Jacob S. Guggenheimer: "Der Sand in den Augen"
E. T. A. Hoffmann und die Geburt einer deutschen Männlichkeit
Hoffmanns "Sandmann"
aus psychoanalytischer Sicht
Lässt man die Blätter dieses Buches in Glissando-Manier am Daumenballen
entlang gleiten, so fällt einem zwar nicht der Sand in die Augen, wohl aber die
überraschende Bildsequenz der im Buche enthaltenen Abbildungen. Denn im
schnellen Vorbeigleiten fallen dem überraschten Leser so unterschiedliche
Gestalten und Porträts ins Auge wie beispielsweise
Napoleon, "King Kong",
die Comic-Helden "Hulk" und "Lucky Luke", das "Alien"-Filmmonster,
die Indianerprinzessin Pocahontas, der legendäre Pionier der Psychiatrie
Charcot oder Marlene Dietrich. Und immer wieder gleichsam hypnotisierend
starrende Augen. Was hat das alles mit E.T.A. Hoffmanns "Sandmann" zu
tun? Die Zusammenhänge erfährt man, wenn man das Buch liest, und sie
erscheinen dann keineswegs als weit hergeholt, sondern als durchaus greifbar und
schlüssig. Hoffmanns Erzählung vom Sandmann ist äußerst vielgestaltig, lässt
sich kaum auf ein einziges Thema eingrenzen und bietet dem Analysierenden ein
riesiges Reservoir von unbewusster Tiefe, aus der er schöpfen und seine Schlüsse
ziehen kann. In seinem Vorwort bemerkt Jakob S. Guggenheimer dazu, dass die
Sandmann-Erzählung auch heute noch weit mehr Erkenntnispotenzial birgt, als
vielfach angenommen wird. Und zur Funktion der im Text eingestreuten Abbildungen
erklärt der Autor: "... ermöglicht die Einarbeitung von Bildern in den
interpretierenden Text, die angeführten Deutungen an Ort und Stelle
nachzuvollziehen ...". (Haben wir den "Sandmann" demnach als
Ahnherrn von "King Kong", "Dr. Mabuse" & Co anzusehen?)
Andererseits sieht Guggenheimer aber auch eine Gefahr darin, dass ein
unkritischer oder der weniger kritische Leser das für evident halten könnte,
was hier der ästhetischen Suggestionskraft der Bilder zuzuschreiben ist.
Guggenheimers Textdeutung folgt einem psychoanalytischen Ansatz. Nach des Autors
eigenem Bekunden ist seine mit diesem Buch vorgelegte Arbeit ohne ein Basiswissen
in der Psychoanalyse, ohne grundlegende Kenntnisse der Triebökonomie,
Libidotheorie, Objektbeziehungstheorie und anderer psychoanalytischer Theorien,
von einem mit dieser Materie wenig vertrauten Leser nicht so ohne Weiteres
nachzuvollziehen. Das sehe ich nicht so. Guggenheimer hat es nämlich sehr gut
verstanden, eine schwer zu durchschauende Materie transparent zu machen. Er
argumentiert schlüssig und sicherlich auch für die Mehrheit der Leser gut
nachvollziehbar. Der Verzicht auf in Publikationen dieser Art häufig zu
findenden, in den Text integrierten, lang ausufernden Fußnoten und Kommentaren,
ermöglicht zudem ein flüssiges Lesen.
Zunächst präsentiert der Autor seinen Lesern eine Nacherzählung der
Sandmann-Geschichte, um auch denjenigen, die sie noch nicht kennen sollten oder
den Inhalt vergessen haben, das Verständnis seiner Analyse zu ermöglichen.
Dann folgt im zweiten Kapitel Guggenheimers psychoanalytische Interpretation.
Dabei geht es ihm in erster Linie um die Symbolik der Augen. Schon Freud hatte
in seiner Studie über das Unheimliche eine Deutung von Hoffmanns "Sandmann"
vorgelegt. Auch er maß der Symbolik der Augen einen hohen Stellenwert zu und
sah in der Angst, zu erblinden, (Sand in die Augen gestreut zu bekommen), das
klarste Synonym der Kastrationsangst. Guggenheimer führt aber noch eine zweite
Deutungsmöglichkeit der Geschichte an, die ihre Erklärung nicht so sehr in der
Kastrationsdrohung findet. Nathanaels Angst beschränkt sich laut Guggenheimer
nicht darauf, kastriert zu werden, vielmehr fürchtet er seine völlige
psychische Vernichtung. In Kapitel 2 stellt der Autor die Geschichte in den
kulturhistorischen Zusammenhang. Verbindungen bestehen beispielsweise
zum
Mesmerschen Magnetismus oder zur Hypnose, Phänomene, für die sich auch
Hoffmann stark interessiert hatte. Im Vordergrund aber steht zweifellos
Napoleon, ein lange Zeit übermächtig erscheinender Feind. Safranski, einer der
Biografen Hoffmanns, schrieb dazu: "Napoleon ist für Hoffmann der
politische Magnetiseur", eine Aussage, die sich allerdings nicht auf
den Sandmann, sondern auf die Erzählung "Der Magnetiseur" bezog. Für
Jacob S. Guggenheimer jedoch ist der "Sandmann" in dieser Hinsicht ein
viel naheliegenderes Äquivalent als der "Magnetiseur".
