Interview mit Christian Nürnberger über
"Die Bibel - Was man wirklich wissen muss"
am Stand des Rowohlt-Verlags auf der Frankfurter Buchmesse 2005


sandammeer: In Ihrem neuen Buch "Die Bibel - Was man wirklich wissen muss" erklären Sie die Ihrer Ansicht nach wesentlichen Geschichten und Botschaften des "Buchs der Bücher". An wen wendet sich das Buch - wer könnte von der Lektüre profitieren?

C. Nürnberger: Eigentlich wendet es sich an alle - aber natürlich speziell an junge Menschen und deren Eltern, die es kaufen, aber auch lesen sollen. Dann wendet es sich an kirchliche Insider, die meinen, schon alles zu wissen. Zudem wendet es sich an Leute, die mehr am Rande der Kirche stehen, aber noch nicht ganz mit ihr gebrochen haben. Und es wendet sich an all jene, die die Welt verstehen wollen. Denn um die Welt zu verstehen, vor allem, um Europa zu verstehen, muss man die Wurzeln kennen, und eine der ältesten Wurzeln liegt am Berg Sinai. Deshalb beginnt das Buch auch fast mit Adam und Eva, und dann kommt der Berg Sinai.

sandammeer: Was hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?

C. Nürnberger: Dazu gibt es eine kurze und eine lange Geschichte. - Die kurze Geschichte: Ich habe vor ein paar Jahren mit meiner Frau zusammen zwei Bücher über Erziehung geschrieben, "Der Erziehungsnotstand" und "Stark für das Leben". Darin hatten wir auch ein Kapitel über religiöse Erziehung, und da stellten wir fest: Das fehlt, das gehört unbedingt zur Bildung. Man muss nicht glauben, aber man muss Bescheid wissen. Deshalb sind Bibel, Religion und Christentum einfach Teil einer guten Bildung. Um dafür etwas zu tun, habe ich das Buch geschrieben.

Der zweite Grund ist eine lange Geschichte: Ich habe vor 25 Jahren Theologie studiert, nicht so sehr, um Pfarrer zu werden, sondern in der Absicht, mir Gewissheit zu verschaffen; mein Kinderglaube war weg, und das habe ich als schmerzhaften Verlust empfunden. Ich dachte, vielleicht könne man sich durch das Theologiestudium in einen Erwachsenenglauben hineinretten. Aber nach vier Semestern habe ich gemerkt: Ich kann hundert Semester studieren und werde mir trotzdem nie mehr Gewissheit verschaffen. Daraufhin beschloss ich, die Gottsucherei aufzugeben, und sagte mir: Gut, du bist ein Agnostiker, du kannst diese letzten Fragen nicht beantworten, du weißt nicht, ob ja oder nein, also lebe als Agnostiker fröhlich weiter. So habe ich das auch 25 Jahre lang gehalten.
Anfang 2000 habe ich dann ein Buch geschrieben, "Die Machtwirtschaft", eine Globalisierungskritik. Ich hatte gehofft, es würde die Partei interessieren, der ich seit 35 Jahren angehöre, die SPD; dem war aber nicht so. Es hat auch sonst niemanden interessiert, denn das Buch kam zu einem ganz falschen Zeitpunkt heraus, auf dem Höhepunkt der Aktieneuphorie und des Neuen Marktes.
Dann jedoch hat sich die Kirche dafür interessiert. Die haben mich ständig eingeladen, und das hat mich so gerührt, dass ich mich wiederum für die Kirche interessierte. Ich wurde aber enttäuscht, denn gerade zu jener Zeit waren in allen Ordinariaten McKinsey-Leute unterwegs, Unternehmensberater, die den Bischöfen einflüsterten: Ihr müsst euch als Unternehmen auf dem Markt der Weltanschauungen und Religionen etablieren und euch wie ein Unternehmen verhalten.
Das fand ich so schreiend falsch, dass ich aus Wut ein Buch schrieb: "Kirche, wo bist du?" Es hat einiges Aufsehen erregt; seit mittlerweile drei Jahren reise ich durch verschiedene kirchliche Gremien, trage vor, und am Ende wird mir stets die Frage gestellt: "Was sollen wir denn Ihrer Meinung nach tun, Herr Nürnberger?" Das hat mich immer geärgert, weil ich erstens nicht weiß, was die Kirche tun soll, und weil wir zweitens ein Buch haben, in dem alles steht, was sie tun soll, nämlich die Bibel. Auch deshalb habe ich das Buch geschrieben.

