Interview mit Abtprimas Notker
Wolf über sein Buch
"Wohin pilgern wir? - Alte Wege und neue Ziele"
www.sandammeer.at: Herr Abtprimas, Ihr vor Kurzem erschienenes Buch
"Wohin pilgern wir?" befasst sich mit einer ganz besonderen Art des
Reisens, eben dem Pilgern. Gleich zu Anfang sei die Frage erlaubt, für wen Sie
dieses Buch geschrieben haben: für Katholiken, für Suchende jedweder religiösen
Ausrichtung, für Menschen in der so genannten Lebensmittenkrise, für junge
Menschen, die sich für einen bestimmten Lebensweg entscheiden müssen - oder
gibt es keine bestimmte Zielgruppe?
Abtprimas Notker Wolf: Für alle suchenden Menschen, für alle, die in
irgendeiner Weise von Unruhe umhergetrieben sind, die vielleicht nicht einmal
wissen, wo sie hinwollen - auch Gläubige natürlich -, die einfach ein
Unbehagen in sich erfahren; die sagen, sie probieren es mal mit einer der üblichen
Pilgerreisen, von denen sie gehört haben. - Aber eigentlich ist das Buch für
alle.
www.sandammeer.at: Das Pilgern, schon seit Jahrhunderten oder
Jahrtausenden von Menschen praktiziert, ist nicht erst seit Hape Kerkelings Buch
"Ich bin dann mal weg" wieder geradezu ein Modetrend geworden; heute
freilich meist mittels moderner Technik und keineswegs nur bei ausgesprochen
religiösen Menschen. In Ihrem Buch betrachten Sie unter Anderem die
Pilgerreisen von zwei Menschen, die im Mittelalter beziehungsweise in der
Renaissance unterwegs waren und ausführlich von ihren Erlebnissen berichteten:
Diese beiden wurden ebenfalls von ganz unterschiedlichen
Motivationsschwerpunkten geleitet und gestalteten ihre umfangreiche Reise auch
in praktischer Hinsicht sehr verschieden. Weitere Beispiele, nicht zuletzt aus
Ihrem eigenen Leben, zeigen Pilgerreisen aus wieder anderen Perspektiven. Gibt
es denn so etwas wie eine feste Definition, was Pilgern bedeutet, und was
zeichnet einen Pilger aus?
Abtprimas Notker Wolf: Pilgern bedeutet sicher "unterwegs sein",
aber es ist noch mehr als nur ein Wandern. Ein Wandern ist eigentlich eher etwas
Zielloses: Da geht es mehr um das Gehen, um das In-sich-Ruhen. Natürlich, das
Wandern ist des Müllers Lust, aber ich wandere vielleicht auch einfach nur von
einem Ort zum andern.
Pilgern heißt, ich habe ein Ziel vor Augen. Und trotzdem ist das Gehen an sich
schon zum Teil das Ziel. Weil ich eben noch nicht genau weiß, wie wird es
ausschauen, wo werde ich ankommen, wem alles werde ich begegnen.
Pilgern ist eine unglaublich menschliche Sache. Ich wandere vielleicht mit ein,
zwei Freunden. Beim Pilgern bin ich offen für Menschen, die mir begegnen. Das
kann beim Wandern natürlich auch passieren, aber beim Pilgern muss ich irgendwo
übernachten - ein Wanderer übernachtet nicht groß -, bin auf Andere
angewiesen und weiß, dass ich von Wind und Wetter abhängig bin und mir nichts
Bequemes erhoffen kann. So setze ich mich dem Fremden und den Unbilden aus und
bin überzeugt, dass es letztlich doch einen Sinn gibt im Weitergehen.
www.sandammeer.at: Der Untertitel Ihres Buches, "Alte Wege und
neue Ziele", weist darauf hin, dass sich die Ziele geändert haben, weniger
aus geografischer als aus spiritueller Sicht. Sie zeigen im Buch eine ganze
Reihe der Gründe auf, warum Menschen heute meinen, pilgern zu müssen, selbst
wenn es ihnen nicht primär um heilige Stätten oder Reliquien geht. Um welche
Ziele handelt es sich im Wesentlichen - im Gegensatz zu früher, etwa zum
Mittelalter oder auch den 60er-Jahren, in denen Sie Ihre ersten Pilgerreisen
unternommen haben?
