Leseprobe aus "Ein Nilpferd in Lund. Reisebilder"
von Claudio Magris
Die
Inseln der Seligen
Das Boot, das auf Tresco anlegt, fährt nur eine kurze Strecke
übers Meer,
doch der Passagier, der seinen Fuß auf die Insel setzt, hat
das Gefühl, eine
viel längere Reise zurückgelegt zu haben, von einer
Halbkugel zur anderen, von
Nordeuropa in die Südsee; er hat ein paar
Stunden zuvor - oder zwanzig Minuten, wenn er
den Hubschrauber nimmt - in Cornwall die
Westspitze von Großbritannien hinter sich
gelassen und befindet sich nun in einer tropischen Vegetation,
zwischen Agaven und Palmen, australischem Eukalyptus,
Iris und blauvioletten Lilien aus Südafrika,
Orchideen,
Büschen von purpurroten Mittagsblumen und scharlachfarbenem
Natternkopf, der sich erhebt wie ein keckes
erotisches Zeichen.
Tresco ist eine von den über dreihundert Inseln, die im
Atlantischen Ozean den Archipel der Scilly-Inseln
bilden, sechsundzwanzig Meilen westlich von
Land's End, wo Cornwall endet. Es gehört zu den
sechs bewohnten Inseln, mit der Hauptinsel St. Mary's, wo
die Fähren und Schiffe aus Großbritannien anlegen.
Auf der
Seite, die dem offenen Meer zugewandt ist, seinen
Sturzwellen und seinen Stürmen, sind die Scilly-Inseln
rauh und kahl, so auch Tresco, doch auf der Innenseite, die
zu St. Mary's zeigt, dieser gleichfalls milden und blühenden
Insel, haben der Golfstrom sowie der geniale Augustus
Smith und sein Neffe und Nachfolger Thomas Algernon Smith-Dorrien, die
der Insel und der Blumenzucht im
vergangenen Jahrhundert zu einem unglaublichen Aufschwung
verhalfen, ein Paradies geschaffen, eine Insel der
Alcina,
einen Garten der Armida.
Augustus Smith wurde 1834 "Lord Proprietor" der Scilly-Inseln und
ließ Schulen und Leuchttürme
bauen und auch Abbey Garden, die Abtei von Tresco
mit ihren Gärten, die Algernon Smith-Dorrien
vervollkommnete, indem er Blumen und Pflanzen aus aller Herren
Länder
anpflanzte und so regelrecht eine blühende
Industrie schuf, doch der Ursprung dieses Gartens Eden der
Scilly-Inseln, die doch jahrhundertelang bettelarm gewesen
waren, liegt viel weiter zurück.
Die ersten kostbaren Zwiebeln
exotischer Blumen wurden im 12. Jahrhundert von den
Benediktinern eingeführt, diesen Christen, die wie
Odysseus reisten,
die sich unerschrocken in die weite Welt aufmachten und
sich in fremden Ländern ansiedelten, um die Liebe
zur Wahrheit und zum Wissen zu lehren und auch die stabilitas
loci, die intensive, stille Liebe zur Heimat, durch die
man sein ganzes Leben an einem abgelegenen Fleckchen
verbringen und sich in der Welt zu Hause fühlen kann, ohne den
Drang zu haben, fortzugehen und zu fliehen. In
Tresco ist der Ort der alten Klosterkirche noch zu besichtigen.
Doch so, wie die Suche nach jedem
Paradies stets weiter und weiter in die Vergangenheit führt,
bis sie sich in einer fernliegenden Nichtzeit verliert,
geht auch das Paradies der Scilly-Inseln auf noch viel ältere
Ursprünge zurück. Sie waren die Kassiteriden der
Phönizier,
reich an
Zinn und sorgsam vor anderen vorbeikreuzenden
Seefahrern verborgen. Der Legende nach waren sie vor allem
die Inseln der Seligen, einer der möglichen Orte
der elysischen Gefilde, der Hesperiden, jener Inseln der
Glückseligkeit,
die reich an Blumen und Korn waren, wo ein
ewiger Sommer herrschte und wo die Helden, nachdem
sie übers Wasser gekommen waren, das Land der ewigen
Jugend und der Unsterblichkeit fanden.
Die Scilly-Inseln und besonders
Tresco verdienen es durchaus, mit den Inseln der Seligen
gleichgesetzt zu werden, mit den Hesperiden und mit dem Paradies,
das Stevenson und Gauguin
in der Südsee suchten; ein
Leben ohne Zeit, Ewigkeit des Meeres, Glückseligkeit
ohne
Erbsünde
und ohne Geschichte. Der Zauber ist
vollkommen, steht still; trockene, klare Helligkeit, Triumph der
Lebenskraft in all ihren Formen und Farben, Vielfalt der Pflanzen und
Vögel; Möwen und Reiher, Kormorane und
Sturmvögel,
Stockenten und Strandläufer, Brachvögel und
Stare. Als wir an einem Tisch unter den Bäumen essen,
kommen viele dieser Vögel, um uns aus der Hand oder vom Teller
zu fressen wie im Märchen. Die Spatzen, die
zutraulichsten und gierigsten von allen, reißen den anderen
die
Bissen aus dem Schnabel und uns die Bissen aus der Hand.
