Leseprobe
aus dem Roman "Tod auf der Donau" von Michal Hvorecky:
(...) Die müden Reisenden machten es sich in den Sitzen
bequem, sie versuchten, die beste Position für ihre Beine zu
finden, und dösten ein. Ab und zu gab es noch eine Frage,
Martin beantwortete sie, dann ließ er ganz leise etwas Musik
laufen. Ein paar Minuten lang würde er jetzt verschnaufen
können. Er öffnete einen Autoatlas und verfolgte
darauf die Fahrt.
Schon von seiner Kindheit an mochte er Landkarten. Stundenlang
vermochte er sie zu betrachten, und in seinem Kopf rotierte die pure
Abenteuerlust. Ein jedes Land hatte eine andere Farbe, rot, braun,
grün, und das Wasser war blau. Es quälte ihn die
Sehnsucht nach allem, das weit entfernt lag.
Die
Donau erinnerte an eine lang gezogene Schlange, deren Kopf im
Schwarzen Meer lag, ihr Körper breitete sich über den
gesamten Kontinent aus, und die Schwanzspitze verlor sich irgendwo im
Schwarzwald. Der Fluss faszinierte ihn. Dorthin musste er mal fahren!
Die Schlange hatte ihn hypnotisiert.
Schon als Kind ging er zum Lesen an die Ufer der Donau. Er stellte sich
vor, wie es um ihn herum nur so vor Gestalten aus diversen
Büchern wimmelte - die Seelen verblichener Schiffer,
Seeleute mit einem Eisenhaken, die Schatten von Erhängten auf
ihren Galgen, verrückt gewordene Kapitäne,
blutrünstige Piraten und ausgesetzte Säuglinge in
ihren Wiegen.
In den Donaugeschichten mangelte es nicht an Gespenstern und Geistern,
die während all der schrecklichen Zeiten den Fluss heimsuchten
und die Menschen in
unbekannte Tiefen zogen; die Wassermänner
ersäuften nur zu gerne Kinder. Er träumte davon,
unweit die Stimmen trauriger Mütter und Ehefrauen zu
vernehmen, er hörte die Stimmen der Ertrinkenden, das Gewimmer
der verlassenen Säuglinge, bis der Fluss ihre
nächtlichen Klagen verschluckte.
Der Bus nahm nach hundertfünfzig Kilometern den letzten Teil
der Etappe in Angriff. In der Ferne konnte man schon die Umrisse der
alten Donaubrücke erkennen. Hier nahm die Donau drei weitere
kleine Zuflüsse in sich auf: die Laaber, die Naab und den
Regen. So kam es, dass Regensburg als die Stadt der vier
Flüsse galt.
"Meine sehr geehrten Reisenden, demnächst werden wir gemeinsam
das Schiff betreten. Wenn Sie durch die vorderen Fenster blicken,
erkennen sie die Donau und die sogenannte Steinerne Brücke,
sie wurde 1146 auf Geheiß des bekannten Fürsten
Heinrich dem Stolzen fertiggestellt. Sie wurde zum Vorbild für
viele andere europäische Brücken, auch die
berühmte Karlsbrücke in Prag orientiert sich an ihr.
Die Brücke lässt kleinere Schiffe unter sich
passieren, doch die Wege der internationalen Schifffahrt
stromaufwärts enden zumeist hier. Von den
ursprünglich drei Türmen blieb nur einer erhalten,
man nennt ihn das Brücktor. Wer es schafft, diesen Namen zu
wiederholen, der hat bei mir einen Drink frei. Und rechts von Ihnen
erwartet sie bereits die America!"
Sobald die Passagiere das Schiff sahen, verschlug es ihnen den Atem. Es
dämmerte, doch auf dem Blechpanzer war ganz deutlich und
leuchtend die Aufschrift "MS America" zu erkennen, aus eleganten
Metallbuchstaben zusammengesetzt. Das Schiff erinnerte an ein lebendig
gewordenes Gemälde, das aus den Tiefen aufgetaucht war, um
dort irgendwann erneut unterzutauchen. Fachleute hielten die "MS
America" für das schönste Donauschiff. Die
Konstruktion überragte alles andere in ihrer Nähe.
Obenauf befand sich die Kapitänsbrücke. Der Rumpf sah
aus wie ein großes Wassertier, das nur darauf wartete, mit
Menschen gefüttert zu werden.
Die "America" hatte vor einem Jahr sogar einen Fahrtrekord auf dem Weg
von Melk nach Passau aufgestellt. Ihr Innenleben hatten die Ingenieure
überaus innovativ und überlegt gestaltet: drei
Stockwerke mit Kajüten, ein zwanzig Meter langer Pool, ein
Restaurant, eine großzügige Wellnesszone, zwei
Saunen, ein Rauchersalon, es gab sogar eine kleine Bibliothek.
