Klaus Ferentschik: "Der Weltmaschinenroman"
Biografischer Roman
Gelobt
sei, was skurril und nutzlos ist.
Im Oktober 1958, vor genau 50 Jahren, schlug die Geburtsstunde einer
Maschine absonderlichster Bauart, die durch nichts hervorzustechen
schien als durch schiere Zwecklosigkeit: Franz Gsellmanns Weltmaschine.
"Vor dieser Maschine scheitert jede blanke Vernunft",
schrieb seinerzeit ein fassungsloser Medienvertreter. Klaus Ferentschik
hat es unternommen, in einem höchst unterhaltsamen Roman die
Geschichte Franz Gsellmanns und seiner Weltmaschine für uns
nachzuerzählen. Und Franz Gsellmann hat es verdient, dass er
auf diese Weise der Vergessenheit entrissen wird.
Franz Gsellmann (1910-1981), ein Landwirt aus einem kleinen Dorf in der
Steiermark, wird eines nachts von einem sowohl seltsam als auch
eindringlich anmutenden Traum heimgesucht. Einem Traum, der ihm fortan
zur Obsession werden sollte, seiner Familie hingegen wurde er zum
Alptraum. Es ist der Traum von einer Maschine, die 30 Minuten lang
durch Gsellmanns dunkle Traumkorridore spukt, um ihm ein Licht
aufzustecken, das von da an zum Leitstern seines Lebens werden sollte.
Dies war aber noch lange nicht die Geburt der abstrusen Idee von einer
Weltmaschine, es war erst die von jeglichem Sinn unbefleckte
Empfängnis. Die Geburt folgt, als Franz Gsellmann in einer
Zeitung auf eine Abbildung des Atomiums stößt, des
Wahrzeichens der Brüsseler Weltausstellung. Dieses Atomium
fungierte nun quasi als Geburtshelfer für Gsellmanns Idee von
der Maschine. Franz Gsellmann zögert keinen Augenblick, kratzt
seine kärglichen Ersparnisse zusammen, kauft sich eine
Bahnfahrkarte nach Brüssel und wird zum Pilger des Abstrusen.
Wieder daheim in der Steiermark baut er das Atomium als Miniaturausgabe
nach. Diese Miniaturausgabe des Brüsseler Wahrzeichens wird
zur Keimzelle, zum innersten Kernstück seiner Weltmaschine,
deren Konstruktion ihn über Jahrzehnte, bis zu seinem Tode im
Jahre 1981, beschäftigen wird. Drum herum (um das Atomium)
installiert Gsellmann Unmengen von Kabeln, Schrauben, Muttern,
Schläuchen, Rohren, kleinen Elektromotoren, Hula-Hoop-Reifen
etc., eingebaut werden unter anderem auch die Lichtmaschine eines alten
Armeepanzers, eine Schiffsschraube, ein Metronom, mehrere Spieluhren,
etliche Glocken, Glühbirnen, Uhrwerke, das Zahnrad einer
Seilbahn, und sogar das ausgemusterte Inventar einer Zahnarztpraxis
findet seinen Platz in Gsellmanns Wundermaschine. Denn Wunder sollte
sie dereinst vollbringen. Den zu diesem Behufe unbedingt notwendigen
spirituellen Segen sollten ein Jesuskind, eine Madonna und einige
Kruzifixe sicherstellen, die Gsellmann ebenfalls seinem Konstrukt
einverleibte. Und er glaubte und erklärte, der Herr werde
schon dafür Sorge tragen, dass da etwas zum Wohle der
Menschheit entstehen werde. Wahrhaftig - will man Klaus Ferentschik
Glauben schenken - erwartete Franz Gsellmann, irgendwann würde
die Maschine von ganz alleine laufen, ohne Energiezufuhr von
außen, und er glaubte und hoffte, sie würde sogar
etwas produzieren. Irgendetwas Nützliches, ein Produkt,
praktisch über Nacht, so wie seine Hühner tagaus
tagein ihre Eier legten.
Will uns Klaus Ferentschik einen Bären aufbinden? Ist unser
Autor ein Märchenerzähler? Sein Buch liest sich
tatsächlich wie eine Münchhausiade reinsten Wassers.
Verwirrt fragt sich der Leser: Gab es das alles wirklich? Die Antwort
findet man im Internet unter
https://www.weltmaschine.at.
Es geht weiter. Franz Gsellmann beginnt in aller Heimlichkeit mit der
Konstruktion seiner Maschine. Er sieht sich einer gigantischen
Herausforderung gegenüber. Denn, so wird er später
einmal gegenüber einem Reporter äußern: "Man
muss ein Tischler, Elektriker, Mechaniker, Techniker, Anstreicher und
Landstreicher sein, um solch eine Maschine zu konstruieren."
