Victor Hugo: "Der letzte Tag eines Verurteilten"
Schenkt
mir das Leben!
1828 wurde Victor Hugo Zeuge, als der Scharfrichter eine Art
"Generalprobe" für eine Hinrichtung
mittels Guillotine veranstaltete. Am nächsten Morgen begann
der Autor mit der Niederschrift
seines Buches "Der letzte Tag eines Verurteilten".
Victor Hugos empathisches Plädoyer gegen die Todesstrafe,
geschrieben als
fiktives Tagebuch, beurteilte
Dostojewskij,
der selbst wegen der
Teilnahme an
Treffen des Petraschewskij-Kreises (einer dem utopischen Sozialismus
anhängenden
Gruppe) zum Tode verurteilt, allerdings kurz vor Vollstreckung des
Urteils
begnadigt und für vier Jahre zur Zwangsarbeit nach Sibirien
geschickt wurde,
als einen der besten Romane der Literaturgeschichte. Hugo habe,
inspiriert
allein durch den Anblick des Schafotts in seiner Jugend, diese
Situation
trefflicher und menschlicher zu schildern vermocht, als er selbst
jemals in der
Lage gewesen wäre, dies zu tun.
Bis heute ist "Der letzte Tag eines Verurteilten" kein bisschen
verstaubt.
"Das Gewölbe der kommenden Gesellschaft wird nicht
zusammenstürzen,
auch wenn es diesen scheußlichen Schlussstein nicht hat",
schrieb
Victor Hugo am 15. März 1832, drei Jahre nach Erscheinen
seines kleinen Büchleins.
"Ihr werdet die vollständige Umformung des
Strafgesetzes erleben. Ihren
Krankenhäusern werden eure Zuchthäuser weichen
müssen.
Dann wird Freiheit und Gesundheit sich ähnlich werden. Man
wird Balsam und Öl
anwenden, wo jetzt Feuer und Eisen gebraucht wird. Mit Liebe wird man
das Übel
behandeln, das man einst mit Wut anfasste. Das wird einfach und erhaben
sein."
In vielen Ländern ist seine Vorsehung wahr geworden.
Galgen oder Guillotinen an zentralen Plätzen und
öffentliche Hinrichtungen
sind seit einigen Jahren von unserem Breitengrad verschwunden. Das
Kapitel der
Todesstrafe
ist endgültig zugeschlagen. Gab es in der Bundesrepublik
Deutschland bereits im
Jahre 1949 die letzte Hinrichtung mit dem Fallbeil im
Gefängnis von Moabit
(Berthold Wehmeyer - wegen Mordes und Vergewaltigung), so fielen am 26.
Juni
1981 in der Hinrichtungsstätte im Gefängnis in der
Alfred-Kästner-Straße in
Leipzig die voraussichtlich letzten Schüsse gegen den
39-jährigen
Stasi-Hauptmann Dr. Werner Teske, dem vorgeworfen wurde, dass er sich
mit Akten
in den Westen absetzen wollte (Spionagetatbestand).
"Mein Körper liegt in Eisen, in einem
Gefängnis, mein Geist ist gelähmt
und gekettet von einem Gedanken. Es ist ein grauenhafter, blutiger,
unversöhnlicher
Gedanke. Ich habe nur noch eine Vorstellung, eine Überzeugung
und eine
Gewissheit: zum Tode verurteilt!"
Vor fünf Wochen wurde der Ich-Erzähler, ein
namensloser Mann, dessen
Tatbestand nie erwähnt wird, zum Tode verurteilt. In einer Art
Tagebuch
schreibt er, in seiner Zelle dem unmenschlichen Ende seines jungen
Lebens
harrend, seine Beobachtungen, Gedanken, Gefühle und
Empfindungen während
dieser Zeit auf.
Waren die Hoffnungen während der Gerichtsverhandlung noch
groß und nahm er
bewusst die Schönheit des Lebens wahr ("Auf dem Kai
hörte ich Blumenmädchen
lachen, ich sah auch in einer Mauerspalte eine kleine gelbe Pflanze im
Licht,
mit der der Wind spielte."), so verdüstern sich
seine Gedanken unter
den unmenschlichen Bedingungen in seiner Todeszelle und dem
näher rückenden
Termin seiner Hinrichtung zusehends: "In diesem Protokoll
eines Menschen
im Todeskampf, in dem Fortschreiten meiner Qualen, in dieser Sezierung
des
Geistes eines Verurteilten wird mehr als eine Warnung sein für
die, welche
verurteilen. Vielleicht wird dieses Buch ihnen die Hand weniger leicht
machen,
wenn wieder einmal der Kopf eines denkenden Wesens, der Kopf eines
Menschen auf
die von ihnen so genannte Waage der Gerechtigkeit geworfen wird. (...)
