Interview mit Pál Závada, Autor von "Das Kissen der Jadwiga"
Pál Závada wurde 1954 in Tótkomlós, einem Dorf im Südosten Ungarns, geboren. Er arbeitete als Wissenschaftler am Soziologischen Institut der Ungarischen Akademie; sein erstes Buch hatte die Sozialgeschichte seines Heimatdorfes zum Inhalt. "Das Kissen der Jadwiga", mittlerweile verfilmt, ist Závadas erster Roman. Der Autor erhielt dafür zwei bedeutende ungarische Literaturpreise. Pál Závada lebt in Budapest. |
Sandammeer: Herr Závada, Sie haben mit "Das
Kissen der Jadwiga" einen Roman um eine klassische Dreiecksbeziehung
geschrieben - kein wirklich neues Thema in der Literatur, aber Sie
haben es auf sehr interessante und berührende Weise gestaltet,
indem Sie die Hauptfigur Jadwiga das Tagebuch ihres Mannes Ondris
weiterführen lassen, das dann von Jadwigas außerehelichem
Sohn Miso gefunden, geordnet, kommentiert und ergänzt wird. Wie
sind Sie auf die Idee zu diesem Roman gekommen?
Pál Závada: Mich haben drei Sachen interessiert:
Zum Ersten, wie kann man eine Familiengeschichte in die Geschichte der
österreichisch-ungarischen Monarchie einbetten? Zum Zweiten hat
mich interessiert, wie die Liebe, die erotische Leidenschaft eine
Verkehrung aller Werte bewirken, alle kulturellen Gewohnheiten abbauen
kann. Zum Dritten wollte ich eine weibliche Figur zeichnen, die ihrer
Zeit weit voraus ist, eine emanzipierte Frau, die aber in ihrer
Umgebung etwas verfrüht war. Zudem war mir wichtig zu zeigen, wie
verheerend, wie zerstörend sich die Nationalismen auswirken; das,
was wir heute in unserer Region [östliches Mitteleuropa, Anmerkung Sandammeer]
erleben müssen, hat seine Wurzeln in der
österreichisch-ungarischen Monarchie, in der nationalistische
Gedanken aufblühten. Diesen Vorgang wollte ich kritisch betrachten.
Zu der Form gab es die Idee, dass es sich um ein Tagebuch handeln
sollte, das von drei Personen geschrieben wird, von der Frau selbst,
von ihrem Ehemann und von ihrem Sohn, und da die Tagebuchform eine sehr
innige, sehr intime Form ist, fand ich sie besonders passend zum
Erzählen dieser Liebesgeschichte. Allerdings ist es natürlich
kein Tagebuch, sondern ein Roman.
Sandammeer: "Das Kissen der Jadwiga" spielt in einem
kleinen Ort in Ungarn, der zu einem erheblichen Teil von ethnischen
Slowaken besiedelt ist. Sie selbst stammen aus einem Dorf in
Südostungarn, Tótkomlós, auf welches dasselbe
zutrifft, seit sich im 18. Jahrhundert dort achtzig slowakische
Familien ansiedelten. 1986 erschien Ihr Buch über die
Sozialgeschichte Ihres Heimatdorfs. Brachte Sie die Recherche hierzu
auf die Idee, einen Roman mit diesem Hintergrund zu schreiben? Anders
gefragt: Hat der Roman eine authentische Grundlage - haben Sie eine
wahre Lebensgeschichte literarisch aufbereitet?
Pál Závada: Die Tagebuchform eignet sich auch
dazu, dem Roman einen sehr starken soziologischen, geschichtlichen
Hintergrund zu geben. Ich habe ja eine Soziografie über mein
Heimatdorf verfasst mit dem Titel "Kulakenpresse", in der es darum
geht, wie man in den 50er-Jahren mit den Bauern umgegangen ist. Und
für den Liebesroman konnte ich auch auf meine Soziografie
zurückgreifen. - Wie Sie richtig festgestellt haben, bestand mein
Heimatdorf Tótkomlós bis zum Ersten Weltkrieg zu hundert
Prozent aus slowakischen Einwanderern. Beim Materialsammeln für
meine Soziografie bin ich auf viele Briefe, Fotos und andere Dokumente
gestoßen, und anhand dieser Dokumente habe ich dann angefangen,
an dem Roman zu arbeiten, aber die Texte im Roman sind natürlich
pseudo-dokumentarische Texte.
