Uwe Tellkamp: "Der Turm"

Geschichte aus einem versunkenen Land


... aber dann auf einmal - Ein Turm der Fluchten

John Cage meinte seinerzeit, "ein zeitgenössisches Musikstück mit einer Spieldauer von über fünfzehn Minuten müsse einen wirklich guten Grund haben, um zu existieren".
Beim Lesen von Uwe Tellkamps "Der Turm" habe ich sehr oft an diesen Satz gedacht. Ich war aber auch immer wieder fasziniert, beeindruckt und mitgerissen.
Uwe Tellkamp riskiert in seinem Roman sehr viel, er will auch viel, vielleicht zu viel, vielleicht ist dieser Roman einfach ein paar Jahre, ein paar Bücher zu früh entstanden.

Der Beginn, eine "Ouvertüre" (Wagners "Rheingold"-Vorspiel stand hier sichtlich Pate), beginnt pathetisch, künstlich komplex, es entsteht fast der Eindruck, Uwe Tellkamp will den Leser auf die Probe stellen, bzw. manchen Leser vielleicht auch loswerden. Er konstruiert seinen Turm, er baut sein Werk sukzessive auf und leistet sich dabei aber leider entscheidende Fehler, die das Bauwerk in der zweiten Hälfte einstürzen lassen. Den Fehler nämlich, seine Konstruktion (wie die Geschichte der Schmetterlinge, die sich auf einer Elbinsel in einem fantastisch anmutenden Teil entwickelt und die Tellkamp virtuos mit den Bewohnern des Turms in Verbindung bringt) und Perfektion so zur Schau zu stellen, dass man als Leser permanent dazu geneigt ist, selbst die Flucht zu ergreifen.

Der Gewinner des "Bachmann-Preises" 2004 überlädt nämlich seine Prosa mit Adjektivpartizipien, er überlädt sie mit überlangen Sätzen und stört genau dann vehement den Lesefluss, wenn man als vermeintlich glücklicher Leser gerade in einen Sog gezogen wurde. Ständig sucht man nach einem Grund, abgelenkt zu sein, etwas Anderes zu machen, als diesen Turm weiter zu erklimmen. Prosa, die einerseits faszinierend, andererseits nervend ist. Eine Art zu schreiben, die im "Eisvogel" des Öfteren, wenn auch immer wieder irritierend, sehr gut funktioniert hat, nur hatte der keine 975 Seiten.

Die Handlung setzt an einem kalten 4. Dezember im Jahr 1982 in Dresden ein, die Geburtstagsfeier des Chirurgen Richard Hoffmann, im Mittelpunkt die Mitglieder der Familie Hoffmann, das bindende Element die Deutsche Demokratische Republik. Schon in diesen frühen Kapiteln ist man knapp davor, aufzugeben, und wenn man an die noch bevorstehenden ca. 930 Seiten denkt, breiten sich Furcht und Ehrfurcht aus.

Brillant jedoch beschreibt Uwe Tellkamp Dresden, ja er lässt den Leser Dresden sehen, riechen und fühlen, er lässt ihn Dresden spüren und führt ihn in die achtziger Jahre, in ein Dresden, wie es heute gar nicht mehr existiert, zurück.

Christian Hoffmann, den wir zu Beginn als pickeligen, schüchternen und unsicheren jungen Mann erleben, ist einer der Hauptprotagonisten dieses Kaleidoskops der Fluchten. Wir folgen seinem Werdegang, seinem Streben nach Liebe, nach Wissen und der Erfahrung des Prinzips der Aufrichtigkeit. Die Suche funktioniert nur durch das Prinzip des Fliehens. Symptomatisch ist die Flucht in den Dienst der Armee (die ihn fast zerstört) um den angestrebten Studienplatz zu erhalten.

Ein weiterer Protagonist ist Christians Onkel, der Lektor und Einzelgänger Meno Rohde, der aus den Kreisen der sozialistischen Aristokratie flieht, indem er sich immer weiter in sich zurückzieht und fast zwischen seinen Büchern und Manuskripten entschwindet.
Auch Christians Vater, der berühmte und beliebte, gesellschaftlich hoch angesehene Chirurg Richard Hoffmann, flieht. Er entflieht jeden Donnerstag seiner Frau, schwimmen wie er beteuert, in Wahrheit jedoch zu seiner zweiten Familie, der er sich nach wenigen Stunden schon wieder entzieht. Bis er von der Stasi erpresst wird und er seine beiden Familien durch seine amourösen Eskapaden dadurch fast zu Fall bringt.

Uhren ticken, unheilschwangere Symbole ziehen sich durch diesen riesigen Roman, den man mögen will, ja den man sogar großartig finden will, man spürt die Hingabe des Autors, sein profundes Wissen, seine stupende literarische Begabung und verzweifelt vielleicht gerade deshalb so sehr an diesem vorgeführten Scheitern.
Der stärkste Teil dieses "Turms" ist (neben den Passagen mit direkter Rede) der Schlussteil, ein Teil, der sich wie eine in sich zusammenfallende Partitur liest, mit Elementen (... aber dann auf einmal ...), die eine verlangsamende Wirkung haben, die die Struktur aufbrechen, die ein quasi pausendurchtränkter Abgesang sind, eine weitere Flucht in diesem Turm der Fluchten.

Am Ende flüchtet auch der Autor, indem er seinen Protagonisten die Genugtuung des Zusammenfalls der DDR nicht mehr gönnt, was symptomatisch für das ganze Buch ist. Gewagt ist es, über lange Strecken sympathisch, unsympathisch nervend, groß, zeitweise banal überzeichnet, überladen, wunderbar konstruiert, schön, grausam, Wortmusik, schrille Kakofonie - all das ist "Der Turm".

Und obwohl ich vor Uwe Tellkamps Können, seinem Mut und diesem Buch ehrfürchtig meinen Hut ziehe, bleibe ich dabei und sage mit ehrlichem Bedauern im selben Satz, dass diese "Geschichte aus einem versunkenen Land" als Gesamtwerk nicht funktioniert und daher, passend zum ganzen Buch, auf eine eigene Art und Weise flieht.

(Roland Freisitzer; 10/2008)


Uwe Tellkamp: "Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land"
Gebundene Ausgabe:
Suhrkamp, 2008. 975 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Suhrkamp, 2010.
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Hörbuch:
der Hörverlag, 2010.
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