Haben sie
sich irgendwie bei dem Gedanken aufgehalten, dass in dem Menschen, den
sie
schlachten lassen, ein Verstand wohnt, der auf das Leben
gezählt hat, eine
Seele, die nicht auf den Tod vorbereitet ist? Nein."
Ein ständiges Schwanken zwischen Verzweiflung und Hoffnung
begleitet ihn
während der letzten Wochen; eine unvorstellbare seelische
Marter, die sich
nahezu erschreckend auf den Leser überträgt. Beinahe
körperlich leidet man
mit dieser verzweifelten "Kreatur".
"Der letzte Tag eines Verurteilten" ist ein Buch mit einzigartigem und
poetischem Duktus, das die Sicht auf das Leben verändert und -
angesichts eines
besonders grausamen "modernen" Täters - den allzu leichtfertig
ausgesprochenen Satz "Den sollte man abschlachten!"
überdenken
lässt.
Victor Hugo schrieb aufgrund seines Erfolges dereinst an einem Freund: "Ich
habe nachgedacht über diejenigen, die leiden. Das ist mein
ganzer
Ruhmestitel." Sehr weise Worte!
Fazit:
Ein eindringliches Werk als Anklage gegen die Todesstrafe, das leider
noch
nichts von seiner Aktualität verloren hat, sind heutzutage
Steinigung,
Giftspritze oder elektrischer Stuhl keineswegs schaurige
Geschichten aus
der Vergangenheit.
Der grausame Grundsatz "Leben für Leben" offenbart ein
zutiefst
unmenschliches und erniedrigendes "Strafmaß". Kein Mensch
darf durch
die Hand eines anderen Menschen oder eines Staates sterben, egal wie
schwer
seine Schuld ist, weil hierbei Gewalt mittels Unterdrückung
und Rache "gesühnt"
wird und Gnade, Verzeihung und Rehabilitation aus dem Rechtssystem
beseitigt
werden.
(Heike Geilen; 07/2008)
Victor
Hugo: "Der letzte Tag eines
Verurteilten"
(Originaltitel "Le dernier jour d'un condamné")
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Victor
Hugo, geboren
am 26. Februar 1802 in Besançon, gestorben am 22. Mai 1885
in Paris, liegt auf
dem Cimetière du Père-Lachaise begraben.
"Ich will Chateaubriand sein oder nichts", schrieb
er im Alter
von vierzehn Jahren, und was als Vermessenheit hätte
erscheinen können, erwies
sich im Lauf seines Schaffens als ahnungslose Bescheidenheit. Der
Generalssohn
studierte kurze Zeit am Polytechnikum und wandte sich dann ganz der
Literatur
zu. Bereits mit 25 Jahren hatte er vier Kinder, hatte ein beachtliches
lyrisches
Werk geschaffen und war Ritter der Ehrenlegion. Er etablierte sich auch
als
Dramatiker und Romancier. Wenig Glück brachte ihm die Ehe:
Seine Gattin wurde
die Mätresse des Kritikers Sainte-Beuve, er selbst fand Trost
bei einer
Schauspielerin. Als Abgeordneter und Gegner
Napoleons
III. wurde er 1851
verbannt und verbrachte seine fruchtbarste Zeit im Exil, 19 Jahre lang,
auf den
Inseln Jersey und Guernsey.
Wieder in Paris, wurde er in den Senat gewählt. Der Tod des
populären Dichters
war Anlass zu einem nationalen Trauertag.
Weitere Bücher des Autors sowie Buchtipps:
"Notre Dame in Paris"
Herausgegeben und eingeleitet von Heinz-Joachim Fischer.
Was kann an einem französischen Roman aus dem Jahr 1831 so
anstößig sein,
dass er umgehend
auf
dem Index der Römischen Kirche landete und damit
für alle Katholiken in
der Welt verboten wurde? Blasphemie, Ketzerisches, Häresie?
