Interview mit Iván Sándor über seinen Roman "Spurensuche"


www.sandammeer.at: Herr Sándor, in Ihrem Buch "Spurensuche - Eine Nachforschung" schildern Sie die Wochen im Winter 1944/45, als die Judenverfolgung in Ungarn, insbesondere in Budapest, ihren furchtbaren Höhepunkt erreichte. Sie gehen dabei im heutigen Budapest die Wege nach, die Sie damals als Vierzehnjähriger zurücklegten, als Gefangener und auf der Flucht. Als fleißige Budapest-Besucherin kann ich Ihre Spurensuche fast Schritt für Schritt nachvollziehen. Doch nicht jeder potenzielle Leser im deutschsprachigen Raum ist so vertraut mit den Straßen und Plätzen von Budapest und mit dem Massenmord an den ungarischen Juden gegen Ende des Krieges. Welche Bedeutung hat Ihr Buch für deutschsprachige Leser?

Iván Sándor: Auch in Waterloo waren die Franzosen als Volk nicht mehrheitlich anwesend, aber 
Stendhal hat die Schlacht so gut beschrieben, dass jeder sie sich vergegenwärtigen konnte. Aber das nur nebenbei.
So, wie ich unterrichtet bin, ist ein Teil des deutschsprachigen Leserpublikums sehr anspruchsvoll. Ich hoffe, dass der deutschsprachige Leser anhand dieser ungarischen Holocaust-Geschichte ein anderes Bild von den schrecklichen Geschehnissen am Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt als das, was er bisher aus der rein deutschen Sicht erhalten hat.
Ende 1944 war die Schlacht um Budapest eine der längsten Schlachten, die es im Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Viele wissen nicht, dass sie länger dauerte als die Schlacht um Berlin und die Schlacht um Stalingrad. Es handelte sich um einen Kampf von Haus zu Haus.
Mitten in dieser Hölle kamen die Pfeilkreuzler [ungarische Nazis; ihr Wappen waren zwei sich kreuzende Pfeile; Anm. d. Red.] und schlachteten die Juden, die Deserteure und die wenigen Widerständler ganz einfach ab. Zufall und Glück haben bestimmt, wer davongekommen ist.
Einer der Protagonisten dieses Buches ist Carl Lutz, damals Konsul der Schweizer Botschaft, der zu jenen gehörte, die in dieser Situation noch menschliche Züge zeigten. Das Buch dient auch dazu, ihm die Anerkennung zu verschaffen, die er bis heute nicht gefunden hat.
Ich wollte anhand meiner persönlichen Geschichte vor diesem Hintergrund einen spannenden Krimi schreiben. Um diese Ereignisse aufzuzeigen, habe ich die Spurensuche gewissermaßen an mich gerissen. Ich hoffe, dass diese Nachforschung bezüglich der geschichtlichen Ereignisse viele Leser interessiert - auch bezüglich solcher Ereignisse in Europa, die der deutschsprachige Leser bisher nicht gekannt hat.

www.sandammeer.at: Können Sie Budapest nach all den in Ihrem Buch geschilderten Erlebnissen eigentlich noch als schöne, lebenswerte Stadt wahrnehmen, wie sie sich zum Beispiel dem mit diesem Aspekt der Geschichte nicht vertrauten deutschen Besucher präsentiert? Wenn ja, wann und wie kam es dazu?


Iván Sándor: Viele Überlebende sind nach 1945 in der Tat weggegangen, sie konnten nicht mehr in Budapest leben - sie haben das Land verlassen. Es sind aber auch menschliche Züge, die dann zum Vorschein kommen, nämlich, dass Leute, die eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Ort verbracht haben, dort ungern weggehen. Sie sind gebunden durch ihre Familiengeschichte, die Jugenderlebnisse, die Straßen, in denen sie gespielt haben, die Freunde, die ganze Familie, Kinder, Frauen und so weiter. Das sind ganz starke Bindungen. Viele von jenen, die dort geblieben sind, dachten zudem: Tiefer als derzeit kann die Menschheit nicht mehr sinken; jetzt kann es nur noch aufwärts gehen!
Und ein Schriftsteller ist natürlich auch durch seine Sprache an das Land gebunden. Wie hätte ich das alles jetzt, nach 65 Jahren, sagen können, wenn meine schriftstellerische Sprache nicht dagewesen wäre?
Als ich in Córdoba war, habe ich nie an die 
Inquisition gedacht. Ganz klar, die Leute, die für drei oder vier Tage nach Budapest kommen, wollen Zigeunermusik, die wollen die Stadt angucken, und sie wollen sich nicht mit der schrecklichen Vergangenheit auseinandersetzen. Aber es gibt ein Carl-Lutz-Museum.