Doch jedes Eden, Land der
Unsterblichkeit, ist auch ein Land des Todes, der Ort jenseits des
Wassers, wo die anstrengende und vertraute Bedeutungslosigkeit
des Lebens zum Stillstand kommt. Die Inseln der
Seligen sind auch das Land der Toten, einer Sonne, die
niemals untergeht, die jedoch auf ein anderes Leben scheint, auf ein
vollkommenes Leben und daher eines, das dem
der Menschen fremd ist. Die Scilly-Inseln sind
wie Cornwall mit der keltischen Sage von Lyonesse verbunden
- alias Lethowsow, wie es auf cornish, dem
Dialekt oder der Sprache Cornwalls, heißt -, dem vom Meer
verschlungenen und von der Erde verschwundenen Land, und auch
mit der Sage von Artus, dem verschollenen König,
dessen Grabstätte viele Orte für sich beanspruchen,
obgleich es heißt, er sei nie gestorben; die
magische Welt um Artus ist ein
melancholischer Wasserzauber, dämmerig und lunar,
Leben, das sich in die Unwirklichkeit des Märchens
und des Todes zurückzieht.
Das unerklärliche Meer hat zwei
Gesichter. Am Strand, angesichts der offenen Weite, doch
auch zwischen den Klippen und den kleinen Inseln ist
es das Meer der Unwetter und der Orkane, der mehr als
dreihundert Schiffbrüche, die sich seit dem 17. Jahrhundert
bis heute vor den Scilly-Inseln ereignet und viele
Menschenleben gekostet haben: Es ist der Ort des Abenteuers und
der Herausforderung, der Prüfung, des Kampfes.
Andererseits ist es der Ort der Glückseligkeit, der Ort der
großen
Überzeugung und der großen Hingabe, des unbedingten
Ja,
das man zum Leben sagt, während man sich in jener
Harmonie mit dem reinen, absoluten Sein, die die vielleicht
freieste, intensivste und seligste Wahrnehmung der Welt ist,
ohne irgendeine Aktivität oder irgendeine Bestimmung und im
langsamen, leeren Kreisen der Stunden in den Wellen
treiben lässt oder am Strand liegt. Vielleicht ist es
auch die Erinnerung an das Fruchtwasser, an das Urmeer, aus
dem unsere
Spezies stammt, und an das, was wir am
Anfang unserer individuellen Existenz erfahren haben.
Zumindest jetzt, in diesen Tagen,
widersprechen die Scilly-Inseln - und auch viele Buchten
von Cornwall, Sennen Cove, Botallack, Carbis Bay
- einer Meeresbeschreibung von La Capria, die ich sehr liebe,
einer Stelle aus der Armonia perduta,
in der er das eintönige metallische Grau des Ozeans dem
durchscheinenden,
lichtvollen Blau des Mittelmeers gegenüberstellt, dem Meer der
Götter
und der Formen und nicht des konturlosen
Leviathans. Heute ist der Ozean rings um die Scilly-Inseln
klar und transparent, mit türkisfarbenem Grund
und
kobaltblauen Flecken, mit der Leichtigkeit des himmelblauen
Saums und dessen schneeweißem Schaum und mit der
unsagbaren Tiefe des Indigos. Doch auch dieser Zauber hat
zwei Seiten, ist doppeldeutig; er besitzt die
Unerschöpflichkeit
des Lebens und den Reiz des Todes. Im übrigen hat
auch das blaue und violette Meer der Kalypso in der Odyssee einen
tödlichen Zauber, wie
der
Gesang der
Sirenen. In jeder
Glückseligkeit des Meeres steckt auch Melancholie,
steckt das träge Vergessen der Lotophagen, das Tennyson, der
von diesen Inseln faszinierte Dichter des Todes von König
Artus,
im Meer erblickte und das einem Versinken im Wasser,
einem Versinken in den Schlaf gleicht.
