Orhan Pamuk: "Das Museum der Unschuld"
Eine
nie ganz erfüllte Liebe in einer Türkei der sich
wandelnden Werte
Kemal, Angehöriger der "Jeunesse dorée" des
Istanbuls der 1970er-Jahre, steht kurz vor der Verlobung mit Sibel,
einer attraktiven, sympathischen jungen Frau aus seiner
Gesellschaftsschicht, die ihre westlich orientierte Weltoffenheit auch
dadurch demonstriert, dass sie noch vor der Verlobung mit ihm
schläft.
Als Kemal in einem Modegeschäft seiner entfernten
achtzehnjährigen, mittellosen Verwandten Füsun
begegnet, die er lange nicht mehr gesehen hat, schlägt das
Begehren wie ein Blitz in ihn ein: Füsun hat sich zu einem
wunderschönen jungen Mädchen entwickelt. Es gelingt
Kemal, die Jungfrau Füsun zu verführen, und beide
genießen die Freuden der körperlichen Liebe
unbeschwert, glücklich und fast jeden Tag in einer Wohnung,
die Kemals Mutter gehört und bislang nur zur Aufbewahrung
nicht mehr benötigten Plunders diente.
Für Kemal könnte dieses behagliche Doppelleben auch
nach Verlobung und Hochzeit so weitergehen, doch Füsun
verschwindet unmittelbar nach der Verlobung von Kemal und Sibel. Kemal,
für den die Beziehung zu Füsun ursprünglich
eine ganz körperliche Angelegenheit war, begreift, dass sie
die Liebe seines Lebens ist, und er wird krank vor Sehnsucht. Sein
Leben gerät völlig aus den Fugen. Lange versucht
Sibel vergeblich, ihre
Selbstachtung nach und nach verlierend - zumal
Kemal sich ihr auch in erotischer Hinsicht verweigert -, ihn zu
stützen und wieder zu sich zu bringen. Schließlich
tut sie den überfälligen Schritt und trennt sich von
Kemal, wodurch sie freilich, ihrer Jungfräulichkeit beraubt,
das Ansehen innerhalb ihrer Gesellschaftsschicht
einbüßt.
Kemal gelingt es, wieder Kontakt zum Gegenstand seiner obsessiven Liebe
zu gewinnen. Über acht Jahre lang besucht er fast jeden Abend
Füsun, ihre Eltern und deren hastig angetrauten Ehemann
Feridun, einen verhinderten Filmdrehbuchautor.
Beide, Kemal und Feridun, tun so, als ob sie Füsun zu der von
ihr seit langer Zeit angestrebten Filmkarriere verhelfen wollten, und
sind doch aus Eifersucht nicht dazu bereit. Füsun durchschaut
dies. Sie straft Kemal für den Verlust ihrer Unschuld, indem
sie ihn abwechselnd ignoriert, verletzt, kurzzeitig ins Vertrauen
zieht, erniedrigt, ermutigt und vor allem hinhält.
Schließlich lässt sie sich scheiden und ist mit
einer Verlobung mit Kemal einverstanden. Alles scheint sich zu einem
glücklichen Ende hin zu entwickeln, doch Kemal ist keine
dauerhafte Erfüllung vergönnt.
Der Museumsgedanke wird im Roman schon frühzeitig aufgeworfen,
denn von Anfang an präsentiert der Ich-Erzähler -
zunächst spielt Kemal diese Rolle – Exponate, die im
Verlauf der Erzählung in Erscheinung treten. Diese Exponate
sind Teil von Füsuns Alltagsleben und der gemeinsamen
Liebesgeschichte. Zunächst handelt es sich um Relikte aus der
Zeit des unbeschwerten Liebesabenteuers in der Wohnung von Kemals
Mutter, zum Beispiel von Füsun gerauchte Zigarettenkippen oder
Gläser, aus denen sie getrunken hat. Später entwendet
Kemal mehr oder weniger offen allerlei Gegenstände aus dem
Haushalt von Füsun und ihren Eltern: kitschige Porzellanhunde,
Salzstreuer, die Füsun berührt hat, Haarspangen und
vieles mehr, was scheinbar keinerlei Bedeutung besitzt.
Als endgültig erkenntlich wird, dass es keine gemeinsame
Zukunft geben wird, besucht Kemal eine Fülle von kleinen
westlichen Museen und erkennt, dass sein Gedanke, ein Museum der
Unschuld zu errichten, keineswegs die Laune eines psychisch Kranken,
Besessenen darstellt. Er legt seine ganze Kraft in diesen Plan und kann
zum Schluss sagen, obwohl der Leser ihn eigentlich als einen auf der
ganzen Linie Gescheiterten ansehen müsste: "Jeder
soll wissen, dass ich ein glückliches Leben geführt
habe."
Somit erfüllt sich auch der bedeutungsschwere erste Satz des
Romans: "Es war der glücklichste Augenblick meines
Lebens, und ich wusste es nicht
einmal."
