Interview mit Michael Petery über "Michelangelo. Der Zorn des Schöpfers"
sandammeer: Michelangelo
als Roman - ist dieses Unternehmen überhaupt sinnvoll? Kann man über einen
solchen Ausnahmekünstler wie Michelangelo einen literarischen Text verfassen,
ohne nicht von vornherein an der Größe eines solchen Stoffes zu scheitern?
Michael Petery: Zunächst
einmal: Ich bin nicht der Erste, der einen Michelangelo-Roman geschrieben hat.
Es gibt bereits zahlreiche Bücher, die sich der Person Michelangelos auf
literarischem Wege nähern, und aufgrund der Vorlage des Romans von Irving Stone
gibt es auch den Film von Carol Reed (1965). Das Leben Michelangelos ist ein so
gewaltiger Stoff, dass er immer wieder zu künstlerischer Gestaltung gereizt
hat. Ich denke nicht, dass es ein in der Sache begründetes Verbot gibt, welches
besagt, über Michelangelo dürften nur Bildbände, wissenschaftliche Studien
und Sachbücher erscheinen. Es gibt meiner Meinung nach mehr als nur einen Weg,
sich mit Michelangelo zu beschäftigen- und die Vielfalt dieser Möglichkeiten
sehe ich als Bereicherung.
sandammeer: Auf
den ersten Blick scheint es, Sie haben Ihr Buch gewissermaßen auf zwei Ebenen
angelegt. Zum Einen gibt es die eher sachliche Erzählung von Michelangelos äußeren
Lebensdaten und zum Anderen die Schilderung seiner durch Intuition oder Mutmaßung
gewonnenen inneren psychischen Entwicklung.
Michael Petery: Ich
glaube nicht, dass diese beiden Ebenen voneinander zu trennen sind. Schließlich
habe ich mich bewusst dazu entschieden, kein Sachbuch über Michelangelo zu
schreiben, sondern einen biografischen Roman. Die Chance des Romans ist es,
innere Zusammenhänge auch dort auszuloten, wo es nur sehr wenig oder gar kein
konkretes Quellenmaterial gibt. Das bedeutet aber nicht, dass man in blinde
Spekulation abgleiten muss. Es geht hier um innere Wahrscheinlichkeiten. Und es
geht auch um die Möglichkeiten der Literatur, die hier helfen kann,
Michelangelo und seine Kunst besser zu verstehen. Denn eines ist klar: die Werke
Michelangelos sind nicht als solche in fertiger Vollendung vom Himmel auf die
Erde versetzt worden, sondern es muss den Menschen Michelangelo gegeben haben,
der an dieser Aufgabe gerungen hat, gekämpft, auch gehadert und gezweifelt.
Eine auf den ersten Blick rein sachliche Darstellung der Biografie
Michelangelos, die nur seine Erfolge und Leistungen aneinander reiht, ist sicher
weit mehr von der konkreten Lebenswirklichkeit Michelangelos entfernt als der
Versuch, den ich in meinem eigenen Buch unternommen habe.
sandammeer: Woher
nehmen Sie denn das Material für diese Schilderung von Michelangelos innerer
Entwicklung, wenn in den Quellen davon nur wenig die Rede ist?
Michael Petery: Zunächst
einmal: Es ist nicht so, dass wir überhaupt keine Quellen zu dieser inneren
Entwicklung Michelangelos hätten. Es lassen sich durchaus eine ganze Menge
Hinweise in den Quellen finden. Das Problem ist nur: Die ersten Biografen
Michelangelos, Vasari und Condivi, waren enthusiastische Bewunderer, die einen
Helden, ja sogar einen Halbgott, darstellen wollten, der vom Himmel her kommt
und die Menschen in Sachen der Kunst unterweist. So hat es Vasari selbst in der
Einleitung zu seiner eigenen Darstellung geschrieben. Und diese Heroisierung
Michelangelos hat Schule gemacht. So sehr, dass es noch heute Menschen gibt, die
meinen, man dürfe sich an so etwas wie eine menschlich wahrscheinliche
Darstellung der Entwicklung Michelangelos gar nicht herantrauen. Solche Leute
wollen sich ihr eigenes Bild vom künstlerischen Übermenschen Michelangelo
nicht zerstören lassen, und da löst meine eigene Darstellung manchmal sogar
Aggressionen aus.
sandammeer: Eine
neue Auswertung der Quellen ist also die Basis Ihres Buches?
Michael Petery: Wenn
man die zeitgenössischen Michelangelo-Biografien ein wenig gegen den Strich
liest, dann lässt sich einiges Material finden, das einen Michelangelo zeigt,
der noch nicht von vornherein das fertige Genie ist. Dieses Material habe ich
konsequent genutzt. Aber noch wichtiger für die Geschichte Michelangelos sind
seine Werke selbst. Wenn man etwa die gewaltige Decke in der Sixtinischen
Kapelle nicht von vornherein als das fertige Riesenkunstwerk betrachtet, sondern
sich klarmacht, dass man hier nur das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses vor
sich hat, sozusagen die Momentaufnahme des Abschlusses dieser Arbeitszeit, dann
kann man damit beginnen, Stück für Stück den Weg zurückzukonstruieren, wo
das Fertige noch unfertig war, bis hin zu dem Punkt, als Michelangelo zum ersten
Mal dieser schier unbezwingbar großen leeren Fläche gegenüberstand und alles
Kommende nur als ungewisse Vorstellung in seinen eigenen Ideen vorhanden war.