Antiklerikales,
dass die Gläubigen vor Zorn, Liebesszenen, dass die
prüden Frommen vor Scham
rot wurden? Und alle vor Seelenschaden bewahrt werden mussten? Das
alles spielt
in Victor Hugos "Notre Dame de Paris", im Deutschen auch als "Der
Glöckner von Notre Dame" bekannt, eine Rolle. Aber es geht um
mehr, um
viel mehr. In Paris, der Welthauptstadt des 19. Jahrhunderts, bricht
eine neue
Zeit an, die wirkliche Moderne Europas, fern von der Kirche, ihrer
Vormundschaft
nach Mittelalter und Reformation nun entwachsend, bald
gänzlich frei.
Politisch, nach Französischer
Revolution und Napoleons
Diktatur;
wirtschaftlich, mit Kapitalismus und Technik, Industrialisierung und
neuen
Arbeitsmethoden; sozial, mit bisher unbekannten Problemen, mehr
brennenden
Fragen als hilfreichen Antworten. Alles wird anders, ohne Kirche, ohne
ihre
geistliche Aufsicht; geistig, wissenschaftlich, künstlerisch.
Victor Hugo, der größte Romancier Frankreichs,
beschrieb meisterhaft diese
Entfremdung der modernen Gesellschaft von der Kirche und fiel deshalb
dem Bann
anheim. (Marixverlag)
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"Die
Elenden - Les Misérables"
Victor Hugos Meisterwerk ist Drama und Epos zugleich und
darüber hinaus
spannend wie ein außergewöhnlicher Krimi. Die
Schicksale des entlassenen Sträflings
Jean Valjean, der ehemaligen Pariser Grisette Fantine, und anderer
Ausgestoßener
der Gesellschaft nach dem Sturz Napoleons
stehen im Vordergrund der
Handlung.
Valjean wird zunächst im Haus des mildtätigen
Bischofs Myriel aufgenommen, der
ihm die Rückkehr in geordnete Verhältnisse
ermöglicht. Sehr berührend ist
die kontinuierliche Verwandlung zu einem tief guten,
mitfühlenden Menschen. Der
figuren- und episodenreiche Roman ist ein flammender Appell
für die Schaffung
einer gerechteren Gesellschaft.
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"Das
Teufelsschiff"
Gilliatt, der Fischer mit dem Ruf eines Zauberers, lebt auf der Insel
Guernesey
und liebt Druchette, die Nichte des Reeders. Eines Nachts erleidet der
verwünschte
Dampfer Durande Schiffbruch, und das "Teufelsschiff" wird vom
wütenden
Meer an einen Felsen geschleudert, an dem es hängenbleibt. Im
Kampf mit
ungeheuren Naturgewalten bietet Gilliatt sämtliche
Kräfte auf, um aus dem
Wrack wenigstens die "unheimliche technische Neuerung"
zu retten, die
Maschine. Doch alles gewinnt er damit nicht ...
"Das 'Teufelsschiff" ist neben dem "Glöckner von Notre Dame"
und den "Elenden" der dritte Roman in Hugos großer Trilogie
um das
menschliche Schicksal. (Diogenes)
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Jörg W. Rademacher: "Victor
Hugo"
Victor-Marie Hugo (1802-1885), Generalssohn und "Napoleon der
Literatur",
bereits zu Lebzeiten eine Legende und ein Pfahl im Fleisch der Moderne,
war
Royalist und Revolutionär, Rebell in Kunst und Kirche,
Reformer in Paris und
Republikaner im Exil. Es gelang ihm, zum Erfolgsautor zu werden und
gleichzeitig
mit neuen Erzählformen zu experimentieren. "Notre Dame de
Paris" ist
der bedeutendste historische Roman, den die französische
Literatur
hervorbrachte. Die Figur des Glöckners von Notre Dame
rührt und beflügelt die
Fantasie der Menschen bis heute. (dtv)
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"Tintenauge
und
Schattenmund. Victor Hugos Zeichnungen"
Ausgewählt und kommentiert von Françoise Chomard
und Dietrich Harth.