Und Franz Gsellmann verfügte weder über einen
Schulabschluss noch über eine Berufsausbildung! Aber er war
ein Künstler, ein Genie auf seine Art, ein Genie der
Nutzlosigkeit. Ein genialer Naiver, ein Eigenbrötler, der aber
gerade durch seine Heimlichtuerei schon bald die Neugierde der Leute
auf sich lenken sollte. Wohl auch deshalb, weil er sowohl die Familie
als auch seine Tätigkeit als Landwirt immer weiter
vernachlässigte und stets in einem hermetisch verschlossenen
Raum herumwerkelte. Der Dorfschmied wurde schließlich als
Erster in Gsellmanns Geheimnis eingeweiht, denn der besorgte dem
Tüftler ja immerhin einige brauchbare Teile für die
Maschine, die er ihm auch häufig noch zurecht schmiedete. Nach
und nach folgen weitere Personen, denen Franz Gsellmann sein Geheimnis
wenigstens in Teilen anvertraut. Als eines Tages im ganzen Dorf die
Sicherungen durchknallen, verbindet ein jeder dies mit Franz Gsellmanns
Höllenmaschine, über die von großen Teilen
der Dorfbevölkerung schon lange gemunkelt wird.
Gerüchte
entstehen. Und tatsächlich war Franz
Gsellmann der Verursacher des Stromausfalls, er hatte zum ersten Mal
versucht, seine Maschine in Betrieb zu nehmen. Um nicht vollends den
Zorn der Dorfgemeinschaft auf sich zu ziehen, sah er nun sich
gezwungen, seine Tüftelei für die Leute ein wenig
transparenter zu gestalten. Und er unternimmt einen zweiten Versuch,
seine Maschine zu starten. Diesmal mit Erfolg. Die
Höllenmaschine rumpelt sich ins Leben. Die Familie, der
Pfarrer und einige andere Eingeweihte bekommen das grandiose Spektakel
zu sehen und zu hören. Aber vergeblich forschen sie nach dem
Sinn des Ganzen.
Nachdem Franz Gsellmann endlich das Pensionsalter erreicht hatte,
steckte er alle Zeit und alle Finanzmittel, die ihm zur
Verfügung standen, in die Weiterentwicklung seiner Maschine,
während die Familie unter großer wirtschaftlicher
Not zu leiden hatte. Und bald erregte er auch das Interesse der Medien.
Zwei Reporter der auflagenstärksten Zeitung in der Steiermark
besuchten ihn und brachten einen großen Bericht in ihrer
Zeitung. Weitere Vertreter der nationalen und später auch der
internationalen Presse folgten und veröffentlichten Artikel
über "Die nutzlose Wundermaschine".
Fernsehteams aus Österreich und Deutschland suchen den Hof des
Franz Gsellmann auf, um über die Wundermaschine zu berichten.
Und sogar Politiker erweisen ihm die Ehre ihres Besuches. Durch einen
Regierungsrat aus Tirol erfährt dann die mittlerweile zu einem
wahren Monstrum herangewachsene Maschine ihre halboffizielle Taufe, der
Tiroler Regierungsrat prägt den Begriff "Weltmaschine".
Der Medienrummel verstärkte sich nun ständig, und
Franz Gsellmann erlangte internationale Popularität, ohne
allerdings wirtschaftliches Kapital daraus schlagen zu können.
Auch Verständnis fand er keines, alle seine Besucher
verzweifelten letztendlich an der Sinnfindung.
Nur bei einigen
Künstlern, darunter international renommierten, fand Gsellmann
Anerkennung. Klaus Ferentschik zitiert die an Gsellmann gerichteten
Worte eines damals berühmten Künstlers wie folgt: "Was
du da gemacht hast, hast du prachtvoll vollbracht. Du bist ein Genie,
wahrscheinlich das einzige von uns allen. Du tust unbewusst genau das,
was wir bewusst machen. Das ist Kunst in ihrer reinsten Art."
Schlägt Absurdität, sofern man sie auf die Spitze
treibt, tatsächlich wieder in Kunst um? Ich würde
dies nicht generell bejahen wollen, doch im Falle Franz Gsellmanns
möchte ich es ausdrücklich unterstreichen. Ich habe
zwar die Weltmaschine noch nicht persönlich in Augenschein
nehmen können, doch dem Buch Klaus Ferentschiks liegt eine
Farbfotografie bei, auf der die Maschine in ihrer ganzen wirren und
verwuselten Schönheit zu bestaunen ist.
