Aravind Adiga: "Zwischen den Attentaten"

Geschichten aus einer Stadt


Es ist ein großes Ereignis, wenn ein junger Autor seine literarische Karriere mit dem Erhalt des "Man Booker Prize" (2008) beginnt. Ist doch Aravind Adigas Debütroman "Der weiße Tiger" ein brillantes, originelles (mit einem der fulminantesten Eröffnungskapitel der letzten Jahre) und feines Buch, das diesen Preis verdientermaßen (wenn man davon absieht, dass großartige Romane von Peter Carey, Tim Winton, Andrew Crumey und James Kelman von der Jury nicht einmal für die Langauswahlliste nominiert wurden) gewonnen hat.
Mit "Der weiße Tiger" hat sich der 1974 in Madras geborene und in Mumbai lebende Autor die Latte allerdings sehr hoch gelegt.

"Zwischen der Attentaten" ist eine Sammlung von Prosaminiaturen, eine siebentägige Reise, die teilweise durch wiederkehrende Protagonisten, immer aber durch die Handlung in der zwischen Goa und Calicut liegenden fiktiven Stadt Kittur verbunden ist. Einschübe mit Informationen zur (ebenfalls fiktiven) Geschichte Kitturs (und realen Geschichte Indiens) runden das Bild ab.
Pro Tag werden daher ein bis vier Schauplätze in Kittur aufgesucht, die jeweils durch eine eigene Geschichte porträtiert werden.

Eine Idee, die der große indische Schriftsteller R. K. Narayan mit seinen "Malgudi Tales" schon vor einigen Jahren auf eindrucksvolle Art und Weise inszeniert hat.
Anders und auf beklemmende Weise virtuos hat der ebenfalls 1974 geborene Altaf Tyrewala vor ein paar Jahren in seinem Roman "Kein Gott in Sicht" die Stadt Mumbai porträtiert. Er ließ fünfzig Einwohner Mumbais in verzahnten, aber nicht aufeinander bezogenen Geschichten zum Spiegelbild Mumbais werden.

Beginnend mit der Bahnhofsgeschichte des jungen Moslems Ziauddin, der sich immer fügt, bis er merkt, dass er für widrige Zwecke benutzt wird, über Abbasis Auflehnung gegen die durch Bestechlichkeit glänzenden staatlichen Behörden, über den Verkäufer kopierter Bücher, über den ein kurzes Glück als Busschaffner verspürenden Jungen, über den an seiner eigenen Moral zugrundegehenden Lehrer D’Mello, über den an seiner verbissenen Suche nach der Wahrheit zugrunde gehenden jungen Journalisten; die unterhaltenden Geschichten wechseln sich ab, lassen aber mit der Zeit einen eher schalen Geschmack im Lesemund zurück, da die einzelnen Geschichten ein ähnliches Milieu erforschen. Dadurch entsteht eine Art Übersäuerung bzw. Überzuckerung, die durch eine besser aufgefächerte Anlage der Tage in Kittur einen spannenderen Lesefluss haben hätte können.

Hier ist auch der große Unterschied zu R. K. Narayan bemerkbar; während Narayans Malgudi eine Universitätsstadt mit einer gehörigen Portion Charme ist, ist Adigas Kittur eine im Sumpf der Bestechlichkeit und zwischenmenschlichen Grausamkeiten versinkende stinkende Moraststadt.
Während Narayan seine Figuren liebevoll in Szene setzt und dabei keine Unterschiede zwischen Bettler und Edelmann macht, geht Aravind Adiga mit unerbittlichem und kompromisslosem Blick vor. Er treibt seine Figuren an und lässt sie alle fallen, er lässt sie ihr kurzes Glück durch dumme Fehler schneller verlieren, als sie es erarbeiten konnten.

In einer Erzählung bietet der junge Kommunist und Schriftsteller Murali seine Erzählungen einem Redakteur an, der ihn nach seinem Lieblingsautor befragt; "'Guy de Maupassant'. Murali korrgierte sich: 'Nach Karl Marx.'
'Bleiben wir mal bei der Literatur', erwiderte der Redakteur.
'Jede Figur bei Maupassant ist so ... ' Er krümmte den Zeigefinger und ließ ihn wackeln. 'Sie will und will und will. Bis zu ihrem letzten Atemzug will sie. Geld. Frauen. Ruhm. Mehr Frauen. Mehr Geld. Mehr Ruhm. Aber ihre Figuren', er streckte seinen Finger wieder, 'wollen rein gar nichts. Sie laufen einfach durch eine genau beschriebene Dorfatmosphäre und sind tief in Gedanken versunken. Sie laufen zwischen Kühen und Bäumen und Hähnen herum und denken nach, und dann laufen sie weiter zwischen Hähnen und Bäumen und Kühen herum und denken noch mehr nach. So ist das.'
'Sie denken darüber nach, wie man die Welt verbessern kann', protestierte Murali. 'Sie sehnen sich nach einer besseren Gesellschaft.'"


Aravind Adigas Figuren "wollen", manche denken auch nach, nicht alle wollen die Gesellschaft verbessern, oder träumen nur davon ohne etwas dafür tun zu wollen. Aravind Adiga geht hart mit ihnen um, er zeigt keine Spur von Mitleid, man spürt keine Empathie, mitunter meint man fast, Aravind Adiga würde sich über die Dummheit und Tollpatschigkeit seiner selbst erschaffenen Protagonisten amüsieren, er vergibt konsequent keine zweiten Chancen und zeichnet ein buntes, aber durchaus trauriges Bild einer Gesellschaft.
Dadurch entsteht ein durch und durch trostloses Bild, das mit den letzten Geschichten gegen Ende hin aber eine große Steigerung erreicht.

Diese Steigerung versöhnt, regt auch zum wiederholten Lesen einiger Erzählungen an, kann aber den insgesamt etwas lauen Nachgeschmack nicht ganz verdrängen.

"In einer Hölle wie dieser muss selbst Gott laut schreien, um sich bemerkbar zu machen", klagt in Altaf Tyrewalas Roman "Kein Gott in Sicht" ein Metzger auf einem überfüllten Marktplatz. In "Zwischen den Attentaten" fehlt dieser schreiende Gott, fehlt der Glaube an einen (welchen auch immer) Gott, an ein Etwas, und vor allem fehlt fast allen Protagonisten das notwendige Selbstvertrauen, um dem Leser wenigstens ansatzweise das Gefühl zu geben, er oder sie hätten eine (wenn auch geringe) Chance, sich in Kittur zu behaupten und einen (wenn auch unbedeutenden) Sieg gegen die Widrigkeiten zu erringen.

Aravind Adiga ist eine große Hoffnung für die indische Literatur, ein besonders talentierter Autor, der sicherlich noch brillante und wichtige Bücher schreiben wird. "Zwischen den Attentaten" ist ein Intermezzo; gut, jedoch mit Abstrichen.

(Roland Freisitzer; 08/2009)


Aravind Adiga: "Zwischen den Attentaten. Geschichten aus einer Stadt"
Übersetzt von Klaus Modick.
Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2009. 384 Seiten.
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Hörbuch:
DAV, 2009.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 384 Seiten.
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