Dass es diesen Punkt gegeben haben muss ist historisches Faktum. Nur kommt
dieser Punkt in den bisherigen Michelangelo-Darstellungen oft gar nicht vor oder
viel zu kurz. Hier habe ich angeknüpft: Ich gehe in meinen Schilderungen an
jedem Punkt in Michelangelos Biografie dahin zurück, wo es bestenfalls eine
erste Ahnung vom kommenden Werk geben kann, und entwickle dann ausgehend von
dieser ersten Ahnung meine Darstellung vom Fortgang des entstehenden Werkes.
Dieses Verfahren ist mehr als bloße Spekulation. Denn dass Michelangelos Werke
in einem vielschichtigen Prozess entstanden sind, ist nicht zu leugnen.
Und jede Darstellung, die diesen Prozess deutlich werden lässt, hat mehr an
psychologischer Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit für sich, als die bloße
Beschreibung der fertigen Kunstwerke.
In dieser Hinsicht bietet der biografische Roman Möglichkeiten für einen
Erkenntnisgewinn, den ein Sachbuch kaum je erreichen kann.
sandammeer: In
Ihrem Band "Der Zorn des Schöpfers" gibt es eine Reihe von Rückblenden
auf Michelangelos Kindheit. Woher stammt das Material, das Sie hier verwendet
haben?
Michael Petery: Auch
hier bilden die tatsächlichen biografischen Umstände den Kernbestand,
insbesondere der frühe Tod von Michelangelos Mutter bei der Geburt seines jüngsten
Bruders. Die Traumatisierung durch dieses Ereignis hat Michelangelo sein ganzes
Leben hindurch verfolgt:
Nicht umsonst erscheint das Bild von Mutter, Sohn und Tod immer wieder in seinem
Werk, von seiner ersten bekannten Arbeit in der Bildhauerschule zu Florenz, der
Madonna an der Treppe, bis hin zu seiner letzten Pietà, die sich heute in
Mailand befindet und an der Michelangelo noch wenige Tage vor seinem Tod mit
neunundachtzig Jahren arbeitete.
sandammeer: Gibt
es auch Material, das definitiv nicht zur Michelangelo-Geschichte gehört?
Michael Petery: Aus
meiner Sicht habe ich natürlich nur Material verwendet, welches zu der
Geschichte passt und damit auch hineingehört. An ein paar wenigen Stellen habe
ich mir aber tatsächlich erlaubt, ursprünglich fremdes Material hinzuzuholen.
Literarisch ist das übrigens ein sehr altes Verfahren: Erzählkomplexe über
bekannte Helden neigen dazu, fremde Geschichten aufzusaugen, so dass auch diese
mit dem Namen des bekannten Helden verknüpft werden.
sandammeer: Können
Sie uns ein Beispiel aus Ihrem Roman verraten?
Michael Petery: Gerne. Die Geschichte vom Tongeschirr,
das der junge Michelangelo nach der Geburt des jüngeren Bruders aus dem Fenster
wirft, findet sich ursprünglich als Kindheitserinnerung in Goethes Dichtung und
Wahrheit. Ich habe diese Geschichte für Michelangelo übernommen, da sie zum
Einen wunderbar die Hilflosigkeit illustriert, mit der ein Kind auf die Geburt
des konkurrierenden Geschwisters reagiert, und zum Anderen als eine Referenz an
Sigmund Freud, der sich in seinen Schriften zur Bildenden Kunst mehrfach über
Michelangelo geäußert hat. Freud hat eben diese Kindheitserinnerung Goethes in
einem großartigen Essay analysiert; das war
mir Anlass, diese Geschichte in mein Buch hineinzunehmen.
sandammeer: Spielt
Freud in Ihrem Buch auch sonst eine Rolle?
Michael Petery: Ich
denke, es ist schwer, einen biografischen Roman zu schreiben, ohne auf Freud zurückzukommen.
In diesem Sinne ist Freud natürlich immer wieder in meinem Buch präsent.
Freud hat als Erster die Bedeutung der Kindheit für die weitere Entwicklung
eines Menschen aufgezeigt. Und in diesem Sinne versuche ich, Michelangelos
Kindheit in meinen Roman mit hineinzunehmen. Wenn ich eine plausible Darstellung
von Michelangelos Leben liefern möchte, kann ich seine Kindheit unmöglich
ausblenden.
sandammeer: Warum
erscheinen diese Reminiszenzen an Michelangelos Kindheit erst in der Mitte Ihrer
Michelangelo-Trilogie, im Band "Der Zorn des Schöpfers" und nicht
gleich zu Beginn? Sind Sie erst während des Schreibens auf diese Idee gekommen?
