Paolo Giordano: "Die Einsamkeit der Primzahlen"
Ein
äußerst unausgereiftes Debüt
Der Debütroman des 1982 in Turin geborenen Autors Paolo
Giordano erreichte in Italien im Jahr 2008 rekordverdächtige
Verkaufswerte, wurde in 26 Länder verkauft und ist nun auch in
deutscher Sprache erhältlich. Zusätzlich wurde der
Autor als jüngster Preisträger aller Zeiten mit dem
in Italien wichtigsten Literaturpreis, dem "Premio Strega",
ausgezeichnet.
Nach den beiden spannenden Eröffnungskapiteln, jeweils mit
offenem Ende, ist die Erwartungshaltung groß, da Paolo
Giordano mit diesen einleitenden Gesten die Bühne für
einen interessanten und spannenden Roman mit Tiefgang scheinbar frei
gemacht hat.
Das Schicksal der beiden Hauptprotagonisten ist schlimm.
Alice hat nach einem Skiunfall jegliches Vertrauen in ihren Vater
verloren, hat ein lahmes Bein und ist eindeutig
magersüchtig.
Ihr Kontakt zu anderen Menschen beschränkt sich auf ihre
Familienmitglieder und zufällige Wortwechsel in der Schule.
Sie strebt den Kontakt zu einer Zicken-Vierergruppe an, die
für das Ansehen in der Schule maßgebend
verantwortlich ist.
Der hochbegabte Mattio ist seit dem von ihm verschuldeten Verschwinden
seiner Zwillingsschwester kommunikationsgestört und kann an
keiner Schule Fuß fassen. Sein Hang zur
Selbstverstümmelung ist dabei keine große Hilfe.
Im Alter von sechzehn Jahren lernen sich die beiden in der Schule
kennen und werden ab diesem Moment zu stillen, geheimen
Weggefährten. Gefährten in der Einsamkeit.
Leider beginnt der Roman hier zu schwächeln. Paolo Giordano
streut einfach zu viel Salz in diese Suppe, er würzt zu stark
und tappt bedauerlicherweise in alle möglichen Klischeefallen,
die diesem Roman jede psychologische Tiefendeutung absprechen.
Der einzige, wenn man es so nennen darf, Freund Mattios an der neuen
Schule ist selbst kommunikationsgestört und geheim in Mattio
verliebt, leidet an seiner aufkeimenden Homosexualität, die
sich nach dem Schulabschluss in der Herrentoilette eines schmuddeligen
Schwulenklubs entlädt. Warum muss der Klub eigentlich
schmuddelig sein? Wieso freiwilliger Oralsex am schmutzigen Herrenklo?
Wieso ist der für diesen Akt der homosexuellen Deflorierung
einspringende zufällige Partner unrasiert, unangenehm riechend
und mit unvollständigem Gebiss?
Das Thema und die Geschichte der beiden durch Unfälle und
Widrigkeiten des Lebens verkappten Jugendlichen wäre ja per se
sehr interessant, wenn Paolo Giordano nicht immer an der
Oberfläche treten würde. So ist die Entwicklung der
beiden Protagonisten dieses Entwicklungsromans mit ständig
vorhersehbaren Wendungen durchsetzt. Mattio und Alice schrammen immer
aneinander vorbei, sie können nicht ohne einander, aber den
Weg zum Anderen, den finden sie nicht. Das geschieht in einer Art und
Weise, die an die peinlichen Missverständnisse, Verwechslungen
und unausgesprochenen Unklarheiten aus einer brasilianischen Telenovela
oder einer Seifenoper vom Schlage "Reich und Schön" erinnert.
So verhält es sich auch mit den Übergängen
von Kapitel zu Kapitel. Jedes Kapitel endet mit einem unheilschwangeren
oder verheißungsvollen Satz. Das ist bei der großen
Anzahl von kurzen Kapiteln bald als billiger Effekt oder Trick
abgenutzt.
Der spießige Vater von Alice, von Beruf natürlich
Rechtsanwalt, die tödliche Krebserkrankung von Alices Mutter,
das südamerikanische Hausmädchen, die böse
Vierer-Mädchenclique, das Verhalten von Mattios Eltern, seiner
Lehrer, seiner Professoren: ein Klischee jagt das andere. Was
allerdings nicht passiert, ist eine plausible Erforschung der Innenwelt
der Protagonisten, ein Durchleuchten der Seelenzustände. Die
Protagonisten, die wir vom Kindesalter bis zum Erwachsenenalter
erleben, bleiben leider absolut ohne Kontur und eindimensional farblos.
Alice und Mattio wollen einander, oder doch nicht?