Eine interessante Deutung erfährt die Person der Clara, die Verlobte
Nathanaels. Psychoanalytisch gesehen erscheint es Guggenheimer so, dass es sich
bei Hoffmanns Beschreibung der Clara gar nicht um die Beschreibung einer
Frauengestalt handelt, sondern um die als Frau umschriebene deutsche Nation. "Keine
wirkliche Frau, sondern eher das Prinzip Heimat." Und im Fragmentierten
ihrer Gestalt spiegelt sich nach Guggenheimer das in 40 Kleinstaaten aufgeteilte
damalige Deutschland wider. Clara steht demnach also in einer Reihe mit
Marianne, Britannia, Germania und anderen symbolischen Frauengestalten, die in
vielen Kulturen ihre Nation verkörpern. Dass aber Frauen in Kriegen
vergewaltigt werden, weil dem Frauenkörper als Symbol des angegriffenen
Territoriums in Konflikten ein strategisches Gewicht zukommt, wie Guggenheimer
Ruth Seifert zitiert, scheint mir doch etwas weit hergeholt.
Die Gestalt der Olimpia, und um die geht es im dritten Kapitel unter anderem,
darf wohl als der erste Maschinenmensch der Literaturgeschichte gelten. Der
allgemein verbreiteten These,
Hoffmanns Olimpia sei gewissermaßen ein Kind der
beginnenden Industrialisierung, erteilt Guggenheimer eine Absage. Er sieht in
ihr ein Instrument der übermächtigen Vaterfiguren Coppelius und Spalanzani.
Sigmund Freud interpretierte die Olimpia-Gestalt in ähnlicher Weise als "ein
von Nathanael losgelöster Komplex, der ihm als Person entgegentritt",
als "die Materialisation von Nathanaels femininer Einstellung zu seinem
Vater in früher Kindheit." Guggenheimer zieht hier sogar eine
Parallele zu Marlene Dietrich und dem Regisseur Josef von Sternberg. Die
Schauspielerin sieht er als marionettenhaftes Medium, den Regisseur als
hypnotisierende Vaterfigur. Aus diesem Kontext heraus taucht das Foto Marlene
Dietrichs auch im Text auf.
Die verzweifelten Versuche Nathanaels, seine inneren Gespenster Coppelius und
Olimpia zu bannen, scheitern letztendlich. Der Autor Jacob S. Guggenheimer
definiert die zwei wichtigsten Elemente von Nathanaels psychischer Abwehrhaltung
wie folgt: "Die omnipotente narzisstische Dualunion mit der
Mutter-Nation und die Suche nach einer schützenden Deckidentität, die sich im
neuen deutschen Männlichkeitsideal erfüllt." Und damit wären wir
beim Untertitel des Buches "E.T.A. Hoffmann und die Geburt einer deutschen
Männlichkeit".
Im Schlusskapitel werden dann die methodischen Ansätze der Interpretation erläutert.
Der Autor setzt dabei voraus, dass die Psychoanalyse in der Lage ist, ähnlich
wie bei der Traumdeutung, die unbewussten Inhalte, die einem literarischen Text
zugrunde liegen, bloßzulegen. Deutungsinstrumente der vorliegenden Arbeit sind
neben dem psychoanalytischen Ansatz im engeren Sinne: das Szenische Verstehen
nach Lorenzer, die vom selben Autor entwickelte Tiefenhermeneutik, die
Traumdiagnostik nach Morgenthaler und die Ansätze von
Theleweit. Das hört sich
nun etwas kompliziert an, ist aber im Text auch für Laien relativ klar verständlich
dargelegt worden. Ich fand das Buch jedenfalls sehr interessant und kann es
jedem an Literatur und Psychologie bzw. Psychoanalyse Interessierten uneingeschränkt
empfehlen.
