Thomas Glavinic: "Der Kameramörder"


Verschwinden der Realität im Rausch der Bilder

"Auf der Suche nach einer möglichen Sensation sind den Medien heute oft alle Mittel Recht. Ein selbstkritischer Zugang ist immer seltener vorhanden", stellt Peter Vitouch, Medienpsychologe und Professor am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien fest. Die Sensationsgier der Konsumenten tut ein Übriges.
Thomas Glavinic schildert und prangert diesen Medienrummel in seiner 2001 erschienen Novelle "Der Kameramörder" an.

Obwohl das schmale Büchlein recht harmlos beginnt - der Ich-Erzähler und seine Lebensgefährtin besuchen über Ostern ein befreundetes Paar auf einem Bauernhof in der westlichen Steiermark; man genießt das gesellige Beisammensein - ereignet sich schon bald eine unerhörte Begebenheit: ein Verbrechen, ein grausamer Mord an zwei Kindern, ganz in der Nähe. Die zwei Pärchen erfahren es über Teletext aus dem Fernseher. Schon bald hält die entsetzliche Tat ganz Österreich und Deutschland in Atem. Von überall her reisen Reporter, Fotografen und Kamerateams an. Das Fernsehen berichtet direkt aus dem Heimatort der Opferfamilie. Hier hat sich eine riesige Menschenmenge eingefunden, die schäumend vor Wut Vergeltung fordert. Zudem wurde die Ungeheuerlichkeit mit einer Videokamera gefilmt. Das Band befindet sich in den Händen eines deutschen Privatsenders, der es ausschnittsweise auszustrahlen gedenkt. Trotz diverser Protestaktionen vor dem Fernsehstudio fiebert die Masse, und mit ihr die vier Freunde, der angekündigten Ausstrahlung entgegen, changierend zwischen einer Mischung aus Abwehr und Sensationsgier. Der Ich-Erzähler berichtet minutiös, beinahe ohne Punkt und Komma, über das Geschehen und die schrecklichen Bilder des Mordvideos.

Thomas Glavinic treibt nicht nur mit seinen Figuren, sondern auch mit seinen Lesern ein psychologisch fintenreiches Spiel. Er berichtet im Stil einer reinen Nacherzählung. Die wörtliche Rede umgeht er komplett. Die Sprache ist knapp, Sätze im einfachen, völlig emotionslosen Stakkatostil; ein spröder, beinahe teilnahms- und emotionsloser, extrem sachlicher, von großer Pedanterie geprägter Protokollton, der in absolutem Gegensatz zur Dramatik und auch zur Grausamkeit der geschilderten Ereignisse steht, aber gerade dadurch eine kumulierende Wirkung hat. Der Autor erzeugt einen Sog, dem der Leser sich kaum zu entziehen vermag. Man fliegt durch die Seiten, um "die Bestie" enttarnt zu sehen. Und stellt sich dabei mehr als einmal die Frage, wie man selbst reagieren würde, wenn ... Trägt man als "Zuschauer" oder Leser nicht auch Schuld an den verwerflichen Auswüchsen der sensationslüsternen Medien? Ein dunkles Wechselspiel von Angebot und Nachfrage.

Der Autor erklärte dazu in einem Interview: "Mich hat die Konstellation fasziniert. Ich gehe generell davon aus, dass jeder Mensch ein Monster ist. Und dieses Monster ist in diesem Fall, in diesem Buch ja nicht der Kameramörder - der ist zwar auch ein Monster, aber der ist ein besonderes Monster und als solches nicht so gefährlich - sondern das wahre Monster, das sind die anderen. Das sind die vier Leute, die vor dem Fernseher sitzen, und die Leute, die in den Dörfern toben, damit sie den Kameramörder in die Finger bekommen. Und das ist eben die Frage, inwieweit man sich da jetzt als Leser innerlich distanzieren kann. Also ich zweifle daran. Ich habe schon einige Reaktionen gehört von Leuten, die sich nach der Lektüre überlegt haben, ob sie nicht möglicherweise nicht auch sehr monströs gehandelt haben, als sie dieses Buch gelesen haben."

Fazit:
"Der Kameramörder" ist ein sprachlich und stilistisch eindrucksvolles Psychogramm, das auf knapp 160 Seiten zu einem kulminierenden Höhepunkt geführt wird und buchstäblich mit dem letzten Satz in einem Knall zusammenfällt. Obwohl das Buch auf der "Criminale" 2002 in München mit dem "Glauser-Preis" ausgezeichnet wurde, ist es kein Krimi im engeren Sinn. Eher kann man den Roman als Satire auf unsere von den Medien bestimmte Welt und die Sensationslüsternheit der Menschen lesen.

(Heike Geilen; 08/2009)


Thomas Glavinic: "Der Kameramörder"
dtv, 2006. 160 Seiten.
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