Dag Solstad: "Armand V."

Fußnoten zu einem unausgegrabenen Roman


Fußnoten abseits ausgetretener literarischer Pfade

"Ist ein Roman etwas, das bereits geschrieben wurde, und der Schriftsteller nur derjenige, der es findet und mühsam ausgräbt?" So fragt der Autor in einer Fußnote, der fünften von insgesamt 99 Fußnoten zu einem unausgegrabenen Roman über seinen Helden Armand V. Es handelt sich bei "Armand V." also gar nicht um einen Roman im eigentlichen Sinne, sondern lediglich um Fußnoten beziehungsweise Kommentare zu Armands Leben, zum Roman seines Lebens, der wohl schon geschrieben, aber noch nicht ausgegraben wurde, da der Autor sich " geweigert hat, in ihn hineinzugehen und ihn zu seinem zu machen", wie Dag Solstad sich auszudrücken beliebt. An anderer Stelle gesteht er, dass er anscheinend nicht länger an das Werk glaubt und sich folglich damit begnügen muss, die Fußnoten dazu zu notieren. Im gleichen Zusammenhang steht die Fußnote 83: "Meine Zeit ist vorbei, das kann ich akzeptieren, aber nicht, dass ich in den ungeschriebenen Roman hineingehe, ihn hervorhole und sehe, dass das Resultat den Anforderungen nicht gerecht wird. Meinem Standard nicht standhält. Meinem üblichen Standard. Ich glaube nicht, dass das Resultat schwach wäre. Nur etwas schwächer als mein normaler Standard. Das ertrage ich nicht. Das ist nicht mein Stil."

Also hat Dag Solstad aus der Not eine Fußnote gemacht. Darf sein Fußnoten-Experiment demnach als gelungen betrachtet werden? Ich bin mir nicht ganz schlüssig. Auf jeden Fall führt der Autor seinen Leser auf interessantes, neu zu erkundendes Terrain, ein wenig abseits der ausgetretenen literarischen Pfade gelegen. Und doch ... unter dem Strich waren diese " Fußnoten zu einem unausgegrabenen Roman" für mich schon etwas enttäuschend. Eine Enttäuschung allerdings, die sich bei mir schon des öfteren während der Lektüre von Werken hochgelobter und hochdekorierter Gegenwartsautoren eingestellt hat. Trotz aller Vorschusslorbeeren, die das Buch schon geerntet, trotz der Auszeichnungen und Preise, mit denen Dag Solstad dekoriert wurde, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass es hier doch gilt, überzogene Maßstäbe wieder ein wenig zurechtzurücken.

Worum geht es also in diesen "Fußnoten zu einem unausgegrabenen Roman"? Die Fußnoten ranken sich um den Titelhelden Armand V., einen norwegischen Diplomaten, und um dessen Verhältnis zu seinem Sohn; eine Beziehung, die nicht ganz spannungs- und problemfrei ist. Als Armand eines Tages seinen Sohn besuchen will, wird er unfreiwillig Zeuge, wie sich dieser, in Unterhosen kniend, vor einer jungen Frau erniedrigt. Peinlich berührt, schleicht sich Armand davon, ohne aber seine Anwesenheit verraten zu haben, doch das erniedrigende Bild lässt ihn fortan nicht mehr los. Beim nächsten Besuch kommt es jedoch noch schlimmer. Der Sohn hat überraschenderweise sein Studentenleben aufgegeben und präsentiert sich dem Vater in Uniform. Armands Sohn ist in die norwegische Armee eingetreten. Zitat: " Das erniedrigende Bild hatte sich in Blut aufgelöst." Ein Mensch in Uniform ist also für Armand grauenhafter und erniedrigender als ein Mensch in Unterhose. Und der Vater hatte auch bereits eine Vorahnung von dem, was ihn erwartete: "... wusste er doch, dass es die Wiederholung war, von der er an jenem Abend vor sechs Monaten so unvermutet Zeuge geworden war." Der Sohn aber geht noch weiter und meldet sich gegen Ende der Rahmenhandlung als Freiwilliger zu einer norwegischen Eliteeinheit, einer Einheit, die auch für Kriegseinsätze im Ausland vorgesehen ist, was der Vater, obwohl er im diplomatischen Dienst Norwegens tätig ist, zutiefst missbilligt. Nach einem solchen Einsatz kehrt der Sohn als blinder(!) Kriegsinvalide zurück, so dass sich des Vaters unheilvolle Vision, das Bild der Erniedrigung, das sich in Blut aufgelöst hatte, schließlich auf unheilvolle Weise bewahrheitet.