Das Meer ist absolut, so intensiv,
dass es manchmal schmerzhaft wird. In diesen Farben
des Wassers und des körnigen Sandes, der es in
einem
hellweißen Leuchten erstrahlen lässt, entledigt man
sich all dessen, was banal, unwesentlich, relativ ist: Man
möchte dem Leben
auf den Grund kommen, sich von allen Räderwerken
der Existenz befreien, die uns am Leben hindern,
die Mechanismen der Rhetorik ablegen, wie man seine
Kleider ablegt. Man entfernt eine Schale des falschen Lebens nach
der anderen, um das wahre Leben, das Glück, zu
packen, und man hat das Gefühl, sich einem Kern zu
nähern,
der so wesentlich ist, so rein, dass er dem Nichts
gleicht. "Denn Liebe zum Meer", sagte Thomas Mann,
"ist
nichts anderes als Liebe zum Tode", und die Abschiedsworte
von Shakespeares
Prospero kamen ihm in den Sinn:
"and my
ending is dispair". Dieses Gefühl entsteht, weil uns
das Meer für einige Augenblicke die Überzeugung
erkennen
- und
auch genießen, berühren, besitzen - lässt,
jene
Befriedigung, jene Fülle, die wir gern immerfort
hätten.
Die Bewohner der Scilly-Inseln
hatten über die Jahrhunderte wenig Zeit für solche
Meeresmetaphysik. Der Ozean war für sie der Fischfang,
anstrengend und nützlich. Er war der Krieg, der feindliche
Schiffe
brachte, spanische oder holländische. Vor allem aber
bedeutete er Gefahr, Unwetter und Stürme, in epischen und
nüchternen
Berichten beschriebene Orkane, zahllose Schiffbrüche.
Letztere wurden von den Inselbewohnern allerdings
gar nicht ungern gesehen. Es heißt, sie hätten zwar
nicht
direkt darum gebetet, dass Gott die Schiffe untergehen ließ,
wohl aber darum, dass, wenn es denn der göttliche
Wille war, dass ein Schiff versank, es dies doch wenigstens
vor
den Scilly-Inseln tat, damit sie die Ladung an sich bringen
konnten.
Reiseführer und Geschichten über
die Inseln bestreiten kategorisch, dass die Bewohner nachts am Ufer
eine Lampe an den Schwanz eines Esels oder
einer Kuh gebunden hätten, um die Schiffe in die Irre zu
führen
und sie auf die Klippen zu locken, doch man erzählt sich
von einem Reverend, der einmal seine
Predigt
auf der
Kanzel unterbrach, um die ihm in diesem Augenblick überbrachte
Nachricht zu verkünden, dass ein Schiff an den Felsen
zerschellt sei. Nach einer Weile, als er seine Predigt
beendet hatte, stieg er von der Kanzel und sagte, als er an der
Kirchentür angelangt war, es sei noch ein weiteres Schiff
gestrandet, doch er verrate das erst jetzt, weil es nur recht
und billig sei, wenn alle gleichzeitig losliefen, um die
Sachen an sich zu raffen. Neben den Schiffbrüchen ist auch
der Schmuggel eine unerschöpfliche Quelle vieler Geschichten,
Überlieferungen und Anekdoten; da gibt es eine ganze
Reihe vitaler, bizarrer Gestalten, angefangen bei Reverend
John Troutbeck, dem Verfasser einer gelehrten Schrift
aus dem Jahr 1794 über die Scilly-Inseln, der jedoch ein
ebenso eifriger Schmuggler war, so dass er die Insel
schließlich
verlassen musste, bis hin zu dem berühmten John Carter,
der in Cornwall agierte, "der König von Preußen"
genannt
wurde und auch einer Bucht seinen Namen gab.
Eine liebenswerte Unbefangenheit
herrscht auch bei den Heiligen, wie etwa der irischen
Saint Warna, die auch Santa Juana sein
könnte, ein spanisches Schiff, das an den Klippen zerschellte
und von den
Inselbewohnern daher doppelt gepriesen wurde. Das
keltische Christentum spielt eine große Rolle in der
Geschichte
und vermischt sich besonders in Cornwall und auf den
Scilly-Inseln mit Mythen und Märchen; Heilige und Riesen, die
sich
gegenseitig ärgern, doch auch miteinander flirten,
Heilige, die Brunnen und vor allem auch wundertätige
Fische lieben, unternehmungslustige Heilige wie Saint Brychan, der mit
drei Ehefrauen, diversen Konkubinen, vierundzwanzig
Söhnen und fünfundzwanzig Töchtern
übers
Wasser gekommen war, die am Ende alle heiliggesprochen
wurden.
Die Scilly-Inseln hatten und haben
eine eigene Literatur, auf die sie stolz sind; kleine
Buchläden
und Kioske legen Romane mit Titeln wie Hell Bay von
Sam Lleweillyn aus oder Die Sturminseln von Ann
Quinton, und viele Lieder besingen Wellen und Muscheln. Eine
robustere Dichtkunst beseelt dagegen die lebensprallen,
ironischen
Grabinschriften
für die Ertrunkenen und die alten
phantastischen Geschichten von Magie und Hellseherei, von
spukenden Seeleuten, von Hexen und von Sirenen, wie etwa
der, deren Bild in der Kirche von Zennor in Cornwall aufbewahrt wird
und die den frommen,
psalmensingenden Priester in die Fluten lockte.