Abtprimas Notker Wolf: Im Mittelalter war man natürlich noch stärker
daran interessiert, die "Heilthümer", wie man sagte, aufzusuchen, die
Reliquien, obwohl auch gerade der Ritter von Harff im Mittelalter schon
geschrieben hat, es sollten die Pfaffen in Rom selbst aushecken, welche
Reliquien die wahren sind, denn er habe jetzt zum Beispiel schon drei Häupter
des heiligen Johannes gesehen, und da stimme wohl etwas nicht. Aber das haben
die Menschen damals nicht für so tragisch genommen. Sicher haben manche das
alles als magisch angesehen, aber für die meisten handelte es sich um Orte, an
denen der entsprechende Heilige gelebt hat oder begraben ist, es war für sie
also wesentlich mehr als nur ein materiell fixierbarer Ort.
Und so war es auch bei mir. Ich bin damals natürlich auch an fixierbare Orte
gefahren, zum Beispiel dorthin, wo der heilige Pfarrer von Ars seine Pfarrei
hatte, wo er gelebt und gewirkt hat; das war für mich sehr beeindruckend. Vor
allem, weil es noch kein pompöses Heiligtum war. Heute gibt es dort einen großen
Untergrundsaal, doch damals gab es fast gar nichts.
Dann war ich noch bei Margareta Maria Alacoque, auf die die Herz-Jesu-Frömmigkeit
zurückgeht, die auch bei uns verbreitet ist. Da hat man mit den Darstellungen
so viel kaputt gemacht - immer dieses Außenbord-Herz ...
www.sandammeer.at: Ja, auch dieser Kitsch ...
Abtprimas Notker Wolf: Ja. Dabei bedeutet es nichts Anderes als die Liebe
Gottes, indem sich Gott selbst in Jesus den Menschen total hingegeben hat bis
zum Tod. Das ist das Geheimnis.
Ich war eher an solchen Pilgerorten; zu irgendwelchen Reliquien wollte ich nicht
pilgern. Aber einmal war ich auch in Santiago de Compostela, weil es mich natürlich
besonders interessiert hat, diesen zentralen Ort einmal zu erleben, und damals
fand dort gerade die Versammlung der Europäischen Bischofskonferenz statt. Ich
musste dort einen Vortrag halten, insofern war mir das sehr willkommen. Und so
habe ich diesen Ort kennen gelernt.
So eine Pilgerstätte war ja auch ein einigendes Zentrum für das Abendland zu
einer Zeit, als es noch keine solchen Grenzen gab wie heute. Der heilige Anselm
zum Beispiel, im Piemont geboren, in Burgund aufgewachsen, ging in der Normandie
ins Kloster und ist später in England als Erzbischof von Canterbury gestorben.
Das waren doch noch Typen!
Heute ginge das gar nicht mehr so leicht; trotz des Bologna-Prozesses bräuchten
wir ja enorm viele Gänge zu den Bürokraten. Und das haben wir damals alles mit
dem Beten hinbekommen (lacht).
www.sandammeer.at: Aber ich habe Sie schon richtig verstanden, dass Sie
noch keine Pilgerreise nach Santiago gemacht haben?
Abtprimas Notker Wolf: Ich war nur einmal dort, aber nicht als Pilger. Das
bleibt noch ein Lebenstraum.
www.sandammeer.at: Was können die zum Teil schon im Mittelalter
bereisten Ziele wie Santiago de Compostela, Jerusalem, Rom oder Lourdes mit
ihren Reliquien, an deren Echtheit berechtigte Zweifel bestehen, oder ebenfalls
anzweifelbaren Wundern dem heutigen Pilger bieten?
Abtprimas Notker Wolf: Viele haben damals gemeint, es handle sich um echte
Reliquien, es gab aber auch damals schon die großen Zweifler. Für einfache Gemüter
war so ein Knochen natürlich von Johannes dem Täufer oder vom Propheten Elias,
und es gibt noch schönere, zum Beispiel ein Stück von der ägyptischen
Finsternis, bei der die Israeliten ausgezogen sind; es gibt die tollsten
Reliquien.
www.sandammeer.at: Die Muttermilch der Muttergottes ...