Sandammeer: Also hat Jadwiga nicht existiert.
Pál Závada: Nein, sie ist fiktiv. - Authentisch
sind die Geschichte des Ortes, die nationalistische Bewegung der
Slowaken in Ungarn und die geografischen Gegebenheiten. Die Story ist
fiktiv, die Figur der Jadwiga ist ebenfalls Fiktion, allerdings habe
ich meine Menschenkenntnis und meine Kenntnisse über real
existierende Figuren in Tótkomlós sozusagen zeitlich
verlängert und in die Vergangenheit zurückgeführt.
Sandammeer: Ihr Roman wurde, wie ich im Internet las,
verfilmt. Ist der Film Ihrer Ansicht nach gelungen? Lässt sich die
subjektive Erzählform des Tagebuchs problemlos auf einen Film
übertragen, bei dem der Betrachter, anders als ein Leser, von
außen auf die Handlung blickt?
Pál Závada: Der Film soll ja nicht einfach den
Roman abbilden. Ich meine, der Film sollte mit seinen eigenen
künstlerischen Mitteln an das Buch herangehen, und ich verlange
nicht, dass der Film das wiedergibt, was meine Intention war. Der Film
soll und darf selbstständig leben. Es ist ein sehr schöner
Film. Haben Sie ihn gesehen?
Sandammeer: Nein. Gibt es denn auch eine deutsche Fassung?
Pál Závada: Ja, allerdings mit einem anderen Titel: "Im Schatten der Liebe".
Sandammeer: Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, das
Ungarn erhebliche Gebiets- und Bevölkerungsverluste beibrachte
(Trianon), leben sehr viele ethnische Ungarn in den
Nachbarländern, darunter die Slowakei. Sie haben "Das Kissen der
Jadwiga" in einer Art slowakischer Enklave in Ungarn zur Zeit der
ausgehenden Habsburgerherrschaft und des Horthy-Regimes angesiedelt und
thematisieren auch die dortigen slowakischen Autonomiebestrebungen
während des Ersten Weltkriegs. Wie hat der Roman auf die Ungarn
gewirkt, die ja nach wie vor sehr sensibel auf Minderheitenfragen
reagieren?
Pál Závada: Die eine Hauptfigur des Romans ist ein
Ungar slowakischer Abstammung. Allerdings findet in der Zeit, in der
der Roman spielt, also während des Ersten Weltkriegs, eine rasante
Ungarisierung dieser Bevölkerung statt. Die jüngeren
Angehörigen dieser Bevölkerung verlieren ihre Muttersprache.
Der erwähnte Protagonist liest ungarische Literatur, seine Freunde
sind Ungarn mit städtischer Lebensart, sein bester Freund ist ein
Jude.
Meine Stellungnahme zu der Nationalitäten- oder Minderheitenfrage:
Nach dem Vertrag von Trianon wurde ja die
österreichisch-ungarische Monarchie aufgesplittert, und die
Slowakei erlangte die Selbstständigkeit [als Teil der Tschechoslowakei, Anmerkung Sandammeer].
Parallel dazu versuchte die slowakische Minderheit in Ungarn erneut,
sich auf das Slowakische zu reduzieren. Ondris, der Protagonist des
Romans, ist jedoch mit dieser Haltung nicht einverstanden und
ärgert sich darüber. Er kann sich nicht damit identifizieren.
Ebenso ergeht es Jadwiga, der Titelfigur, auch sie ist ärgerlich
über die Identifikationssuche, die nur auf der Nationalität
basiert.
Sandammeer: Ich kam auf diese Frage, weil ich erlebt habe, dass die Ungarn
[einschließlich der von den dortigen Massenmedien
repräsentierten und dargestellten Öffentlichkeit;
Ergänzung für unsere Leser] den Jahrestag des
Trianon-Vertrags wie einen Volkstrauertag begehen. Ich kenne eine ganze
Reihe von Ungarn, die in Ungarn leben und durchaus etwas aggressiv auf
die Nachbarstaaten wie Rumänien und die Slowakei reagieren mit der
Begründung: Die haben sich unser Gebiet angeeignet und unsere
Leute unterdrückt. Daher die Frage: Wie haben die ungarischen
Leser auf einen Roman reagiert, der nun die slowakische Minderheit in
Ungarn herausstellt?