Darin besteht in etwa die Rahmenhandlung, die immer wieder durch Einschübe in Form neuer Fußnoten unterbrochen wird. Die siebte und längste dieser Fußnoten beinhaltet eine Art Verklärung des Studentenlebens und knüpft direkt an die Szene mit dem uniformierten Sohn an. Eine Horde von Studenten erinnert den Vater an "freie Vögel auf ihrem entschlossenen Flug zu einem ersehnten wärmeren Land." Dem wird das Zwanghafte und Erniedrigende (aus Sicht Armands und wohl auch aus Sicht des Autors) des Soldatenlebens gegenübergestellt. Über 62 Seiten erstreckt sich Fußnote sieben, was allein schon die Wertschätzung zeigt, die Solstad dem - vermutlich am Marxismus ausgerichteten - Studentenleben Armands beimisst. An späterer Stelle bekennt Dag Solstad denn auch, dass er, Solstad, Mitglied der Kommunistischen Partei ist. Es folgt noch eine längere Fußnote über N. und ihre Zwillingsschwester, bevor die Fußnoten dann kürzer, fußnotenhafter werden. N. wird Armands erste Frau, aber Armand braucht auch die Zwillingsschwester, um N. lieben zu können. Es handelt sich hier um eine doppelte Liebe, nämlich N. oben im Roman, die Zwillingsschwester unten in den Fußnoten. Ein Vexierspiel des Autors, das er immer wieder mit seinen Lesern treibt, indem er labyrinthische und enigmatische Verbindungen zwischen dem Oben des Romans und dem Unten der Fußnoten knüpft. Seine zweite Frau, die Mutter seines Sohnes, trifft Armand übrigens erst später. Und auch hier stoßen wir wieder auf die Verflechtung von Roman und Fußnoten. Im Kommentar, der Fußnote also, wird Armands zweite Ehe unkommentiert aufgelöst. Kommentiert wird die Fußnote dagegen oben im ungeschriebenen oder unausgegrabenen Roman, wie uns der Autor erläutert.

Es gibt Fußnoten zu den unterschiedlichsten Themen, die meisten befassen sich mit Armands Vergangenheit, mit seinem Diplomatenalltag, mit seinen Gedanken und Gefühlen. Daneben finden sich aber auch Fußnoten zu ehemaligen Jugendfreunden Armands, zu einem Mörder im Staatsgefängnis von Ohio, zu Luftschiffen und anderen Dingen, die manchmal wie eingeflickt, ohne organische Bindung an das Ganze wirken. Und mangels fruchtbarer Einfälle versanden einige der Fußnoten leider auch in purer Langeweile. Dem gegenüber stehen natürlich auch viele Kommentare, die Wertvolles und Nachdenkenswertes in sich bergen.

Ein wichtiger Punkt in Armands Leben wird erreicht, als er sich entschließt, in den Auswärtigen Dienst seines Landes (Norwegen) einzutreten, eines treuen Vasallenstaates der USA. Da wird seine persönliche Lage geradezu paradox. Sein ganzes Dilemma kommt in folgendem Zitat zum Ausdruck: "Immun und skeptisch gegenüber der amerikanischen Politik insgesamt, häufig auch voller Verachtung, aber er konnte seine Meinung nicht laut äußern." Um diese innere Zerrissenheit Armands dreht sich im Grunde der ganze Roman bzw. drehen sich die Fußnoten dazu. Es geht um den Spagat, seine innersten Überzeugungen mit den Erfordernissen, die Beruf und sozialer Status von einem fordern, zu verbinden. Ohne daran zu zerbrechen, ohne sich selbst zu verlieren. Und Armand stellt Betrachtungen an über "die Leere, das Unsichtbare (die Macht) und über deren Repräsentanten, Menschen, die sich in Bedeutsamkeit kleiden, als äußerst Sichtbare." Zuletzt erkennt Armand seine Verstrickung in die Macht als ein Mitläufer geradewegs in den Untergang hinein. Und er empfindet tiefes Entsetzen ob dieser Verstrickung. Somit steht er stellvertretend für beinahe jeden von uns, denn jeder muss sich seiner persönlichen Verstrickung in die Macht- und Gesellschaftsstrukturen bewusst werden, ob nun vorne in der Leithammelfunktion (wo die Illusion von Macht besonders stark ist), ob mittendrin oder ob hintendran, wo die Illusion von Macht vielleicht sogar noch größer ist als vorne. Dies scheint mir eine Kernaussage des Romans zu sein.

Am Ende lässt sich Dag Solstad noch zu einer Niveauentgleisung hinreißen, als er seinen Anti-Amerikanismus wohl nicht mehr zügeln kann und dem us-amerikanischen Botschafter einen Schweinskopf andichtet. Und er stattet ihn in seiner Beschreibung nicht nur mit einem Schweinskopf aus, er lässt ihn dazu sogar noch quieken, nachdem er auf der Toilette direkt neben Armand seine Blase in die Pissrinne entleert hat. Und Dag Solstad geht noch weiter: "So wie die Welt nun einmal war, erstaunte es sie nicht, dass ein amerikanischer Botschafter, man könnte fast sagen, überall auf der Welt mit einem Schweinskopf auftrat."

Mein abschließendes Fazit bleibt gespalten. Gewiss ist Dag Solstad ein international anerkannter Literat und ein großer Erzähler, doch möchte ich "Armand V." nur bedingt als gelungen betrachten, und dies nicht allein wegen der ideologischen Überfrachtung, die diesem Werk leider innewohnt.

(Werner Fletcher; 08/2008)


Dag Solstad: "Armand V. Fußnoten zu einem unausgegrabenen Roman"
(Originaltitel "Armand V. - Fotnoter til en uutgravd roman")
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Dörlemann, 2008. 288 Seiten.
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