Abtprimas Notker Wolf: Ja, und etwas von ihrem Haar ... Aber das war es
letzten Endes nicht. Die Leute waren beseelt von der Gegenwart Gottes in diesen
Heiligen. Und die Reliquien waren mehr Erinnerungsstücke, so, wie man heute
Souvenirs von irgendwoher mitbringt.
Es gab ja auch viele sogenannte Berührungsreliquien, die hat man an einem Schnürchen
heruntergelassen, zum Beispiel ein Stück Stoff, man hat sie berühren lassen
und dann wieder hochgezogen. Später, wenn man sie weitergegeben hat, wusste
niemand mehr, dass es nur eine Berührungsreliquie war, sondern da stand dann
eben, das Stoffstück sei die Reliquie von diesem oder jenem, so, als ob es von
seinem Gewand gewesen wäre.
www.sandammeer.at: Das erinnert an die heutigen Autogrammjäger:
"Ich möchte etwas von dieser verehrten Person haben." So beschreiben
Sie das ja auch in Ihrem Buch.
Abtprimas Notker Wolf: Ja, genau.
www.sandammeer.at: Sie stellen sich im Buch dem hierzulande modern
gewordenen fernöstlichen Spruch entgegen, der Weg sei das Ziel. Dennoch
schildern Sie als beeindruckendste Erfahrung Ihrer Pilgerfahrten die Solidarität
zwischen den Pilgern oder zwischen Pilgern und ihnen begegnenden freundlichen
Nicht-Pilgern. Diese Solidarität ist meiner Auffassung nach Teil des Weges.
Inwiefern können sich Weg und Ziel beim Pilgern ergänzen?
Abtprimas Notker Wolf: So lange ich den Weg nicht nur als Gehen bezeichne,
sondern als Möglichkeit der Begegnung mit anderen Menschen, ist es ein Stück
enormer Erfüllung, mit Anderen unterwegs zu sein. Ich würde es sogar so ausdrücken:
Jeder Mensch findet sich dadurch erst, dass er mit Anderen unterwegs ist und
nicht meint, er könne durch Meditation allein selig werden. Dieses gegenseitige
Miteinander ist ja auch eine Art des gegenseitigen Beschenkens, und das ist so
etwas Schönes!
www.sandammeer.at: In Ihrem Buch schildern Sie Ihr eigenes Leben als
eine Pilgerreise, deren Route - das Ziel vielleicht weniger? - sich mehrmals
gravierend änderte. So wollten Sie eigentlich immer ein Missionar im
klassischen Sinne werden, wurden jedoch aufgrund Ihrer Konstitution zum Lehrer
berufen und stiegen schließlich zu leitenden Funktionen innerhalb Ihres Ordens
auf. Sie sind heute Abtprimas und haben damit das höchste Amt innerhalb des
Benediktinerordens inne. Man darf wohl sagen, dass die Anzahl und Beschaffenheit
der sich Ihnen eröffnenden Wege ab dem Eintritt in den Orden überschaubar war,
eine Behauptung, die nicht abwertend oder respektlos gemeint ist. Nun ist nicht
jeder zum Leben im Orden berufen. Wenn ein gewöhnlicher, sozusagen weltlicher
Mensch sein Leben als Pilgerreise gestalten möchte, sieht er sich einem Gewirr
von möglichen Wegen gegenüber, oder er kann vor sich nichts entdecken, was an
einen Pilgerpfad erinnert. Wie kann der "weltliche" Mensch sich solch
einen Weg erschließen?
Abtprimas Notker Wolf: Ich glaube, mein Lebensweg hat sehr wohl einen
durchgehenden Faden: dass ich die Botschaft Gottes unter die Menschen bringen möchte.
Und es gibt auch in anderen Berufen einen Faden - meinetwegen, eine Familie zu
gestalten. Das ist etwas Wunderbares. Zwar wird sich das ändern, je nach
Lebensphase.