Das Schiff war von einer weithin bekannten Werft im finnischen Hafen
von Turku gefertigt worden. Es beeindruckte nicht durch
Größe, die auf Flüssen
per Verordnung geregelt blieb, sondern vielmehr durch seine
Gesamtkonzeption und all die technischen Errungenschaften wie die
energiesparenden Heizmodule oder das integrierte Warentransportsystem.
In den Kajüten konnte man neunzig amerikanische
Fernsehprogramme auf einem Plasmabildschirm verfolgen, Computerspiele
für Pensionisten hochladen oder im Internet surfen. Das
Display war extra für weitsichtige Menschen eingerichtet
worden.
Die "America" verkehrte von März bis Mitte Januar, und danach
verbrachte sie sechs Wochen in holländischen Docks, wo sie
sorgfältig auf die nächste Saison vorbereitet wurde,
Kontrollen, Zertifikate und Registrierungen - in der Branche
herrschten strenge Regeln und Vorschriften.
"Bitte nehmen Sie Ihr Handgepäck mit. Die großen
Taschen und Koffer wird Ihnen unser wunderbares Team direkt in Ihre
Kajüte bringen. An der Rezeption holen Sie sich einfach Ihren
elektronischen Schlüssel, sowie Ihren Schiffspass ab, der dazu
dient, dass ich und mein Team immer wissen, ob sich alle an Bord
befinden. Bitte sehr, Sie können aussteigen."
Martin ging voraus. Eine Rampe führte zum Eingangsbereich, sie
war auf beiden Seiten mit genieteten Metallleisten gesichert.
Durchsichtige Glasscheiben erlaubten einen ersten Blick ins Innere.
Das Begrüßungskomitee hatte sich nach einem genau
festgelegten Protokoll am Eingang aufgebaut und nickte den
Ankömmlingen zu. Den Amerikanern gefiel dieses Ritual. In der
Mitte stand der rumänische Kapitän Atanasiu Prunea,
in weißer Hose und Hemd, er trug eine dunkelblaue Weste und
eine edle Seidenkrawatte. Seine Hand zierte ein großer
goldener Ring mit einem schwarzen Edelstein, und auf seiner
Kapitänsmütze war mit silbrigem Faden der Name des
Schiffes eingestickt. Seine Uniform war sein wertvollster Besitz, sie
kostete mehr als 3000 Euro, und er trug sie mit Noblesse. An sein Amt
waren Seriosität und Haltung geknüpft, er legte auf
beides Wert. Er erwartete sich von seiner Besatzung keinerlei
übertriebenen Respekt, allerdings forderte er ein
Mindestmaß an Anstand und Reinlichkeit. Dank seiner
zahlreichen Fahrten auf den europäischen Flüssen war
Atanasiu in der Lage, sich mit den Angehörigen der meisten
Nationalitäten gebrochen in ihrer Muttersprache zu
unterhalten. Seine Schwächen lagen beim Englischen und dem Alkohol -
er hatte es nie geschafft, beides zu beherrschen. Sein
fürchterliches Sprachdefizit konnte manchmal aber durchaus
charmant wirken. (...)
Michal
Hvorecky: "Tod auf der Donau"
(Originaltitel "Dunai v Americe")
Aus dem Slowakischen von
Michael Stavarič.
Tropen bei Klett-Cotta, 2012. 272 Seiten.
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Achtzig
Senioren auf einem Kreuzfahrtschiff zu bändigen, ist keine
leichte Aufgabe. Vor allem dann nicht, wenn man nebenbei zwei Leichen
entsorgen und seine Ex-Freundin verstecken muss. Michal Hvoreckys Roman
ist ein wilder Ritt über die Donau, von Regensburg bis ans
Schwarze Meer.
Eigentlich ist Martin Roy Übersetzer. Eigentlich. Denn dazu
kommt er nicht als Reiseleiter einer Donaukreuzfahrt, in deren Verlauf
so gut wie alles schiefgeht. Michal Hvorecky verknüpft in
seinem grotesken Schiffsroman die Geschichte Mitteleuropas mit
persönlichen Schicksalen (und seinen eigenen Erlebnissen als
Reisebegleiter). Dabei zeichnet er das Bild einer Generation, die wie
Nomaden durch die Länder zieht, auf der Suche nach dem besten
Arbeitsplatz, der Erfüllung im Leben und so etwas wie Heimat.
"Tod auf der Donau" ist deshalb vieles auf einmal: Abenteuerroman,
Liebesgeschichte und Satire auf die Auswüchse des Tourismus.
Und nicht zuletzt eine Liebeserklärung an die Donau.