David Albahari: "Die Ohrfeige"
Ein
undurchschaubares Spiel
Wie eine Ohrfeige manchmal ein ganzes Leben verändern kann
"Über einige Dinge lohnt es sich nicht nachzudenken,
oder man sollte nie aufhören, über sie nachzudenken."
So sinniert der namenlose Ich-Erzähler in David Albaharis
fabelhaftem Roman "Die Ohrfeige". Und dieser Satz durchzieht latent
metaphorisch alle Seiten dieses sehr tiefgründigen Buches.
Eigentlich "war nichts Außergewöhnliches
vorgekommen: eine Ohrfeige, ein nasser Strumpf, die Stille, die
Verfolgungsjagd. Gemessen am Zustand der Welt waren das Bagatellen",
überlegt Albaharis Protagonist, ein
eigenbrötlerischer Journalist, der, abgesehen von
gelegentlichen Übersetzungen, kleine Essays und Kommentare
für eine Wochenzeitung schreibt.
Mit seinem Freund Marko trifft er sich regelmäßig,
um zu kiffen und dabei über Gott und die Welt im Allgemeinen
und die politische Situation des zerfallenen ehemaligen jugoslawischen
Staates im Besonderen zu philosophieren. "Was ist das
für eine Welt, in der so viele Menschen verloren gehen? Und
wenn sie alle verloren sind, wer garantiert mir, dass nicht auch ich
schon längst verloren bin?" Er grübelt
über die Wirklichkeit, die Erinnerung, den Krieg, den
politischen Terror und den Hass: "mein Zuhause [war] eine
verdrehte Welt".
Ominöse Zeichen, ein geheimnisvolles Manuskript
Albahari strickt aus diesem Augenblick einen grandiosen Roman, voller
tiefgründiger Selbstreflexionen, mystischer Verwicklungen und
philosophischer Zwiegespräche, in einer Kulisse, die geradezu
prädestiniert ist für derartige Verquickungen:
Serbien in den Jahren 1998 und 1999.
Doch was hat es mit dem geheimnisvollen Manuskript auf sich, das der
junge Mann erhält und welches ein Eigenleben zu entwickeln
scheint, ständig seinen Text verändert, aber trotzdem
immer wieder zu einer homogenen Einheit wird? Es enthält zum
einen die Geschichte der jüdischen Gemeinde Belgrads, zum
anderen ein Bündel
kabbalistischer
Texte
und mystischer Lehren
von Gut und Böse. Dieses Manuskript scheint wiederum mit
anderen Dingen in seinem Leben im Zusammenhang zu stehen. Wurde er -
ein Nichtjude - gar als Retter der Juden auserkoren?
Alle Begebenheiten erweisen sich nach und nach als Teil eines
großen, klebrigen Netzes, in das der junge Journalist
offensichtlich bewusst eingebunden wird; in dessen Verstrickungen er
sich jedoch zusehends verirrt und nicht mehr befreien kann.
Dieses Netz symbolisiert den zunehmenden Nationalismus in seiner Heimat
und ganz konkret die eskalierende Situation der Juden; Gräber
werden geschändet, Ausstellungen jüdischer
Künstler zerstört: ein beängstigender
Antisemitismus, der sich während des Balkankriegs in Belgrad
tatsächlich entwickelte.
Zwiestreit zwischen Chaos und Ordnung
David Albaharis anspruchsvoller Roman erzeugt einen magischen Sog, dem
sich der Leser kaum entziehen kann. Er taucht ein in einen Text voller
Bilder und Klänge, der fast losgelöst von der Sprache
zu sein scheint, und wird von seiner Mystik und seinen mannigfaltigen
Andeutungen geradezu gefangengenommen.
Beinahe mühelos wechselt der Autor zwischen realer und
imaginärer, irrationaler Ebene, erzeugt "gespiegelte
Spiegelungen im Wechselspiel von Licht und Dunkel".
Er fordert den Leser heraus, die Gedanken von innen heraus zu
beobachten. Analytisches Denken und Logik sind beim Lesen hier fehl am
Platz. Chaos und Ordnung stehen ständig im Zwiestreit. Dieses
Buch beginnt nicht wie andere Bücher mit Fragen, die am Ende
beantwortet werden, sondern hier häufen sich die Fragen gegen
Ende, und die Antworten sind überall verstreut.
"Die Ohrfeige" ist keine geordnete Erzählung, in der die
Stränge harmonisch angelegt sind, sondern "eher ein
Abbild des Lebens, das immer chaotisch ist, da sich in ihm immer viel
zu viele Dinge auf einmal ereignen", meint sein
Erzähler.
