Vom Scheitern als Motor des Lebens
"Die Letzten werden die Ersten sein" (neues Testament)
Prolog
1. Die Gesellschaft ist auf reine Leistung aufgebaut. In der Schule erzählen die Lehrer den Schülern am ersten Tag, noch bevor die Schultüten ausgeräumt sind: "Wir lernen nicht für die Schule, sondern für das Leben." Dass dies Schwachsinn ist, merken die kleinen Erdenbürger erst viele Jahre später, wenn sie von der Schule psychisch degradiert wurden.
2. Eine Leistungsgesellschaft kann es sich nicht erlauben, Schwächlinge zu züchten. Also geht es die Lehrerschaft bedächtig an, die Kinder in die Lehren des Lebens einzuweihen. Das Notensystem dient dazu, Abgrenzungen vorzunehmen. Die Schüler treten in Konkurrenz zueinander. Schließlich soll ja später mal was aus dem Kerl werden, der seine Einsen in Sachunterricht bekommt.
3. Der Klassenkampf beginnt bereits in der Volksschule. Dem Lehrer alles zu glauben und sein Bestes zu geben, um als Vorbild aus der Klasse hervorzuleuchten, erweckt das Selbstvertrauen zu Leben und ruiniert die gesunde Entwicklung des eitlen Strebers.
4. Manchmal gibt es späterhin einen Lehrer, der den jungen Menschen etwas Sinnvolles zu lehren versucht. "Das hast du großartig gemacht", sagt er möglicherweise bei einer guten Leistung des Zöglings. "Macht nichts; ich weiß, dass du es besser kannst", sagt er möglicherweise bei einer ungenügenden Leistung des Zöglings.
5. Definition des Wortes "Scheitern": Wenn du im Wörterbuch nachsiehst, bist du auch bereits an der Aufgabe gescheitert. Somit sage ich frei nach eigenem Gutdünken: Misslingen, Abprallen, eine Sache nicht meistern (etwa den Ball in ein leeres Tor nicht schießen können). Im übrigen wohl nicht verwandt mit dem "Scheiterhaufen", der nicht nur in neuester Zeit essbar ist, sondern in früherer Zeit dazu diente, Hexen zu verbrennen. Hexen hatten angeblich etwas mit dem Teufel im Bunde, und der Teufel ist ja so etwas wie das Synonym für das nichtgelungene Leben. Versagst du (ach, wieder eine neue Definition gefunden!) im Leben, wirst du beim Teufel landen. Insgeheim natürlich großer Schwachsinn.
6. Das Scheitern ist in der heutigen Zeit ein Zeichen von Schwäche. Das Ziel des Lebens ist es, als Sieger dazustehen. Karriere ist das Schlüsselwort dafür. Karrieristen zeichnen sich durch sinnentleertes, dafür aber meist perfekt konformistisches Leben aus. Manchmal streiten sie das jedoch ab und können doch nicht den Gegenbeweis antreten.
Vom Scheitern als Motor des Lebens
In der Volksschule begann der Motor zu stottern
In der Volksschule war ich immer der Letzte. Nicht, was die Leistungen betrifft. Das möchte ich mir verbitten. Aber der Letzte, der in der Klasse erschien. Das hing nicht mit dem weiten Anfahrtsweg zusammen, denn die Schule war nur etwa 500 Meter von meinem Elternhaus entfernt. Nein, ich wollte einfach nicht vor 7 Uhr 59 den Unterricht antreten. Eine Lehrerin unterrichtete alle Fächer außer Religion. Aber Religion empfand ich ohnehin als reichlich seltsam. Die Klassenlehrerin war Staatsmeisterin im Diskuswerfen und hatte demnach reichlich Kraft. An der Wand in der Klasse hing eine Beschreibung der einzelnen Schüler, und meinereiner (damals war dieser komische Kerl ständig im Radio) wurde mit dem Prädikat des "Trau mi´ net" bedacht. Können vielleicht nur Wiener nachvollziehen. Und war außerdem ein Vorurteil, weil immerhin schlug ich einmal dem Klassengrobian einen Zahn aus, woraufhin meine Mutter zur Lehrerin zitiert wurde. Und ich war dafür bekannt, die Mädels der Klasse zu verteidigen.