(Werner Fletcher; 12/2008)
Jacob S. Guggenheimer: "Der Sand in den
Augen.
E. T. A. Hoffmann und die Geburt einer deutschen Männlichkeit"
Drava, 2008. 182 Seiten.
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Jacob S. Guggenheimer, 1975 in
Berlin geboren, Studium der Psychologie, arbeitet als Sozialpsychologe und ist
Projektmitarbeiter des Forschungsnetzwerkes "Kultur und Konflikt" an
der Universität Klagenfurt.
Weitere Lektüreempfehlungen:
Detlef Kremer: "E. T. A. Hoffmann. Leben - Werk - Wirkung"
E.T.A. Hoffmann (1776-1822) war ein universal begabter Künstler,
Musiker, Jurist und Autor, dessen fantastische Erzählungen und romantische
Kunstmärchen von maßgeblichem Einfluss auf die Weltliteratur waren. Den
aktuellen Forschungsstand abbildend, informiert das Handbuch über seine vielfältigen
Wirkungsbereiche, die historischen und ästhetischen Voraussetzungen seines
literarischen, musikalischen und juristischen Schaffens, die einzelnen Werke
selbst, ihre Rezeptionsgeschichte und über systematische Aspekte wie Medialität,
Poetik, Figurenzeichnung u.v.m. Es bietet darüber hinaus eine umfassende
Bibliografie sowie Kurzbiografien der Personen aus dem Umfeld des Autors. (Walter De Gruyter)
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Klaus Deterding: "Hoffmanns
Erzählungen. Eine Einführung in das Werk E.T.A. Hoffmanns, Band 1"
Das vorliegende Buch gibt eine Einführung in das Werk des Gesamtkünstlers
E.T.A. Hoffmann: in das literarische Werk, die Selbstzeugnisse und das
bildnerische Schaffen. Der Leser erhält mit diesem Band einen Überblick über
das Gesamtwerk E.T.A. Hoffmanns von den Anfängen bis in die letzten Texte, und
zwar unter einem überzeugenden, zusammenfassenden poetologischen Gesichtspunkt,
der das Wesen dieses großen Romantikers charakterisiert und die Besonderheit
der Erzählungen evident macht. Von diesen werden nicht nur die bekannten wie
"Das Fräulein von Scuderi" oder "Der Sandmann" analysiert,
sondern auch andere, die für das Verständnis des Werks von erheblicher
Bedeutung sind. Wichtige biografische und literarhistorische Daten und Aspekte
werden einbezogen, ebenso maßgebende Werke der neuesten Hoffmann-Forschung. So
wird die vorliegende Darstellung vor allem für Studierende des Faches
Germanistik von Interesse, darüber hinaus auch für Dozenten, die sich mit dem
Werk Hoffmanns näher befassen und auseinandersetzen möchten. (Königshausen
& Neumann)
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Klaus Deterding: "E.T.A.
Hoffmann. Die großen Erzählungen und Romane. Einführung in Leben und Werk,
Band 2"
Dieses Buch ist der zweite Band der Einführung in Leben und Werk E.T.A.
Hoffmanns, dargestellt von einem ausgewiesenen Hoffmann-Forscher. In Fortsetzung
des 1. Bandes geht es hier um zwei zentrale Erzählungen sowie den großen Roman
"Lebens-Ansichten des Katers Murr". Wie bisher kaum in einem Werk der
Sekundärliteratur, führt die Analyse und Interpretation des satirischen Märchens
"Meister Floh" in biografische Zusammenhänge, welche die Bedeutung
Hoffmanns als Juristen und engagierten Liberalen aufzeigen.
Über die großen Erzählungen und Romane hinaus führt auch dieser Band wieder
in Zusammenhänge des vielgestaltigen Hoffmannschen Gesamtwerks. Außerdem
werden die "Aufzeichnungen der Freunde und Bekannten" einbezogen, die
gerade auch bezüglich der historischen und politischen Hintergründe z.T. höchst
aufschlussreich sind. (Königshausen &
Neumann)
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Klaus Deterding: "Erzählungen
und Romane, 2. Einführung in Leben und Werk, Band 3"
Dieses Buch ist der dritte Band der Einführung in Leben und Werk E.T.A.