Michael Petery: Nein,
die Darstellung der Kindheit erst in der Mitte des Buches als Rückblende zu
bringen, war von vornherein Konzept meines Buches. Ich denke, jeder Mensch ist
von Natur aus eine Zeitlang gegen die Traumatisierungen seiner Kindheit immun,
bis etwa Mitte dreißig. Bis dahin ist er damit beschäftigt, sich selbst eine
Position im Leben zu schaffen, sich eine äußere Basis seines Erfolgs zu
sichern. Das ist das Thema, von dem der erste Band meiner Trilogie "Frömmigkeit
und Ironie" handelt. Die Bewusstwerdung der Kindheit kann erst nach dieser
Immunzeit einsetzen. Für mich hat es alle innere Wahrscheinlichkeit, dass
Michelangelo erst mit seinem Riesenwerk in der Sixtina auch die
Auseinandersetzung mit der Kindheit beginnen kann. Jetzt, bei dieser Arbeit, die
nicht mehr nur Stufe zu weiterem Erfolg ist, sondern durch ihren Umfang zu
jahrelangem Innehalten zwingt, kann diese Erinnerung an die Kindheit
hervorbrechen. Und tatsächlich finden sich die entscheidenden Themen der
Kindheit in seinem Bild der Sixtina wieder: die Brüder, die junge Mutter, die
zerbrochene Familie, die Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Vater. Dies
alles hätte Michelangelo in einem früheren Lebensalter gar nicht leisten können.
sandammeer: Die
Anwendung der Freudschen Techniken auf Michelangelo - scheint das nicht etwas
gewagt? Schließlich ist die Psychoanalyse sehr eng mit dem bürgerlichen
Zeitalter um 1900 verbunden. Und Michelangelo ist ein Mensch der Renaissance.
Michael Petery: Vom
Standpunkt Sigmund Freuds ist das sicher kein Problem. Freud selbst hat die Gültigkeit
der psychoanalytischen Techniken niemals auf die Patienten seiner eigenen
Gegenwart beschränkt. Denken Sie nur an Aufsätze wie "Totem und Tabu"
oder "Der Mann Moses und die monotheistische Religion". In beiden Aufsätzen
geht Freud historisch noch sehr viel weiter zurück in die Vergangenheit. Ich
denke, man muss Freud nicht einmal in jedem Punkt beipflichten, um dem Gedanken
zustimmen zu können, dass Kindheitserlebnisse von prägender Bedeutung für den
späteren, erwachsenen Menschen sind. Und dieser Gedanke scheint mir in Bezug
auf mein eigenes Buch ein sehr fruchtbarer Ansatz gewesen zu sein.
sandammeer: Ein
weiterer wichtiger Aspekt ist bei Ihnen die Interpretation von Michelangelos
Werken durch ihre Entstehungsgeschichte. Können Sie ein Beispiel nennen, wo Sie
in Ihrem Buch zu einer neuen Sicht von Michelangelos Kunst gefunden haben?
Michael Petery: Die
biografische Methode eröffnet meines Erachtens tatsächlich Deutungsmöglichkeiten,
die bisher eher weniger beachtet wurden. Nehmen wir die erste römische Pietà,
die Michelangelo mit nicht einmal 25 Jahren geschaffen hat. Wir sind heute durch
unendlich viele Abbildungen so sehr mit dem Werk vertraut, dass wir die
revolutionäre Sprengkraft dieses Kunstwerks kaum noch sehen. Dabei hat
Michelangelo dieses Werk bewusst als einen Kunstskandal angelegt: Er kombinierte
die Darstellung des Jesuskindes auf dem Schoß der Mutter mit der
Beweinungsszene. Und so erschien der erwachsene Christus auf dem Schoß der mädchenhaften
Mutter den Zeitgenossen geradezu als sexuelle Provokation. Um diese ursprüngliche
Wirkung der Statuengruppe zu verstehen, hilft ein Blick auf die biografischen
Umstände ihrer Entstehung. Ohne Michelangelos fast schon verzweifelten Willen,
unbedingt in Rom künstlerische Anerkennung zu finden, und dabei auch sehr
unkonventionelle Methoden zu gebrauchen - zuvor versuchte er sich sogar als
Antikenfälscher -, wäre es zu diesem Bildwerk sicher nicht gekommen. Und die
geradezu brutale Signierung, die Michelangelo nach der Fertigstellung und
Aufstellung der Pietà im Petersdom vor sich nahm, spricht erst recht ihre
eigene Sprache. In deutlichen Lettern steht da auf dem Band, das über die Brust
der Gottesmutter führt: Michelangelo Buonarroti aus Florenz hat mich gemacht.
Noch heute, über 500 Jahre später, würde ein Künstler Skandal machen, der in
dieser Weise sein Werk im Petersdom nachträglich signieren würde.
sandammeer bedankt sich für das Interview.
Das Interview führte Heike Geilen im März 2009 per E-Mail.