Ein junger Arzt beginnt Alice zu umgarnen, während Alice genau
zu diesem Zeitpunkt Mattio zum ersten Mal küsst, der deshalb
geneigt ist, eine Professur an einer Universität im Norden
Europas (Genaueres erfährt man nicht) nicht anzunehmen und in
Italien zu bleiben, in der Nähe von Alice. Als er Alice bitten
will, unter Umständen mit ihm zu gehen, eröffnet sie
ihm (ohne ihn ausreden zu lassen ...), dass sie einen Freund hat, einen
Arzt. Dadurch gehen die beiden getrennte Wege. Alice heiratet den Arzt,
der aus Sorge um Alices Gesundheit nur Alices Undank erntet und bald
Vergangenheit ist. Alice hat generell eine Tendenz zu gemeinen
Aktionen, wie die Erpressung, oder Nötigung der
Haushälterin (die mit dem Wissen von ihrer einzigen sexuellen
Eskapade zu einer Unterschrift genötigt wird). Mattio
unterrichtet an der Universität in "Nordeuropa" und trifft
dort einen Italiener, der ihn bald mit Nadia bekannt macht, mit der er
am selben Abend noch (nachdem er es im ersten Vierteljahrhundert seines
Lebens auf nur einen Kuss gebracht hat) Sex hat, kann sich aber auch
für Nadia nicht entscheiden, da er eigentlich irgendwo an
Alice denkt.
Die weiteren Verirrungen dieses Romans sind dann das
Sahnehäubchen auf dieser von Kitsch triefenden Torte; Alice
rächt sich als Hochzeitsfotografin an ihrer Peinigerin in der
Schule und meint, die verschwundene Zwillingsschwester von Mattio
entdeckt zu haben. Mattio kommt, auf einen minimalistischen Brief von
Alice hin, mit dem nächsten Flugzeug angeflogen, und Paolo
Giordano, siehe da, verweigert dann doch ein glückliches Ende.
Wenn das nicht nach einer Fortsetzung ruft ...
Paolo Giordanos Prosa ist einfach, mit flapsigen Einlagen, leider immer
wieder inkonsequent, was aber wahrscheinlich nicht an der
Übersetzung liegt. Man möchte dem Autor mitteilen,
dass weniger auch mehr sein kann.
Große Literatur hat oft das "Problem", dass die Geschichte,
das Thema des Romans, relativ einfach oder gar banal ist. Man nehme nur
"Liebe in Zeiten der Cholera". Ein Roman, der seine literarische
Qualität aus der Prosa von
Gabriel
García Márquez gewinnt. Die Geschichte
selbst wäre, wenn aus anderer Feder, reinster Kitsch; den
Beweis lieferte erst vor einigen Jahren die Verfilmung.
"Die Einsamkeit der
Primzahlen"
ist ein Buch, dessen rasanter und vehementer Erfolg mir etwas
rätselhaft erscheint, da mir der objektive Grund dieses
Erfolgs nicht ersichtlich ist. Ein mittelmäßiges
Buch, stilistisch fragwürdig, mit Klischees
überladen, ohne Tiefenzeichnung, mit abfallender Spannung,
literarisch nicht beeindruckend, aber als Ausgangspunkt und Vorlage
für einen Film wahrscheinlich sehr gut geeignet.
(Roland Freisitzer; 09/2009)
Paolo
Giordano: "Die Einsamkeit der Primzahlen"
(Originaltitel "La solitude dei numeri primi")
Aus dem Italienischen von Bruno Genzler.
Blessing, 2009. 364 Seiten.
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Hörbuch
(gekürzte Lesung):
Sprecher: Daniel Brühl.
Randomhouse Audio, 2009. 6 CDs, Laufzeit ca. 420 Minuten.
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Weitere
Buchtipps:
Margit Knapp, Maria Carmen Morese (Hrsg.): "Turin. Eine literarische
Einladung"
Italiens Literaturmetropole: Der Einaudi-Verlag wurde hier
gegründet, Natalia Ginzburg,
Cesare
Pavese,
Italo
Calvino, Norberto Bobbio, Primo Levi schrieben in Turin, und
auch heute lebt die Literatur in der Stadt: von
Alessandro Baricco bis Dario Voltolini.
Turin ist die spannungsreichste Stadt Italiens: einerseits die
bürgerliche schöne Barockstadt mit den ockerfarbenen
Arkaden, andererseits die Industriemetropole, die Stadt von "Fiat" und
"Juventus". Von Turin ging unter Graf Cavour und
Giuseppe Garibaldi 1861 die Einigung Italiens aus.