Hoffmanns, dargestellt von einem ausgewiesenen Hoffmann-Forscher. In Fortsetzung
des zweiten Bandes geht es hier um den "genialischen" Roman "Die
Elixiere des Teufels" sowie um weitere, wichtige Hoffmann-Erzählungen. Für
die "Elixiere" und für die Erzählung "Die Jesuiterkirche in G."
bietet der Autor Vergleiche mit Schillers "Geisterseher" sowie mit
Goethes "Versuch über den Maler Philipp Hackert", die höchst
aufschlussreich sind und die in dieser Intensität und Präzision in der Sekundärliteratur
bisher nicht vorliegen. Über die behandelten Texte hinaus führt auch dieser
Band noch einmal und abschließend in Zusammenhänge des vielgestaltigen
Gesamtwerks E.T.A. Hoffmanns ein, einschließlich der Grafik sowie der "Aufzeichnungen
der Freunde und Bekannten".
Der Band ist außer für Germanisten auch für Studierende und Dozenten der Fächer
Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft von erheblichem Interesse. (Königshausen
& Neumann)
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Yvonne Hörmann: "Die
Musikerfiguren E.T.A. Hoffmanns: Ein mosaikartiges Konglomerat des romantischen
Künstlerideals"
Was macht den perfekten romantischen Künstler aus? E.T.A. Hoffmann sucht - wie
seine Zeitgenossen
- sein Leben lang nach diesem Ideal. In fast allen Erzählungen stellt er
Musiker dar, die auf verschiedensten Wegen zum Ziel gelangen wollen. Dabei zeigt
er alle Facetten des Künstlers auf, vom Schüler bis hin zum über seiner unerfüllten
Kunstliebe wahnsinnig gewordenen Musiker, der aus der Gesellschaft
ausgeschlossen werden muss. Hoffmanns Frauen hingegen müssen sich für diesen
oder den Tod entscheiden, falls sie dem passiven Status, welchen der Autor ihnen
zuweist, entrinnen wollen. Allerdings beendet Hoffmann seine Studien keineswegs
mit dieser einseitigen Betrachtung. Stattdessen integriert er in seinen Erzählungen
auch seine Kritik an der Musizierpraxis seiner Zeit, den Teegesellschaften und
der Vorliebe für Virtuosen, die er mit Automaten und dressierten Tieren
gleichstellt. Durch diese Gesamtschau entsteht ein Mosaik des perfekten
romantischen Künstlers und seiner Eigenschaften, auch wenn Hoffmann zu dem
Ergebnis kommt, dass es den idealen Musiker, der alle Merkmale in sich vereint,
nicht gibt. (Königshausen & Neumann)
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Michael Bienert: "E.T.A. Hoffmanns Berlin. Literarische
Schauplätze"
Berüchtigt für sein exzessives Nachtleben, gefeiert
als Schriftsteller und Opernkomponist, respektiert als streitbarer
Jurist am Kammergericht: Die
schillernde Persönlichkeit E.T.A. Hoffmanns
gehörte um 1820 zu den Hauptsehenswürdigkeiten der
preußischen Hauptstadt. Hellwach hat er das Treiben auf den
Straßen, in den Salons und Kneipen, im Tiergarten oder vor
seiner Haustür auf dem Gendarmenmarkt beobachtet: "Das
lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt doch nun
einmal wunderbar auf das Gemüt."
In Hoffmanns Berliner Erzählungen nimmt das
Doppelbödige, Unheimliche und Fantastische des modernen
Großstadtalltags Gestalt an, erstmals wird Berlin zum
Schauplatz von Weltliteratur.
So virtuos wie zuletzt durch Erich Kästners Berlin
führt der Kulturjournalist und Cicerone Michael Bienert in
seinem Buch durch die aufregenden Zwanzigerjahre des 19. Jahrhunderts.
Das romantische Berlin wird als quirlige Literatur- und Kunstmetropole
vorgestellt. 200 Jahre später ist von Hoffmanns Berlin
überraschend viel auffindbar, ist der gern gelesene Klassiker
im Gedächtnis der Stadt lebendig geblieben - vom Etikett der
Sektmarke "Lutter & Wegner" bis hin zur modernen Architektur
des Jüdischen Museums von Daniel Libeskind, die er mit
inspiriert hat. (Verlag für Berlin-Brandenburg)
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Rüdiger Safranski: "E.T.A.
Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten"
E.T.A. Hoffmann war Beamter des preußischen Staates, Kapellmeister in Bamberg
und Dresden, ehe er in Berlin zum erfolgreichen Schriftsteller und einflussreichen
Juristen avancierte. Rüdiger Safranski beschränkt sich in seiner Biografie
nicht auf Leben und Werk E.T.A. Hoffmanns, sondern er erzählt zugleich von der
ganzen Epoche mit ihren literarischen Salons und den politischen Wirren in Preußen.
(Fischer)
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