www.sandammeer.at: Auf Carl Lutz werde ich noch zurückkommen. - Als Vierzehnjähriger haben Sie geradezu die Hölle erlebt: getrennt von den Eltern, verantwortlich für Ihre zwölfjährige Freundin, im Wissen um Lebensgefahr und ohne eine Vorstellung von der Zukunft irrten Sie durch das ehemals heimische Budapest, sahen Ermordete, wurden Zeuge der Gleichgültigkeit nicht "Betroffener". Welche Spuren hinterlassen solche Erlebnisse in einem Menschen?

Iván Sándor: Ein Knabe von vierzehn Jahren, der eine ausgewogene, gesunde Seele hat, kann sich später viel leichter über diese Dinge hinwegsetzen als ein um einige Jahre älterer Mensch. Da gibt es einen großen Unterschied. Mein Glück bestand nicht nur darin, dass ich selbst überlebt habe, sondern auch meine unmittelbare Familie. Ein Cousin ist umgekommen, aber vor allem die Eltern haben überlebt. Das stärkt einen natürlich auch hinsichtlich der Entscheidung, da zu bleiben.
Mein Vater war ein sehr arbeitsamer Mensch, und sobald der Krieg vorbei war, hatten wir nichts Anderes im Kopf, als neu anzufangen und richtig zu arbeiten. - Jetzt kommt etwas, wovon ich nicht weiß, ob man es in den deutschsprachigen Ländern verstehen kann: 1945/46 ist eine neue Epoche angebrochen; alle sind in Ungarn aus den Trümmern gekrochen. Sie wollten ein neues Land, ein neues Leben, und das gibt natürlich sehr viel Kraft. Zu dieser Zeit schrieb ich bereits meine erste Erzählung.

www.sandammeer.at: Die Stimmung war, wenn ich das als Nachgeborene beurteilen kann, in Deutschland zu dieser Zeit ähnlich. Jetzt möchte ich aber natürlich gern auf Herrn Lutz zu sprechen kommen.
In Ihrem Buch arbeiten Sie ein Stück Ihrer Vergangenheit auf - den ungarischen Aspekt des Holocaust und die heldenhaften Versuche eines Mannes, des Schweizer Diplomaten Carl Lutz, möglichst viele Juden zu retten. Carl Lutz war offensichtlich nicht weniger ein Held als der ungleich berühmter gewordene schwedische Diplomat Raoul Wallenberg. Bitte umreißen Sie kurz, in welcher Weise Ihr Leben in jenen schicksalhaften Tagen mit dem des Carl Lutz verknüpft war.


Iván Sándor: Bei der Judenrettung hat eigentlich Wallenberg die zentrale Rolle gespielt. Natürlich entwickelte sich ein richtiger Mythos um ihn dadurch, dass er von den Russen verschleppt wurde [siehe u. A. http://www.raoul-wallenberg.de, Anm. d. Red.]; Sie wissen ja, dass bis heute nicht geklärt wurde, wie er ums Leben kam. Im Grunde hat Wallenberg zwei Mythen: als großer Menschenretter und als Märtyrer.
Carl Lutz wurde in der Schweiz statt Anerkennung eine Rüge zuteil: Er habe seine Kompetenzen überschritten. Selbst in diplomatischen Kreisen wurde das, was er getan hatte, nicht anerkannt. Aufgrund dieser Tatsache konnte man weder in der Schweiz noch weltweit etwas über ihn erfahren - jahrzehntelang. Erst Ende der 60er-Jahre hat er eine Anerkennung gefunden.
Durch die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem wurde er erst Anfang der 70er-Jahre als wahrer Retter ausgezeichnet. Vor zwanzig Jahren wurde die erste Skulptur von Carl Lutz in Ungarn eingeweiht. Seither ist eine Carl-Lutz-Stiftung entstanden, die heute noch existiert und alles dokumentiert, was Carl Lutz getan hat. Es gibt auch ein Carl-Lutz-Gedächtnishaus. Unter Anderem dort wurden die gefälschten Schutzbriefe ausgestellt. Man spricht zwar in Ungarn inzwischen mehr über Carl Lutz, aber immer noch viel weniger als über Wallenberg. Ich nehme daher auch gern das Lob entgegen, dass durch mein Buch Carl Lutz einem weiteren Personenkreis bekannt wird.

www.sandammeer.at: Aus Ihrem Buch geht auch hervor, dass Carl Lutz in seiner Zeit als Diplomat in Palästina eher Antisemit war. Wie lässt sich diese Wandlung erklären?