Das erste große Scheitern ...
erfolgte im Gymnasium. Das erste Jahr bewältigte ich trotz oder wegen der Fußballweltmeisterschaft 1982, wo wir Schüler alle hurtig die Bildchen der einzelnen Spieler untereinander tauschten, mit nur einer Handvoll Vierern. Im zweiten Jahr dann aber machte mir der Englischlehrer das Leben zur Hölle, und über meine Unmündigkeit hinweg wurde seitens meines Elternhauses entschieden, dass ich gefälligst den Weg in die Hauptschule anzutreten habe. Dort stellte ich mich mit einer, meines Erachtens, hervorragenden Leistung bei einer Deutschschularbeit ein. Ich war begeistert von meiner eigenen Leistung, und feierte das Sehr gut bereits im vorhinein. Nur der Lehrer war nicht einverstanden, denn der gab mir kompromisslos ein Nicht genügend in die Hand. Ich war zwar überrascht, besuchte aber unbeeindruckt nach wie vor die Heimspiele meiner Lieblingsfußballmannschaft.
Nach der Hauptschule absolvierte ich pro forma das sogenannte Polytechnikum. Mehr ist darüber nicht zu sagen.
Das zweite große Scheitern ...
kam ins Rollen, als ich unglücklich verliebt war. Die hübscheste Schülerin in der Berufsschule hatte es mir angetan. Ich war eine Zeit lang vollkommen unfähig, auch nur irgendetwas Konstruktives zu tun. Ich schwelgte im Gefühl der Liebe, die womöglich sogar erwidert wurde. Allerdings hatte ich nicht die Kraft, nachzuhaken, und eines Tages kam das Mädchen nicht mehr zur Schule, und ich war mehrere Wochen vergrämt, ehe ich mich wieder fing. Die Zeit der schlechten Noten war vorbei, und ich kümmerte mich wieder intensiver um das Heil meiner Lieblingsmannschaft.
Ein besonders gelungenes Scheitern ...
vollzog sich in der Handelsakademie. Kurz vor der möglichen Matura war mein Mathematiklehrer bemüht, mich mit aller Kraft durch eine wichtige Prüfung durchzubringen. Er gab mir wiederholt Hinweise, aber ich tat ihm nicht den Gefallen und krachte mit dem Gefühl totaler Selbstvernichtung durch die mathematischen Vorgaben. Da ich viel lieber lief, Billard spielte, las, schrieb, mich mit Konstruktivismus beschäftigte usw. nahm ich es in Kauf, den Hut zu nehmen, und mich auf neuen Aufgaben vorzubereiten, bei denen ich scheitern könnte.
Um die Angelegenheit abzukürzen ...
und die heitere Leserschaft nicht auf Dauer mit meinem Scheitern zu knechten, beende ich die Ansätze gelungenen Scheiterns mit meiner vorbildlichen viermaligen Durchfallsfähigkeit bei der Führerscheinprüfung. Dadurch habe ich so manchem Menschen eine heile Haut gerettet, dass ich mich selbst nicht dazu durchringen konnte, den Führerschein zu bestehen. Beim vierten und vorläufig letzten Anlauf scheiterte ich daran, dass ich einen Radfahrer übersah, der ohne viel Federlesens in die Fahrbahn einfuhr, und meinem Fahrlehrer einen Schrecken verursachte, während ich leise in mich hineinlächelte. Ja, das Scheitern ist so eine Sache, die mein Leben durchzieht und verdientermaßen als Motor meines Lebens bezeichnet werden kann. Nur wer hie und da scheitert, kann es nämlich genießen, selten aber doch einen persönlichen Erfolg einzuheimsen. "Das Glück is´ a Vogerl", wie man in Wien so gelungen formuliert. Das Gelingen des Lebens hat in Wahrheit nämlich nichts mit Leistungen in dieser oder jener Weise zu tun, sondern mit innerer Balance. Die Prioritäten so abzuwägen, dass etwas Sinnvolles daraus entsteht.
EPILOG
"Wir sollten auch mal eine schlechte Note feiern." (Hans Pestalozzi)
Der Selbstmord einer erst zehnjährigen Schülerin sollte zu denken geben. Der Leistungsdruck an Schulen ist enorm, und leider werden die Kinder oft nur unzureichend in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützt. Eine persönliche Beziehung zum Kind aufzubauen und es psychisch und sozial zu fördern, wäre die Hauptaufgabe der erwachsenen Kontaktpersonen. Solange dies nicht passiert, wird es immer wieder Verzweiflungstaten von jungen Menschen geben, die sich die Schuld daran geben, nicht den vorgegebenen Leistungsansprüchen genügt zu haben. Eltern können ihrem Kind ruhig mal ein Eis kaufen, wenn dieses eine negative Note bekommen hat.
(Al Truis-Mus)