er bzw. "man" oder besser Thomas Glavinic verlegt sich auf die dritte Person Singular, die Man-Erzählform.

Dies ist gewöhnungsbedürftig und sicher nicht jedermanns Sache. Thomas Glavinic äußerte sich in einem Interview dazu: "Am Anfang jeder Geschichte steht die Frage, wie man sie erzählen soll, aus welcher Perspektive man sich an den Stoff wagt. Für mich bestimmt der Inhalt die Form und nicht umgekehrt. So wie es zwei Arten von Schauspielern gibt, nämlich jene, die sich immer selbst spielen, und jene, die immer in ihre Rollen schlüpfen, so gibt es Autoren, die an ihrem Stil festhalten und ihn ihrem Stoff aufzwingen, und Autoren, die stilistisch mit ihrem Stoff 'mitgehen'. Ich gehöre zur letzteren, der kleineren Gruppe." Mit diesem ungewöhnlichen Kunstgriff parodiert der Autor in seinem Roman vor allem die moderne Ratgeberkultur. "Bloß: Die meinen es ernst", erklärt Thomas Glavinic.

Der Witz und die Ironie, die manch arge Situation überspielen, sollten jedoch wegen ihrer psychologischen Wirkung nicht unterschätzt werden, denn unter dem Deckmäntelchen der leichten Unterhaltung ist eine traurige, tiefschwarze Geschichte versteckt, die es in sich hat. "Wer mich nicht liebt, darf mich nicht beurteilen", sprach dereinst schon der alte Geheimrat Goethe aus. Und diesen Satz sollte "man" sich während der gesamten Lektüre vor Augen halten. Glavinic bewegt sich virtuos stets an der magischen Grenze, wo Humor ganz schnell in Tragik und Schmerz umkippen kann.

Fazit:
Mit einem eigenwilligen und originellen Duktus - selbstironisch und distanziert - trudelt Thomas Glavinic gekonnt durch das ewig adoleszente Stadium seines Protagonisten, jongliert gewitzt und spöttisch mit den Nöten und dem Selbstmitleid seiner Generation und nimmt gleichzeitig die moderne Ratgeberkultur auf den Arm. "Wie man leben soll" ist eine wunderbare Generations- und Gesellschaftssatire.
"Merke: Wenn es viele Wege gibt, aber nur einer der richtige ist, muss man sie alle gehen."

(Heike Geilen; 07/2009)


Thomas Glavinic: "Wie man leben soll"
dtv, 2004. 240 Seiten.
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