Albahari versteht es großartig, zu täuschen, auf
eine Fährte zu locken, die sich an der nächsten Ecke
wieder zu verlieren scheint oder in eine andere Richtung
führt. Im selben Augenblick tauchen andere
Nebenstränge auf, die scheinbar losgelöst
nebeneinander herlaufen, im Endeffekt aber doch zu einem gemeinsamen
Strang verflochten werden, der das eigentliche Zentrum umkreist und
erst auf den letzten Seiten einen kulminierenden Höhepunkt
erfährt.
Ein ausgesprochenes Leseerlebnis
Durchaus hilfreich ist es, sich die politische Situation der damaligen
Zeit zu vergegenwärtigen. Das "Land war dabei
auseinanderzufallen, Bombendrohungen hingen in der Luft wie
überreifes Obst, Menschen zerbrachen, als wären sie
aus Legosteinen zusammengesetzt, der Irrsinn war nahe daran, zum
Normalzustand erklärt zu werden (...) Nie war die Wirklichkeit
so weit von der Wirklichkeit entfernt wie in jenen Jahren in Belgrad,
und noch nie hatte man so sehr darauf gepocht, dass dies die einzige
Wirklichkeit sei", stellt der Protagonist fest.
Dem Autor ist es gelungen, das Wesen der Welt und des Lebens auf das
Trefflichste zu beschreiben. "Beim Schreiben stehen unserer
Fantasie alle Wege offen, die Wirklichkeit jedoch gewährt uns
nur wenige Möglichkeiten und manchmal nicht einmal die",
so der Autor.
Sein Roman ist ein Abstrakt seiner ganz persönlichen
politischen Verzweiflung, eine Geschichte vom Kampf zwischen Gut und
Böse.
Und so lässt der ehemalige Vorsitzenden der jüdischen
Gemeinden Jugoslawiens den verstörten Helden am Ende erkennen,
dass "nicht [wir] Angst vor anderen [haben], sondern vor uns
selbst oder genauer gesagt, wir fürchten die
Veränderung, zu denen uns die Anwesenheit anderer verleiten
könnte. (...) Um andere zu hassen, müssen wir zuerst
uns selbst hassen wegen unserer Unzulänglichkeit oder
Schwäche, derer Ursache wir nicht bei uns, sondern bei jemand
anderem suchen, und zwar nicht bei irgendjemandem, sondern bei dem,
der
wegen seines Andersseins auffällt und - was noch wichtiger ist
- zu schwach ist, um sich zu verstecken oder sich zu wehren."
Fazit:
"Die Ohrfeige" ist kein fröhliches, aber ein beklemmend
eindringliches Buch. Es ist ein Ausflug in die
Schattenwelt
der Mystik, als Flucht vor dem, was die Welt und deren Wirklichkeit
war/ist.
Nicht zuletzt dank der großartigen Übersetzung aus
dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann ist dieser
bewundernswerte Roman ein ausgesprochen tiefgründiges,
überwältigendes und fantastisches Leseerlebnis.
Eine unbedingte Leseempfehlung für all diejenigen, die
anspruchsvolle Literatur mögen.
(Heike Geilen; 01/2008)
David
Albahari: "Die Ohrfeige"
(Originaltitel "Pijavice")
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann.
Gebundene Ausgabe:
Eichborn, 2007. 367 Seiten.
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Taschenbuch:
dtv, 2010. 367 Seiten.
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David
Albahari, geboren am 15. März
1948 in Peć im ehemaligen Jugoslawien, studierte englische Literatur
und Sprache an der Universität von Belgrad. Er lebt seit 1994
in Calgary, Kanada und arbeitet als
Schriftsteller und Übersetzer.
David Albahari starb am 30. Juli 2023.
Weitere Bücher des Autors:
"Der Bruder"
Wer ist der Verfasser des geheimnisvollen Briefs, durch den schlagartig
alles aus den Fugen gerät? Das fragt sich Filip, der allein in
einer zugestellten Wohnung lebt und sich in seinen Memoiren einen
Verlierer nennt. Ist der Absender ein Betrüger oder wirklich
der in Argentinien verschollene Bruder, von dem Filip bisher nichts
ahnte? Ein Treffen im "Brioni" soll dieses Rätsel
lösen. Doch Filips einstige Stammkneipe ist ebenso wie bald
sein ganzes Leben nicht mehr wiederzuerkennen. Früher, nach
dem Tod der Eltern und der Schwester, betrank er sich hier an
unzähligen Abenden unter ruppigen Kellnern und wortkargen
Kumpanen. Daran ist in dem so ganz anderen Ambiente nicht mehr zu
denken, erst recht nicht, als der vermeintliche Bruder auftaucht.