Pál Závada: Nationalistisch verstandene
Identifikation, die mit aggressiven Nebentönen verbunden ist, muss
man rassistisch nennen. Gott sei Dank sind sowohl die Slowaken in
Ungarn als auch die Ungarn in der Slowakei größtenteils
friedfertige Menschen. Natürlich gibt es auf beiden Seiten
aggressiver auftretende Minderheiten, die versuchen, die negativen
Gefühle zu wecken, aber Gott sei Dank dominiert die Mehrheit.
Diese negativen Gefühle gibt es vor allem in der Slowakei, unter
den Slowaken, aber auch unter den Ungarn, aber eben hauptsächlich
in der Slowakei. Die Slowaken in Ungarn sind sowieso praktisch Ungarn
geworden.
Sandammeer: Der Roman ist also in Ungarn sehr gut aufgenommen worden?
Pál Závada: Ja, als Familien- und Liebesroman mit
geschichtlichem Hintergrund. Der Roman führt zurück in
spannende Episoden der ungarischen Geschichte, in den Ersten Weltkrieg,
wovon bereits die Rede war, aber auch in die 50er-Jahre, denn der Sohn
findet ja zu dieser Zeit das Tagebuch und wird auch als Spitzel
eingesetzt. Das ist auch eine sehr spannende Episode.
Sandammeer: Werke zeitgenössischer ungarischer
Autoren werden mittlerweile immer öfter ins Deutsche
übersetzt. Außer "Das Kissen der Jadwiga" las ich in letzter
Zeit Bücher von
Attila Bartis,
Tamás Jonás und
László Darvasi, eines von
Imre Kertész
liegt schon bereit, und das sind bei weitem nicht alle derzeit
tätigen ungarischen Schriftsteller, die im deutschsprachigen Raum
allmählich bekannt werden oder es bereits sind wie
Péter Esterházi und
György Dalos.
Wäre es Ihnen möglich, zu umreißen, was das Besondere
an der ungarischen Literatur ist, und welche Impulse ungarische
Schriftsteller ins westliche Mitteleuropa bringen können?
Pál Závada: Im Moment findet die ungarische
Literatur, was Europa betrifft, eigentlich nur in den deutschsprachigen
Raum Eingang. Ich hoffe, diese Akzeptanz hat weniger thematische als
Qualitätsgründe, weil es sich einfach um Literatur von guter
Qualität handelt.
Sandammeer: Ganz mein Eindruck.
Pál Závada: Als Beispiel soll Kertész
erwähnt werden. Das Thema Holocaust und Lager ist gar nicht neu,
doch was ihn auszeichnet, ist die Form, die Herangehensweise, die Art
und Weise der künstlerischen Verarbeitung. Er hat sich dieses
Themas formal und sprachlich auf ganz einzigartige Weise angenommen.
Dalos und Esterházi sind ja auch sehr innovative Autoren, was
die literarische Form angeht. Es ist natürlich gar nicht
unwichtig, welches Thema man aufgreift, um zum gemeinsamen
europäischen Denken beizutragen, denn das könnte man auch in
irgendeiner theoretischen Abhandlung beschreiben anstelle der
literarischen Form.
Sandammeer: Es ist immer interessant zu erfahren,
für welche Art von Literatur sich ein erfolgreicher Autor
interessiert. Darf ich Sie fragen, welche Art von Büchern Sie am
liebsten lesen, wer Ihr Lieblingsautor ist und gegebenenfalls, welches
Buch Sie gerade lesen?
Pál Závada: Ich lese die erwähnten Autoren,
sehr gern Darvasi und Lajos Parti Nagy, der hier noch nicht genannt
wurde. Wir sind miteinander befreundet und redigieren einander.
Außerdem lese ich natürlich auch Klassiker, aber es
würde zu lange dauern, sie aufzuzählen.
Auf Deutsch gibt es übrigens auch "Meines Helden Platz" von Lajos Parti Nagy ...
Sandammeer: Das wurde bei uns rezensiert und steht
auch auf meiner persönlichen Wunschliste. - Sandammeer bedankt
sich für das Interview; wir wünschen Ihnen weiterhin viel
Erfolg und viel Spaß auf der Buchmesse!
Das Interview führte Regina Károlyi am 06.10.2006 am Stand des Verlags Luchterhand auf der Frankfurter Buchmesse.
Übersetzung der Fragen ins Ungarische: Regina Károlyi, Prof. Sándor Károlyi
Übersetzung der Antworten aus dem Ungarischen und der spontanen Fragen ins Ungarische: Frau Závada auf der Buchmesse