Verloren in
Amerika
New York
Obwohl wir noch nicht weit
von Warschau entfernt waren ... kam es mir vor, als sei ich schon im Ausland.
Ich wusste, dass ... Warschau, Polen, der Schriftsteller-Klub, meine Mutter,
mein Bruder Mosche ... schon in den Bereich der Erinnerung eingegangen
waren.
Es wird eine lange Reise. Er muss - damit der Preis nicht ins
gänzlich Unerschwingliche steigt - über Deutschland fahren, das damals, 1935,
bereits Nazi-Deutschland ist.
Viele Juden haben ihre erste Begegnung mit der Hakenkreuzflagge beschrieben
und den Schock, den diese in ihnen auslöste. Von einer Regierung zu lesen, die
Juden systematisch beschimpft, verfolgt und erniedrigt, ist das eine; sich ihrem
realen Symbol gegenüberzusehen und ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu
sein, etwas anderes. Wir hatten das Land der Inquisition betreten. Wie bei
allen anderen
Inquisitionen blieb die Sonne auch heute neutral. Sie ging auf, und ihr
Licht beschien Balkone, die mit Naziflaggen geschmückt waren. Es war der siebenundvierzigste
Geburtstag des "Führers".
Ein magischer Moment in Berlin - als im Zugabteil sein
Name ausgerufen wird. Der Reiseagent aus Warschau hat dafür gesorgt, dass sein
eigentlich areligiöser Kunde mit dem vorgeschriebenen ungesäuerten Matze-Brot
versorgt wird. Eine Packung desselben hat sich Singer später, zur Zeit der acht
Tage des Pessachfestes, immer auf den Tisch gestellt.
Ein magischer
Moment in Paris, wo er ebenfalls erwartet wird - diesmal von einem jüngeren
Adepten der jiddischen Literatur, der ihn, den Autor des "Satan in Goraj", am
Bahnhof empfängt und in Paris herumführt.
Die Überfahrt wird zur Qual.
Der arrivierte junge Literat aus Warschau fallt auf der Schiffsreise in eine
tiefe Depression. Er fühlt sich wieder wie im Rabbiner-Seminar in jeder Hinsicht
fehl am Platz, vergisst die Nummer seiner Kabine, muss sie mühsam suchen,
behauptet hartnäckig, er sei Vegetarier (was er damals noch gar nicht ist), ist
sich für den Koscher-Tisch zu gut, legt sich mit anderen Passagieren an, lässt
sich trotzig den einen, miesen Einzeltisch zuweisen - und kommt sich in seiner
Einzelkabine, einem dunklen, fensterlosen Loch, das an die Zimmer seiner
Anfangszeit in Warschau erinnert, vor "wie eine Seele ohne Körper".
Nach
fünf Tagen erlöst ihn eine Frau. Er begegnet ihr, in der klassischen Pose des
Überseereisenden, beim Lesen im Liegestuhl, den er sich schließlich doch
gemietet hat, auf dem Promenadendeck. Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig, weiße
Bluse, grauer Rock. Dunkler Teint mit Aknenarben. Einen in Samt gebundenen
Gedichtband,
"Fleurs du Mal" von Baudelaire, in der Hand. Singer liest einen
Philosophieband von Bergson. Er schenkt ihr weiter keine Beachtung - in der
Annahme, dass sie, mit dem französischen Buch auf dem französischen Schiff, wohl
ohnehin nur Französisch kann. Plötzlich wendet sich ihm die Liegestuhlnachbarin
zu und spricht ihn in etwas zögerndem Warschauer Jiddisch an. Bergson
habe sie auch schon lange lesen wollen, sei aber nie dazu gekommen. Ich war
so überrascht, dass ich vergaß, verlegen zu sein. "Sie sprechen
Jiddisch?"
Die
Nachbarin, die seine Zeitung gesehen hat, erzählt ihm ihre Lebensgeschichte: Ihr
Vater war ein frommer Jude, der zur anglikanischen Hochkirche konvertierte und
nun als Missionar in Warschau tätig ist, sie selbst fühlt sich zwischen alle
Kulturen geraten. Die Eltern unterhalten sich nach wie vor auf Jiddisch, ihr
Vater, der Pastor, liest jedes jiddische Buch. Während man sie, die Tochter des
Konvertiten, im standesbewussten England ausschließlich als Fremde und
Ausländerin wahrnimmt. Ob er ein jiddischer Autor sei?
"Ich versuche,
einer zu sein."
Sie will seinen Namen wissen. Den er ihr
nennt.
Worauf sie sich als "Zofia oder Zosia" vorstellt. Bis zu ihrer Taufe
habe sie "Reize Gitl" geheißen.