Das letzte Teilstück, das Franz Gsellmann seiner Maschine
einverleibte, war ein großes rotierendes Fragezeichen, danach
starb er im Mai 1981 an den Folgen einer Prostataoperation. Danken wir
dem Autor Klaus Ferentschik sowie dem Verlag Matthes & Seitz,
dass sie diesem genialen Erfinder und Künstler im Rahmen ihrer
relativ bescheidenen Möglichkeiten wieder Leben eingehaucht
haben. Der "Weltmaschinenroman" ist ein wirklich lesenswertes Buch,
zudem ein ideales Geschenk für alle Individualisten, auch
für ältere Kinder und Jugendliche bestens geeignet.
Es ist zudem ein Plädoyer für die absolute Freiheit
des vom Sinn entfesselten Gedankens, eine Hommage an die Willenskraft,
der kein Strom zu stark ist, um nicht doch dagegen anschwimmen zu
können.
Ein Nachtrag: Franz Gsellmann junior, Enkel des großen
Erfinders, hat sich mittlerweile der Erfindung seines
Großvaters angenommen, war ebenfalls unlängst in
Brüssel und erklärte anlässlich einer
Präsentation im Europaparlament, dass die Weltmaschine
inzwischen jährlich etwa
(Werner Fletcher; 10/2008)
Klaus
Ferentschik: "Der Weltmaschinenroman. Biografischer Roman"
Verlag Matthes & Seitz, 2008. 160 Seiten.
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Klaus
Ferentschik, geboren 1957 im badischen Graben, gymnasial unterrichtet
in Karlsruhe, promoviert in Wien, lebt in Berlin. Er ist Regent im
Collége de Pataphysique, Paradiesforscher, Verfasser einer
geschlechtsspezifischen Romantrilogie und eines Buches über
die Pataphysik, die Wissenschaft von den imaginären
Lösungen:
"Pataphysik. Versuchung des Geistes"
Was haben Umberto
Eco, Louis Malle,
Marcel
Duchamp, Boris Vian, Jean Baudrillard, Joan Miró
und die Marx Brothers
gemeinsam? Sie alle sind Mitglieder im Collège de
Pataphysique. Was aber ist
die Pataphysik? Klaus Ferentschik macht Sie bekannt mit dieser
"Versuchung
des Geistes", einem absurdistischen Philosophie- und
Wissenschafts-Konzept,
das eine scheinbar parodistische Antwort auf Theoriebildungen und
Methoden
moderner Wissenschaft ist. Das vorliegende Buch ist das einzige in
deutscher
Sprache, das diese auf Kunst und Literatur so einflussreiche
"Wissenschaft
von den imaginären Lösungen" vorstellt.
"Pataphysik. Versuchung des Geistes" ist Geschichte und
Einführung in
die Pataphysik, beginnend mit ihrem Begründer Alfred Jarry,
der die Welt der
Imagination einem Universum gleichsetzte, das das vorhandene in
gleichberechtigter Weise ergänzt und sich mit diesem permanent
austauscht.
Die Pataphysik ist Wissenschaft, Philosophie oder Lehre, die unter
umgekehrten
Vorzeichen ein Paralleluniversum erfindet, das an die Stelle der
bekannten Welt
treten könnte. Sie ist damit die Wissenschaft von der
Vorstellungskraft, derer
sich die Menschheit bereits seit Urzeiten bedient. Ihr liegt alles
zugrunde,
ohne sie gäbe es keine Ideen, keine Neugierde, keine
Illusionen, keine
Forschungen, keine Experimente,
keine Erfindungen. Die Pataphysik
bildet den
Ursprung von allem, sie ist die Wissenschaft aller Wissenschaften, die
Wissenschaft an sich, die beispielsweise Untersuchungen zur Berechnung
der
Oberfläche Gottes anstellt.
Um ganz im Sinne der Pataphysik Studien zu betreiben und ihre
Eigentümlichkeiten
zu ergründen, formierte sich 1948 in Paris das
Collège de Pataphysique. Diese
"Gesellschaft der gelehrten und unnützen Forschungen", wie es
sich
selbst bezeichnet, untersucht die imaginären
Lösungen, deren Einflüsse und
Auswirkungen. Das Collegium macht bewusst, was Andere unbewusst tun.
Die Themen,
denen sich das Collège de Pataphysique widmet, sind
vielseitig und grenzenlos
wie die Imagination, und seine Mitglieder bedienen sich aller Mittel,
sie zu
erforschen und zu erweitern.
Klaus Ferentschik vermittelt einen Einblick in das Collège
de Pataphysique,
dessen Aufbau und Strukturen, Aktivitäten und Publikationen.
Er präsentiert
Manifeste und Dokumente sowie alle gängigen Definitionen und
Erklärungsversuche
der Pataphysik und erschließt damit originell und
unterhaltsam dem deutsche
Publikum ein neues Universum des Denkens.
Wichtige Originaltexte der Pataphysik von Boris Vian, Enrico Baj und
Jean
Baudrillard sind in einem eigenen Teil in voller Länge
nachzulesen. (Matthes
& Seitz)
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