Iván Sándor: Er war nicht nur in Palästina Antisemit, sondern er kam aus einer strenggläubigen Schweizer Familie, in der natürlich antisemitische Tendenzen vorhanden waren. Zuerst war er in Amerika Diplomat, dann kam er nach Palästina.
Es handelt sich eigentlich um einen gefühlten, nicht um einen politischen Antisemitismus. Man kann es auch so sagen: Es ist kein Rassismus, sondern ihm waren, wie es bei vielen Leuten der Fall ist, die Juden einfach nicht sonderlich sympathisch.

www.sandammeer.at: ... So, wie man hierzulande manchmal sagt: "Die Türken" sind soundso ...

Iván Sándor: Ja, genau. Aber gerade das macht seine Größe aus, dass seine humanistischen Gefühle all dieses andere Zeug ausradiert haben. Vor seinem persönlichen Hintergrund ist das meiner Ansicht nach ein Zeugnis von mehr Größe, als wenn man aus einer jüdischen Familie stammt. Er musste natürlich gegen bestimmte Vorurteile handeln. Er sagte nicht einfach: "Na ja, das kann man ja nicht dulden, was die mit den Juden machen"; er hat auch etwas getan.

www.sandammeer.at: Ja, die Schutzpässe!

Iván Sándor: Mein Vater hat ja einen Schutzpass von Carl Lutz gehabt, der aber vermutlich gefälscht war. Das findet man im letzten Teil des Romans wieder, als der Junge mit seinen Eltern zusammentrifft.

www.sandammeer.at: Auf der Außenseite der deutschen Ausgabe Ihrer "Spurensuche" sieht man das Budapester Imre-Nagy-Denkmal. Dieses zeigt den nach dem Ungarnaufstand hingerichteten Ministerpräsidenten und Volkshelden auf einer Brücke, wie er zum Parlament hinblickt - eines meiner Lieblingsdenkmäler. Imre Nagy hat mit Ihrer Spurensuche eigentlich nicht unmittelbar zu tun. Gefällt Ihnen das Bild? Haben Sie es ausgesucht?

Iván Sándor: Nein. Dieses Denkmal steht ja in der Nähe des Parlaments. dtv hat es ausgewählt. Sogar in Ungarn wissen viele Leute nicht, dass es sich bei der Skulptur um Imre Nagy handelt. Es ging dtv um die Symbolik von Gegenwart zu Vergangenheit, und ich stehe auf der Brücke und schaue aus der Gegenwart in die Vergangenheit.
Anfangs habe ich gesagt, das kommt überhaupt nicht infrage; mein Roman spielt nicht 1956. Aber sie sagten, trotzdem, diese Brücke, diese Symbolik ... Nun ja.

www.sandammeer.at: In Ungarn lässt sich seit einiger Zeit ein "Rechtsruck", verbunden mit antisemitischen Tendenzen, beobachten. Nach meiner Beobachtung tut sich Ungarn schwer mit der Aufarbeitung seiner rechtsradikalen Vergangenheit. Konnte Ihr Buch in Ungarn etwas bewirken? Wie hat man dort darauf reagiert?

Iván Sándor: Die Ungarn tun sich tatsächlich schwer damit, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie haben die Aufarbeitung der Vergangenheit viel weniger im Griff als die Deutschen, die in dieser Hinsicht viel mehr geleistet haben. Die Ungarn verdrängen immer noch. Es gibt ab und zu Sonntagsreden, aber im Volk ist das nicht angekommen.
Liberale und sozialistische, sprich: links stehende Parteien habe das besser im Griff, aber die immer größer werdenden rechten Parteien wollen davon überhaupt nichts wissen. Und auch, wenn die ungarische Kritik den Roman sehr gut aufgenommen hat - mit einem Buch kann man nicht viel bewegen. Auch der "Roman eines Schicksallosen" von Kertész hat ja überhaupt nichts erreicht.

www.sandammeer.at: Ich kenne nun freilich ungarische Linksintellektuelle, die sich für diese Art von Literatur überhaupt nicht interessieren. Man könne das doch auch in Geschichtsbüchern nachlesen.