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verändert. Von den neuen Treffpunkten an den Ufern des Po, den
Arbeitsbedingungen bei "Fiat" heute, dem sonderbaren Wahrzeichen Mole
Antonelliana, von Porta Palazzo, dem größten Markt
Europas, vom Flohmarkt Balón, wo Piemontesen und Immigranten
aufeinander treffen, und von vielem Anderen erzählen die Texte
der jüngeren Autorinnen und Autoren Elena Loewenthal,
Alessandro Baricco, Giuseppe Culicchia, Dario Voltolini, Paola
Mastrocola, Enrico Remmert und Giorgio Olmoti. (Verlag Klaus Wagenbach)
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Sibylle
Geier: "Piemont, Aosta-Tal"
Den Nordwesten Italiens mit diesem umfassenden Reiseführer
individuell
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Die schönsten oberitalienischen Landschaftsbilder sind in
dieser Region
vereint: die südländisch anmutenden Ufer des Lago
Maggiore, das flache Land
mit seinen endlosen Reisfeldern und historischen Städten, die
Weinbaugebiete in
den Hügeln von Monferrato und Langhe sowie zahlreiche
große und kleine Alpentäler.
Die gemeinsame Herrschaftsgeschichte der Savoyer verbinden das
Piemont mit der
Bergregion Aostatal.
Die lebhafte Kulturmetropole Turin mit ihren weiten Plätzen,
herrschaftlichen
Palästen und Kirchen, Museen und prächtigen
Königsschlössern ist nicht nur für
Kunstinteressierte eine Reise wert.
Detaillierte Informationen und Beschreibungen der landschaftlichen und
kulturellen Höhepunkte, zahlreiche Einkaufs-, Gastronomie- und
Übernachtungsempfehlungen,
ausführliche Kapitel zu Geschichte, Kultur, Land &
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Hintergrundgeschichten, eine kleine Sprachhilfe Italienisch sowie
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Karten und Stadtpläne machen diesen Reiseführer zu
einem unentbehrlichen
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Carsten
Sebastian Henn: "Blut & Barolo. Ein Hundekrimi aus
dem Piemont"
Es herrscht klirrende Kälte in und um Turin, als das
weltberühmte
Grabtuch
geraubt wird. Beherzt machen sich die beiden vierbeinigen
Spürnasen Niccolò
und Giacomo auf die Suche nach den Tätern - und
geraten selbst in
tödliche Gefahr
Seit Jahrhunderten schon stehen die Pharaonenhunde vor dem Turiner
Grabtuch im
Duomo di San Giovanni Wache, eine ehrenvolle Aufgabe. Der unerfahrene
Amadeus
hat seinen Dienst gerade erst angetreten, da wird das Tuch geraubt. Nun
wird er
von seiner stolzen Sippe verstoßen. Zum Glück helfen
ihm die beiden
liebenswerten Schnüffler Niccolò und Giacomo, den
Tätern auf die Schliche zu
kommen. Giacomo gibt sich auf seine alten Tage zwar gerne einmal dem
Barolo hin,
aber auf seine hervorragende Nase ist noch immer Verlass: Im
Schlosspark von
Stupinigi nimmt er die Witterung des legendären Grabtuchs auf.
Doch wer steckt
hinter dem Raub? Für die schlauen Vierbeiner beginnt eine
wilde Jagd ... (List)
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Paolo Giordano: "Der menschliche Körper"
Eine Truppe junger Soldaten bricht nach Afghanistan auf. Sie chatten und telefonieren mit ihren Freundinnen und Frauen zu Hause, sehnen sich nach dem Vertrauten und sind doch auf der Suche nach neuen Herausforderungen.
Ihre Geschichte wird choral erzählt. Da ist Alessandro Egitto, Militärarzt und ungeliebter Sohn von ehrgeizigen Eltern. Da sind die Soldaten: René, der verantwortungsbewusste Zugführer, der naive Ietri, der politisch unkorrekte Cederna, Di Salvo, der sich vom Übersetzer mit Marihuana versorgen lässt, der Sarde Torsu, der mit der Unbekannten Tersicore89 im Chat Erotik sucht, die Soldatin Zampieri, die ihre Forschheit nur vorgibt.
Sie alle treffen Entscheidungen, deren Folgen sie ihr Leben lang nicht mehr loslassen werden. Denn es kommt der Moment, in dem sie aus ihren Sicherheitszonen herausmüssen: Die
Soldaten begleiten afghanische Lastwagenfahrer durch ein von den Taliban kontrolliertes Tal. Von da an verändert sich ihr Leben.
Nach dem Einsatz kehren sie zurück in eine ihnen fremd gewordene Welt. Wie können sie die, nach denen sie sich aus der Ferne sehnten, noch lieben?
Mit psychologischer Meisterschaft beschreibt Paolo Giordano, wie Gefühle entstehen. Ein existenzielles Buch voll emotionaler Kraft.
Paolo Giordano wurde 1982 in Turin geboren, wo er Physik studierte und mit einem Doktorat in theoretischer Physik abschloss, und wo er heute noch lebt. sein erster Roman "Die Einsamkeit der Primzahlen" war ein internationaler Riesenerfolg. Er wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt und verfilmt. Giordano erhielt dafür mehrere Auszeichnungen, darunter den angesehensten italienischen Literaturpreis, den "Premio Strega". (Rowohlt)
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