Die zeichnerischen Arbeiten des großen französischen
Schriftstellers Victor
Hugo (1802-1885), die weit mehr als dreitausend Blätter
umfassen und die er
selbst als eine "schöne Nebensache"
betrachtet hat, sind
weithin unbekannt. Der außerordentlich begabte Dilettant Hugo
benutzte Feder
und Pinsel und eine erstaunliche Vielfalt von Materialien für
seine
Bildvisionen. Nach einer Einführung in Ästhetik und
Handwerk des Zeichners präsentiert
der breit angelegte Band die von Hugo entworfenen Einrichtungen seines
Hauses
auf der Insel Guernsey, die Zeichnungen fantastischer Architekturen und
Landschaften, aber auch seine an abstrakte Gebilde erinnernden
Verfremdungen und
kommt in einem abschließenden Kapitel auf die Rezeption
dieses grafischen Werks
durch die Klassische Moderne zu sprechen. Die mit vielen, zum
größten Teil neu
übersetzten Zitaten angereicherten Kommentare des Buches
knüpfen an die
neuesten Erkenntnisse der Hugo-Forschung an, darüber hinaus
charakterisieren
sie auch die Person des Künstlers in ihrer ganzen
Lebendigkeit. (Hatje Cantz)
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"Victor Hugo.
Visionen eines Schriftstellers"
Das
zeichnerische Werk des Dichters Victor Hugo - ein bedeutender Beitrag
zur Entwicklung der Moderne.
In seinen dunklen, visionären Zeichnungen und Aquarellen
suchte Victor Hugo
(1802-1885) Antworten auf politische Entwicklungen und
gesellschaftliche Umbrüche
seiner Epoche. Er tropfte oder blies die Tinte übers Papier,
benutzte
Abklatsch- und Wischtechniken oder bezog den Abdruck seiner
tintenverklecksten
Finger in den Bildaufbau mit ein. Die so entstandenen Grafiken sind von
erstaunlicher Modernität und wurden von den Surrealisten als
Vorläufer ihrer
eigenen Ästhetik gefeiert.
Daneben schuf Hugo auf seinen Reisen, etwa entlang des
Rheins, auch viele
traditionelle Veduten, in den Jahren seines Exils auf Jersey und
Guernsey
zahlreiche romantische Meeresbilder, später auch Karikaturen,
in denen der
zeitweilige Abgeordnete der Nationalversammlung mit spitzer Feder die
Schwächen
seiner Objekte festhielt.
Der Band präsentiert ausgewählte Blätter,
verknüpft diese mit Hugos
schriftstellerischem Werk und beleuchtet seine Rezeption durch Goethe.
Ein
weiterer Essay widmet sich erstmals gesondert Arnulf Rainers
Übermalungen von
Victor Hugos Zeichnungen. (Hatje Cantz)
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Mario Vargas Llosa: "Victor
Hugo und die Versuchung des Unmöglichen"
Wer war Victor Hugo? Ein Ozean! ist Vargas Llosas
erste, emphatisch
staunende Antwort. Ein Gebirge, ein Kontinent: Wie anders
ließe sich auch sein
riesiges Romanwerk "Les Misérables" ("Die Elenden") fassen,
das sich in lauter Gegensätzen, Widersprüchen,
Extremen auftürmt? Und mitten
darin der maßlos ausufernde, von seinem Olymp donnernde
Erzähler, der nicht
identisch ist mit dem Autor und doch unverkennbar dessen Züge
trägt.
So beginnt Vargas Llosas Großessay mit einem lebhaften
Porträt des Autors als
Titan, als "göttlicher Stenograf". Dem
Monströs-Vormodernen
und Überzeitlich-Verführerischen des Romans
nähert sich Vargas Llosa in acht
Kapiteln und Schritten. Was macht es, dass dieses Werk mit all seinem
Überschwang
und seinen nicht erst dem heutigen Auge so sichtbaren Makeln oder
Absonderlichkeiten nach so vielen Jahren nichts von seiner
Anziehungskraft
verloren hat?
Vargas Llosa, der Lektüre des Romans verfallen, seit er ihn
als unglücklicher
Zögling der Kadettenanstalt in Lima zum erstenmal las, blickt
dem großen
Kollegen sehr genau über die Schulter. Der Leser gewinnt dabei
nicht nur ein
anschauliches, höchst aufschlussreiches Bild von einem der
prägenden Werke der
Weltliteratur, er bekommt auch den Anstoß, die zwei Stufen
leidenschaftlicher
Lektüre zu gehen: sich erfassen zu lassen - und nachzufragen.
(Suhrkamp)
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