Der Balkan hat sich verändert und ist doch erschreckend gleich
geblieben wie der große serbische Romancier David Albahari
mit diesem fantastischen Aufeinandertreffen klarmacht. Eine
schmerzhafte Parabel, eine fulminante literarische
Identitätssuche voller schwarzem Humor. (Schöffling
& Co.)
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"Mutterland"
"Womit soll ich anfangen?" Als der Mann in den
mittleren Jahren diese Frage nach mehr als 14 Jahren wieder
hört, ist sein Erschrecken groß. Eher
zufällig hat er in seinem kanadischen Exil die Spulen mit
alten Tonbandaufnahmen gefunden, auf denen ihm seine inzwischen
verstorbene Mutter ihr Leben erzählt. Die unverhoffte
Wiederbegegnung mit einer ihm vertrauten Sprache, die sich aus dem
Schatten der Vergangenheit in seine trostlose Gegenwart schleicht,
holt
eine längst vergessen geglaubte Zeit zurück. Er ist
sofort gefangen von der Macht und Unmittelbarkeit der Erinnerung, der
Stimme jener Frau, die ihm so vertraut und doch so unbekannt geblieben
ist - seine
Mutter,
in deren gesprochenen Lebensspuren sich auch die
wechselvolle Geschichte seines Heimatlandes, seiner Familie und die
seines eigenen Schicksals spiegelt.
Durch die virtuose Verflechtung von Erinnerungsebenen gelingt es David
Albahari, der Persönlichkeit einer ungewöhnlichen
Frau und der Geschichtslosigkeit seines Exils eine eigene Stimme zu
geben. Dramatik und Drama eines fast sprachlos machenden Schicksals
werden immer wieder gebrochen und verleihen dem Roman trotz aller
Intensität eine bewundernswerte Leichtigkeit.
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"Götz
und
Meyer"
Vor sechzig Jahre fuhren zwei Männer in einem Lastwagen jeden
Tag von Belgrad nach Jajinci: Götz, der Fahrer, und Meyer, der
Beifahrer.
Hätten sie nicht
unterwegs angehalten und das Ende des Auspuffs mit einer
Öffnung im Boden des
Kastens verschraubt, und wäre der Kasten nicht voller Juden
gewesen, niemand hätte
sich später dafür interessiert.
Der namenlose Erzähler aber, ein Belgrader Lehrer,
interessiert sich dafür, weil auf dem Lastwagen auch seine
Verwandten waren. Er beginnt zu
recherchieren, wühlt in Dokumenten, versucht zu begreifen. Je
näher
er dem Wissen kommt,
desto ferner ist er; je mehr er sich Götz und Meyer
vorzustellen sucht, desto
schemenhafter werden ihre Gesichter ...
In der Besessenheit und Verzweiflung des namenlosen Erzählers
spiegelt David Albahari mit subtiler Meisterschaft die höhere
Wahrheit des
Erzählens: Nicht in der Objektivität des Faktischen
wird das Grauen des
Holocaust begreiflich, sondern in der Macht und Ohnmacht der
subjektiven Erinnerung.
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"Fünf
Wörter"
"Ich verriet nicht, was ich jetzt weiß: es geht
nicht nach unserem
Willen, vielleicht nach einem fremden, aber nicht nach unserem. Wir
sind nur Zeugen des eigenen Lebens ... Ich blieb sitzen wie ein
Blinder,
während eine
Stimme aus dem Weiß Worte in verschiedenen Sprachen rief, von
denen keine mehr die meine war."
In Albaharis Erzählungen geht es um Sprach- und
Heimatlosigkeit,
die Last der Erinnerung und die Einsamkeit des Menschen.
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"Ludwig"
Eine beglückend leichtfüßige Suada
über Betrug, Verrat und die
Eifersucht
des Erfolglosen.
Die langjährige Freundschaft zweier Schriftsteller - der eine
Ludwig, der
andere der namenlose Ich-Erzähler - ist in die Brüche
gegangen. Der Ich-Erzähler
sieht sich von seinem besten Freund grausam hintergangen. Seine Idee
für ein
Buch der Bücher - Abend für Abend hat er sie seinem
bewunderten Freund, dem
Erfolgsautor, immer wieder vorgetragen, in langen Diskussion
verfeinert, und
dann das: Ludwig veröffentlicht das Buch unter eigenem Namen -
und wird zum
gefeierten Star der Epoche. In einer einzigen
Litanei versucht der
Ich-Erzähler, sein Unrecht und die Unverfrorenheit seines
einst besten Freundes
in Worte zu fassen. Immer wieder durchlebt er Szenen und Begegnungen,
um dem Betrug auf die Spur zu kommen - und offenbart sich in den immer
grotesker werdenden Umkreisungen und Obsessionen als der, der er
wirklich ist:
der eigentliche Betrüger. (Eichborn)
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