Der Dichter der Scilly-Inseln ist
Robert Maybee, der von 1810 bis 1891 lebte, Analphabet und
mündlicher Erzähler von uralten Bräuchen,
Kriegen und
Unwettern, ein Sänger von Balladen, die von einer epischen
Vertrautheit mit dem Meer, mit dem Tod, mit Gottvater
durchdrungen sind. Die bekannteste Dichterstimme heute ist
die auf den Scilly-Inseln lebende Mary Wilson, die Frau
von Harold Wilson, dem früheren Premierminister und
Labourmitglied. Ihre Gedichte besingen das Blau und das
Violett des Meeres, die Kirchen im Gold der Narzissen, das
Tosen der Brandung und machen aus ihr die Idealgestalt eines
offiziellen Heimatdichters mit dem beinahe schon
amtlichen Posten jenes "Poeten der Stadt", um den Thomas
Mann voller Ironie und Nostalgie den alten,
geschliffenen Emanuel Geibel beneidete, dessen Denkmal einen
kleinen Park in Lübeck schmückt. All diese Literatur
ist
natürlich auf englisch. Trotz einiger linguistischer und
literarischer Versuche in jüngster Zeit, das Kornische
wiederzubeleben, ist es im Unterschied zu den anderen keltischen
Sprachen
fast völlig verschwunden. Darüber kann man sich
mit den Fragmenten geistlicher Aufführungen aus dem
Mittelalter hinwegtrösten, in denen Gott kornisch spricht und
der Teufel englisch.
Auf den Scilly-Inseln gibt es, wie
in ganz Cornwall, archaische Spuren aus der Zeit der
Druiden,
große
Felsblöcke, die Gräber und Grabkammern markieren,
geheimnisvolle Megalithe, rätselhafte Symbole aus Urzeiten.
Die Merry Maids in der Nähe von Penzance
in Cornwall bilden einen Kreis
aus neunzehn wuchtigen Steinen,
vielleicht eine antike Opferstätte oder wer weiß,
was
sonst, wo alljährlich der Gorsedd
stattfindet, die Zusammenkunft der Barden, die die
Erinnerung an das keltische Erbe
wiederbeleben wollen. Natürlich spürt man zwischen
diesen Steinen die Ehrfurcht vor der dunklen, entschwundenen
Vergangenheit, für die Ahnen der Menschheit und der
Zivilisation, die immer gemeinsame Ahnen sind. Doch dieser Respekt,
dieser Sinn für das Geheimnisvolle bezieht sich
auf die Schlichtheit des Lebens, das verstreicht und
verschwindet, auf die Steine und auch auf die Kühe, die mit
dem
Geheimnis ihres Tierlebens friedlich zwischen ihnen grasen.
Wir können und müssen für die
Druiden pietas empfinden und natürlich
mehr noch für die
Opfer ihrer Rituale, denn sie waren arme Teufel
wie wir und
hatten es gewiss schlechter als wir. Doch die keltische
Tradition verkommt bisweilen zur Mode einer Esoterik für
Eingeweihte, zu einem künstlichen Neuheidentum, zu einem
gefälligen Aberglauben. Dieser Kult des Geheimnisvollen, der
Magie und der Uranfänge ist wie jede irrationale
Koketterie stets eine kitschige Geschmacklosigkeit. Um wie vieles
tiefer als jedes sibyllinische Ritual ist da das alte
kornische Sprichwort über die drei schönsten Dinge
der
Welt: "Eine Frau mit einem Kind, ein Boot mit gesetzten
Segeln und ein im Wind wogendes Weizenfeld.
9. Juli 1989
Claudio
Magris: "Ein Nilpferd in Lund.
Reisebilder"
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Carl Hanser Verlag, 2009. 224 Seiten.
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Claudio Magris, weit gereister Schriftsteller aus Triest, schreibt über das Reisen als Leben und als Überschreitung von Grenzen aller Art. Hier besucht er das Grab von Goethes Lotte und wandelt in Spanien auf den Spuren von Don Quijote. In Leningrad besichtigt er die ärmliche Wohnung, in der Dostojewski "Raskolnikoff" geschrieben hat. In Schweden entdeckt er das Lunder Heimatmuseum, wo ein Nilpferd aus Stoff seine Aufmerksamkeit erregt, und in Mexiko nimmt er an einer Hochzeit orthodoxer Juden teil. Ebenso engagiert wie nachdenklich kommentiert Magris die jeweils aktuellen Zeitläufte, sei es in Tschechien, im Iran, in Polen oder in Vietnam.