Er erzählt ihr von seiner Kabine, wo er
sich nun sein Essen servieren lässt - und mit dem Kellner nicht zurechtkommt.
Sie fordert ihn auf, sich an ihren Tisch zu setzen. Der ohnehin halb leer sei.
Was er denn tut. An Zosias Seite bekommt er ein anständiges vegetarisches Essen
vorgesetzt; und als die wenigen anderen Gäste gegangen sind, unterhalten sie
sich wieder in der "Muttersprache" (wie Jiddisch auf Jiddisch
heißt).
"Ich glaube nicht an Wunder, sagte ich, "aber unser heutiges
Zusammentreffen ist für mich ein Wunder." Das sieht Zosia nicht anders. Die
mit ihren Kabinennachbarinnen, jungen Engländerinnen, nicht kann, und kein
vernünftiges Wort mit jemandem gewechselt hat.
Schließlich ziehen sie
sich in Singers finstere Kabine zurück, wo verblüffenderweise zum ersten Mal ein
gutes Essen auf ihn wartet - einschließlich einer Flasche Wein. Sie bleiben bis
ein Uhr früh beisammen, trinken den Wein und essen den Fruchtsalat. Sie sind nun
so vertraut, dass er ihr von seinen Beziehungen erzählt, von Gina, Stefa, Lena
und Esther. Nach einiger Zeit fragte ich sie, und sie gestand, noch Jungfrau
zu sein.
Sie erzählt von ihrer großen Liebe, einem katholischen
Professor. Der sie sogar heiraten wollte. Aber dafür hätte sie zum Katholizismus
konvertieren müssen. Und: "Zwei Mal zu konvertieren wäre eben selbst für
eine so Ungläubige wie mich zuviel gewesen."
Mit dem Professor hat
sie es eine Nacht lang versucht - aber ohne Erfolg. Sie fürchtet, zu ewigem
Jungfrauendasein verurteilt zu sein.
"Jemand wird Ihnen den Gefallen
tun."
"Nein, ich werde so ins Grab sinken."
Als der Dampfer in
Manhattan anlegt, holt ihn Israel Joshua am Pier ab. Er wirkt gealtert, mit
einem dünnen Streifen grauer Haare um die Vollglatze.
Singer hat den Tag der Ankunft, mit vielen Schattierungen und Einzelheiten,
ausführlich geschildert und dabei seine anfängliche Unbehaustheit in der Neuen
Welt vermittelt, die jahrelang anhalten sollte. Polen, zwischen
Hitler
und Stalin eingezwängt, unter einem autoritären Militärregime stark faschisiert,
mit einem immer rabiater werdenden Antisemitismus, war für den Juden und Antikommunisten
Singer alles andere als ein sicherer Aufenthaltsort - darum trieb es ihn ja
weg. Aber es war das Land und die Welt, wo er sich zu Hause fühlte. Wo er jede
Nuance verstand. Mit einer Kultur, die, soweit sie ihn betraf, ganz selbstverständlich
jiddischsprachig war. Nun ist er in einer Welt angekommen, wo das Jiddische,
auch unter Juden, einen ganz anderen Stellenwert hat: den eines Minderheitendialekts.
Dem kein besonders hoher sozialer Status zukommt. In Polen war er mit seinen
Sprachkenntnissen - Jiddisch, Polnisch, Hebräisch,
Deutsch, ein bisschen Französisch,
ein bisschen Russisch - ein gebildeter Mann. Hier ein ungeschlachtes Greenhorn,
das außerhalb seines Sprachghettos auf Dolmetscher und Vermittler angewiesen
ist. Singers Unangepasstheit zeigt sich in der Kritik der anderen an seiner
Kleidung - gewiss seine besten Sachen, da er bei den Grenzbeamten einen guten
Eindruck machen wollte:
Hier trage kein
Mensch einen steifen Kragen, einen so schweren Anzug wie meinen oder einen
schwarzen Hut. Auch Westen trage niemand mehr. Und so bleibt ihm nichts
anderes übrig, als Jackett, Kragen und Krawatte auszuziehen - eine erzwungene
Lockerheit, in der sich Singer befangen und unfrei fühlt.
Nach einigen
scherzhaften Bemerkungen über Singers zu breite Hosenträger kommt Israel Joshua
auf die Zukunft des jüngeren Bruders zu sprechen. Er werde "so oder so" im Land
bleiben. Ein, zwei Jahre werde sich das Besuchsvisum verlängern lassen "und
ich werde alles tun, um dich davon abzuhalten, zurückzugehen. Drüben wird bald
die Hölle los sein."