Es geht allein schon damit los, dass man sich kennen lernt mit großer Emotion,
dann heiratet und danach merkt: Wir sind verschiedene Charaktere und müssen uns
jetzt erst einmal zusammenraufen. Wir bleiben beieinander - oder nicht? Das kann
man als Pilgerreise ansehen. Und dann geht es eigentlich richtig los. Heißt es:
Das haben wir geklärt, Schwamm drüber, erscheint vielleicht schon das nächste
Problem. Aber wir erklären dann: Wir haben zueinander ja gesagt, und dieses Ja
ist die Basis für unsere Zukunft. Und so geht der Weg weiter durch das ganze
Leben, durch die Lebensmittenkrise. Es ist ein Weg der Reifung, des Zurückfallens
in die Unreife, des Neuaufstehens; es kann ein sehr turbulenter Weg sein.
www.sandammeer.at: Also ist sozusagen das Herz der Wegweiser? Denn die
Religion hat ja nicht jeder.
Abtprimas Notker Wolf: Ja. Es hört nie auf, bis zum Lebensende. Jeder muss
zu seiner persönlichen Reife finden, das ist das Entscheidende.
www.sandammeer.at: Wenn Sie jemand, der gerade zu einer Pilgerreise
aufbricht, um drei Ratschläge bäte - was würden Sie ihm raten?
Abtprimas Notker Wolf: Nimm wenig mit; was du mitnimmst, sei solide.
Leichte Schuhe, etwas Gutes gegen den Regen. Ein bisschen Geld, aber nicht zu
viel ...
www.sandammeer.at: Keine Kreditkarte? (lacht)
Abtprimas Notker Wolf: Kommt darauf an. Aber das Geld wäre das, woran ich
in diesem Fall am wenigsten denken würde. Mir würde es wohl so gehen, dass ich
das Geld zu Hause vergessen und dann merken würde, wie leicht man ohne es leben
kann. Wie man dann auf Andere angewiesen ist. Wie Andere dann barmherzig sind,
großzügig sind. Das sind alles Dinge, die wir nicht mehr erfahren, weil wir
uns alles selber beschaffen. Und das gehört auch zu den Problemen unserer Zeit.
Also: möglichst wenig, Leichtes, natürlich auch Sicherheit. Und nimm
vielleicht die Heilige Schrift mit zum Lesen darin, denn du kannst sie zwar überall
finden, aber nicht immer ohne Weiteres. Nimm die ganze Bibel mit, einschließlich
des Alten Testaments, denn das Neue Testament baut auf den Verheißungen des
Alten auf.
www.sandammeer.at: Im Namen von www.sandammeer.at danke ich Ihnen
herzlich für das Interview und wünsche Ihnen, dass Sie Ihre seit langem
geplante Pilgerreise nach Santiago de Compostela eines Tages antreten werden.
Abtprimas Notker Wolf: Die kommt schon noch (schmunzelt).
Das Interview fand am 17. Oktober 2009 auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Verlags Rowohlt statt und wurde von Regina Károlyi geführt.
"Wohin pilgern wir? Alte
Wege und neue Ziele"
Dem Geheimnis des Pilgerns auf der Spur.
"Als Mönch bin ich zeitlebens in der Situation des Pilgers, der seine
Familie, seine Freunde, seine Verwandtschaft zurücklässt, vieles aufgibt, was
einmal zum Leben gehört hat, und täglich aufbricht, um etwas Größeres zu
finden. Es fällt mir daher nicht schwer, meine ganzes Leben als Pilgerreise zu
verstehen - auch wenn sie heute nicht immer zu Fuß stattfindet."
Pilgern liegt wieder im Trend: Tausende von Menschen treten jedes Jahr eine
Reise voller Mühen und Strapazen an. Aber warum? Abtprimas Notker Wolf geht der
Geschichte des Pilgerns nach, erzählt von eigenen Erlebnissen, räumt mit
falschen Vorstellungen auf - und diskutiert aktuelle Glaubens- und
Gesellschaftsfragen ebenso unterhaltsam wie lehrreich.
Notker Wolf OSB, Dr. phil., geboren 1940 in Bad Grönenbach im Allgäu,
studierte Philosophie und Theologie in Rom und München. 1961 trat er in die
Benediktinerabtei St. Ottilien am Ammersee ein und wurde 1977 zu ihrem Erzabt
gewählt. Seit 2000 ist er als Abtprimas des Benediktinerordens mit Sitz in Rom
der höchste Repräsentant von mehr als 800 Klöstern und Abteien auf der ganzen
Welt. 2008 wurde er durch Wiederwahl auf weitere vier Jahre in dieser Funktion
bestätigt. (Rowohlt)
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