Iván Sándor: Meine Tante hat dasselbe gesagt. Sie lebt seit sechzig Jahren in Amsterdam. Aber dann hat sie das Buch gelesen, und sie hat es nicht bereut. - Ich hoffe, dass mein Buch ein bisschen anders ist als die Bücher über den Holocaust, denn dieses Buch handelt eigentlich auch vom Heute.
Wenn Sie auf einer vertrauten Straße gehen, werden Sie immer aus Ihren Kindheitserinnerungen herausgeholt, weil zum Beispiel eine Ampel rot ist. Das kommt ohne Ankündigung.
Deshalb habe ich mich auch dagegen gewehrt, dass es im Buch beispielsweise Sternchen oder kursiver Druck ankündigen, wenn eine andere Zeit kommt.

www.sandammeer.at: Der Leser ist somit aufgefordert, ein Stück weit mitzudenken.

Iván Sándor: Wie Umberto Eco wollte ich einen geschichtlichen Krimi schreiben, und ich möchte durch mein Buch auch die Leute in die Vergangenheit schubsen.

www.sandammeer.at: Gern würde ich noch auf das Holocaust-Denkmal an der Donau zu sprechen kommen, die nachgebildeten, am Ufer zurückgebliebenen Schuhe der Opfer der Massenerschießungen. Ich bin dort oft hingegangen, und ich gebe zu, dass ich dort auch geweint habe. Aber da die erklärenden Plaketten so ungünstig angebracht sind, versteht kaum ein Tourist, worum es geht, und dann steigen Amerikaner in diese Schuhe und posieren für alberne Fotos! Das macht mich so zornig! Warum stellt man dieses Denkmal nicht angemessen vor, das ja an sich sehr gut gemacht ist und berühren kann?

Iván Sándor: Das liegt natürlich an der Stadtverwaltung. - Die Kunst hat selbstredend andere Möglichkeiten, etwas an die Leute heranzutragen, als das bloße Reden darüber. Es gab auch einen aggressiven Angriff auf diese Schuhe. Leider ist das in Budapest kein Einzelfall. Es gab nachher eine Gegendemonstration von mehreren tausend Leuten.

www.sandammeer.at: Sie sind ein großer Schriftsteller und ein Mann, der zwei Diktaturen durchgestanden und durchlitten hat - die ungarische Variante des Nationalsozialismus und den Kommunismus. Die Leser von www.sandammeer.at sind überwiegend jüngere Menschen aus den deutschsprachigen Ländern, die solche Diktaturen hauptsächlich aus dem zumeist ungeliebten schulischen Geschichtsunterricht kennen. Was können Sie diesen Menschen auf ihren Lebensweg mitgeben?

Iván Sándor: Sie sollten bedenken, dass jeder von uns von einer Mutter geboren wurde. Der Mensch wird erst wirklich Mensch in dem Maße, in dem er Verständnis, Toleranz und Liebe gegenüber anderen empfindet. Sie sollen nicht den Leuten folgen, die im 20. Jahrhundert das Gegenteil gezeigt haben.
Heute ist der 15. Oktober. Genau vor 65 Jahren, am 15. Oktober 1944, hat Ferenc Szálasi, ein Pfeilkreuzler, mit einem Putsch die Macht an sich gerissen. Und ich komme heute zu Ihnen nach Deutschland, mein deutschsprachiges Buch in der Hand haltend. Das ist die Geschichte, und das ist meine Geschichte.

www.sandammeer.at: Auch im Namen von www.sandammeer.at bedanke ich mich ganz herzlich für dieses Interview und wünsche Ihnen alles Gute!

Iván Sándor: Danke.


Das Interview wurde am 15. Oktober 2009 auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Verlags dtv von Regina Károlyi geführt. Gábor Szász, Iván Sándors Literaturagent, stand freundlicherweise als Übersetzer zur Verfügung, wofür ihm an dieser Stelle sehr gedankt sei. Das Foto stammt mit mündlicher Erlaubnis von der Netzpräsenz des Autors.

"Spurensuche. Eine Nachforschung"
Der vierzehnjährige Iván flieht im Kriegswinter 1944/45 gemeinsam mit seiner Freundin Vera vor den Deportationen im belagerten Budapest. Carl Lutz, der Schweizer Vizekonsul, ist ebenfalls auf den unter Beschuss liegenden Straßen unterwegs: Wie der weitaus bekanntere Raoul Wallenberg stellt er sich mutig den Anordnungen der Nationalsozialisten entgegen und wird zum Retter von mehr als 60.000 Juden. Auch die beiden Jugendlichen begegnen dem Diplomaten, doch Iván Sándor erfährt erst Jahre später, wen er damals vor sich hatte. Mit dramaturgischer Raffinesse verknüpft er seine persönlichen Erinnerungen mit der berührenden Geschichte von Carl Lutz, dessen furchtloses Handeln ihn zu einem Vorbild für Zivilcourage und Humanität werden ließ. (dtv premium)
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