In Singers Erinnerungen weist er ihn auch auf
die Möglichkeit einer Heirat mit einer Amerikanerin hin. Was eine versteckte
Anspielung auf Runya, Singers bisherige Lebensgefährtin, gewesen wäre. Beide,
Bruder wie Schwägerin, waren mit Singers Trennung von Runya nicht einverstanden
gewesen, und Singer hat wiederholt darauf hingewiesen, dass er sich wegen seiner
"Frauengeschichten" vor dem älteren Bruder genierte - ohne von ihnen lassen zu
können oder zu wollen.
Israel Joshua hat einen neuen Roman geschrieben,
"Die Brüder Aschkenasi", der in der polnischen Textilstadt Lodz zu Anfang des
Jahrhunderts spielt; über ein ungleiches Brüderpaar, dessen negativer Held, ein
krankhaft ehrgeiziger, äußert intelligenter, schmaler, sommersprossiger junger
Mann, nur seinen Erfolg im Sinn hat, und äußerlich wie innerlich an den jüngeren
Bruder erinnert. Dass dieser allerdings der eigenen Frau, die denselben nur aus
Familienrücksichten geheiratet hat, jahrelang vergeblich den Hof macht, um sie
auch seelisch für sich zu gewinnen, muss in Bezug auf das potenzielle Vorbild
als künstlerische Freiheit gelten. Der spannend geschriebene und klar
strukturierte Roman, in dessen Schlusskapiteln der negative Held in immer
freundlicherem licht erscheint, wird ins Englische übersetzt und von Alfred
Knopf, dem amerikanischen Verleger
Thomas Manns, herausgebracht.
Doch
trotz des beruflichen Erfolges geht es der Familie des Bruders nicht besonders
gut. Alle drei sind nach wie vor von dem vor zwei Jahren erfolgten Verlust des
Ältesten gezeichnet.
Singer berichtet, dass ihn die Schwägerin bei seiner
Ankunft nicht mit einem Abendessen erwartet hat, und dass sie alle bei ihrem
Hauswirt eingeladen waren, dem Bruder eines bekannten jiddischen Literaten -
dessen Kinder kein Wort Jiddisch können.
Auch Israel Joshuas Sohn Joseph, der
in Polen mit Polnisch aufgewachsen ist, spricht nun Englisch, so dass sich sein
Onkel kaum mit ihm verständigen kann. Kenntnisse, die
Isaac Bashevis
Singer, von dem er wesentliche Werke übersetzen wird, später sehr zugute
kommen werden. Damals tragen sie mit zur Entfremdung bei, mit der dieser auf
seine neue Umgebung reagiert. Er macht einen Spaziergang - wo er sich prompt
verirrt, was er schon damals auf seine innere Befindlichkeit und nicht auf die
komplizierte Topografie von Seagate zurückführt. Wo er sich denn unvermittelt
wieder zurechtfindet. Er sieht dem Bruder durchs Fenster bei der Arbeit zu - und
kann sich erst jetzt, aus der Distanz heraus, über seine liebe und Dankbarkeit
zu ihm klar werden.
Dann begibt er sich in sein Zimmer und legt sich
angezogen im Dunkeln hin. Ich hatte alle Wurzeln, die ich in Polen gehabt
hatte, ausgerissen und wusste bereits, dass ich hier bis zu meinem letzten Tag
ein Fremder bleiben würde.
(Aus "Isaac Bashevis Singer" von Stephen
Tree.
Aus dem Spanischen von Petra Strien.)
Er schrieb in einer Sprache, die als
aussterbend galt. Im amerikanischen Exil. Wo entsprechende Buchladenbesitzer -
jedenfalls in einer seiner Geschichten - weniger das Bestohlenwerden als das
Einschmuggeln weiterer unverkäuflicher Werke fürchteten: Isaac Bashevis Singer.
Nobelpreisträger
für Literatur 1978.
Ein Mann der Widersprüche, von Anfang an. Der Sohn
eines frommen chassidischen Rabbiners, der der elterlichen Welt in die Literatur
entflieht, um sie mit der ganzen Kraft seines Talents schriftstellerisch wieder
zu beleben. Der sich in seinen Arbeiten fast ausschließlich auf die eng
begrenzte Sphäre des jiddischsprachigen Judentums bezieht und daraus
Weltliteratur gestaltet.
Den rabbinischen Familienauftrag künstlerisch
weiterführend, indem er die Eindeutigkeit des religiösen Gerichtshofs um die
Einsicht in die Fehlbarkeit des modernen Menschen erweitert, dem keine
Leidenschaft und Schwäche fremd ist, wenngleich er um die Scheidung von Gut und
Böse weiß. Ein Leben lang in komplizierte Liebesbeziehungen verwickelt und 50
Jahre glücklich verheiratet. Am eignen Hang zur Zeitvergeudung leidend und
Schöpfer eines belletristischen Werks, das an Vielfalt und Umfang seinesgleichen
sucht. (dtv)
Buch
bestellen