In diesem Augenblick schläft Kemal leidenschaftlich mit
Füsun. Er, der einfach ihre Hingabe und ihren Körper
genießt, begreift nicht einmal ansatzweise, was sie ihm
opfert. Ihre Unschuld, ihre Jungfräulichkeit hat im Istanbul
der 1970er-Jahre einen enormen Stellenwert, auch wenn moderne junge
Frauen dieser Zeit versuchen, sich von der Tradition zu lösen.
Wie Sibel vertrauen sie auf den "Anstand" ihres Partners, und wenn er
derselben Schicht entstammt wie sie selbst, sind sie meistens auf der
sicheren Seite. Füsun muss von Anfang an gewusst haben, dass
sie kaum eine Chance hat. Füsun liebt. Und Füsun
straft. Mit Feridun führt sie eine Art Josefsehe, aber sie
hält in dieser Zeit Kemal nicht ohne Grausamkeit und
Berechnung auf Abstand, gelegentlich eine winzige Gunst
gewährend, und er begnügt sich damit, sie ansehen zu
dürfen.
Eine solche Geschichte würde aus der Feder der meisten anderen
Autoren rührselig, peinlich und unglaubwürdig wirken.
Orhan Pamuk verleiht ihr einen zeitlosen Zauber. Er lässt jene
Phase in der Kulturgeschichte der Türkei auferstehen, in der
junge Reiche auf Biegen und Brechen den Westen imitieren
möchten und doch fest mit der Tradition und ihrem Glauben
verhaftet sind. Voll leiser, mitunter durchaus an Sarkasmus grenzender
Ironie beschreibt Orhan Pamuk diese Entwicklung, eingebettet in
üppig-orientalische Erzählungsepisoden und doch nie
ausschweifend.
Dass er sich selbst einbringt in den Roman und unmittelbar zu einer
zentralen Figur darin wird, ist ein
außergewöhnlicher und kühner Kunstgriff,
der jedoch überaus gut gelingt. Vor allem wird er zu einem
Advokaten des Protagonisten. Man möchte Kemal verachten
aufgrund seiner scheinbar lächerlichen Hörigkeit und
ist doch gezwungen, dessen Weg mitzugehen bis zum Ende. Und man
fühlt sich bereit, Kemal zu glauben, dass er, wie
erwähnt, ein glückliches Leben geführt habe.
Orhan Pamuk hat mit "Das Museum der Unschuld" - übrigens soll
dieses Museum offensichtlich in Istanbul wirklich entstehen, und der
Leser erhält einmaligen freien Eintritt - eine bezaubernd
schöne, schmerzlich-melancholische Liebesgeschichte vorgelegt,
die Europäern eine unmittelbare Sicht auf die
türkische Kultur auf
dem Weg nach Westen vorlegt und Türken vermutlich
ein auf die Schwierigkeiten der Anpassung ihrer Traditionen an die
Moderne gerichtetes Streiflicht.
Was für ein wunderbarer, fesselnder Roman des
Nobelpreisträgers! Einfühlsamer lässt sich
der ewige, aus dem Eros heraus geborene Konflikt zwischen den
Geschlechtern wohl kaum darstellen. Und deutschsprachige Leser erhalten
zudem einen ordentlichen Anteil an charmantem Lokalkolorit.
(Regina Károlyi; 09/2008)
Orhan
Pamuk: "Das Museum der
Unschuld"
(Originaltitel "Masumiyet Müzesi")
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2008. 576 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Fischer, 2010.
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Hörbuch:
Sprecher:
Ulrich Noethen. Vollständige Lesung.
Der Hörverlag, 2008. 15 CDs.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Das stille Haus"
Kurz vor dem Militärputsch im September 1980: Drei Geschwister verbringen eine
Ferienwoche im alten Haus ihrer Großmutter Fatma am Marmarameer. Nilgün liest
Turgenjew und träumt von einer Revolution in der Türkei, ihr Bruder Metin von
einer Zukunft in den USA. Faruk, der Älteste, ist über die Trauer um seine
geschiedene Frau zum Trinker geworden. Vor dem Hintergrund einer explosiven
politischen Lage schildert der Nobelpreisträger Orhan Pamuk in diesem Frühwerk
eine verlorene Jugend, die nach ihrem Platz in der Welt sucht und ihn nicht
findet. Ein melancholischer, stimmungsvoller Roman, in dem Pamuk verschiedensten
Personen eine ganz eigene Stimme verleiht. (Hanser)
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"Der
Koffer meines Vaters. Aus dem Leben eines Schriftstellers"
Orhan Pamuk ist ein Augenmensch.
Die Bilder eines Bellini faszinieren den in der Türkei lebenden Autor ebenso wie
persische Miniaturen. In dieser Sammlung von Essays staunt der Nobelpreisträger
für Literatur über die alltäglichen Wunder in New York, huldigt seinen Vorbildern der
Literaturgeschichte und gibt Betrachtungen zu Politik und Zeitgeschichte preis.
Vielleicht am schönsten sind seine Schilderungen aus dem Alltagsleben - der Tod einer
Möwe oder die kindliche Melancholie der kleinen Tochter. Pamuks Essayband ist ein ganzer
Kosmos, witzig, verspielt, manchmal provozierend, eine Fundgrube für alle Leser dieses großen Autors.
(Hanser) zur Rezension ...
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