sandammeer: Bitte umreißen Sie die Kernaussagen der Bibel, die Sie in ihrem Buch aus den Originaltexten sozusagen herausdestillieren. Welche Impulse ergeben sich daraus für unsere Gesellschaft?

C. Nürnberger: Es geht ja in der Bibel darum, dass Gott sich ein Volk erwählt hat: das Volk Gottes, das Volk Israel. Es wird nirgendwo in der Bibel erklärt, wozu er dieses Volk braucht. Man liest immer nur, wie er es macht, wie es geht, aber wozu braucht Gott ein Volk?
Die Antwort ist: Er braucht dieses Volk, damit es den anderen Völkern vorlebt, wie man als Gesellschaft leben muss, damit das Leben aller Menschen gelingt. An diesem Versuch arbeiten wir noch heute. Das ist der Kern der Bibel: herauszufinden, wie man leben muss, damit das Leben gelingt - aber nicht nur als Einzelner, sondern als Gesellschaft, und daher hat das immer auch mit Gemeinschaft zu tun. Die zentrale Aussage lautet: Nur, wenn sich diejenigen, die an Gott glauben, als Volk Gottes verstehen und von ihm führen lassen, sich als Werkzeug benutzen lassen und auf eigene Autonomieansprüche verzichten, dann gelingt das Leben.

sandammeer: Ist die Kirche als Institution nicht eigentlich überflüssig, wenn wir künftig zu den Kernaussagen der Bibel zurückfinden und uns an ihnen orientieren?

C. Nürnberger: Sie ist sicherlich nicht überflüssig. Die Kirche ist die Gestalt des Volkes Gottes. Aber sie kann sich natürlich selbst überflüssig machen, indem sie von dieser Volk-Gottes-Idee wegkommt, indem sie sich zum Beispiel als Unternehmen versteht, als Hochtheologiekonzern, der seine Mitglieder als Kunden bedient, der somit Kundendienst macht statt Gottesdienst. Diese Kirche brauchen wir nicht, die ist tatsächlich überflüssig. Aber Privatchristentum geht auch nicht, denn die Bibel sieht es nicht vor.

sandammeer: Sie selbst sind Agnostiker, das heißt, Sie halten die Frage nach der Existenz Gottes für nicht beantwortbar. Hat die Bibel für Sie eine Bedeutung außer der von ihr vermittelten Sozialethik?

C. Nürnberger: Ja. Sie hat die Bedeutung, dass in mir die Hoffnung nicht stirbt, alles könne wahr sein, was in ihr steht, und dass am Ende der Tage dieser Gott sich offenbart und für uns alle eine Überraschung parat hat. Diese Hoffnung gebe ich nicht auf.

sandammeer: Indem Sie die Aussagen einiger moderner Theologen erläutern, die nicht nur Wunder wie Krankenheilungen, sondern auch die Auferstehung verneinen, nehmen Sie der Religion ihre Mystik oder zumindest die Grundlagen dafür. Ist es aber nicht gerade auch das mystische Element, das die Religion in unserer aufgeklärten, intellektualisierten Welt so anziehend macht, und nicht nur die Sozialethik? Geht da nicht ein wenig die angenehme "Stallwärme" verloren?

C. Nürnberger: Mit der Mystik tue ich mir schwer, ich verstehe die Mystik nicht. Diejenigen, die sie prägen, sind Individualisten. Das Volk Gottes besteht zwar aus Individualisten, aber es bildet zusammen ein Ganzes. Und das Ganze ist eigentlich das Mysterium: dass es dieses Volk überhaupt gibt, dass es in die Welt gekommen ist, dass diese Botschaft durch die Jahrtausende getragen wird und sich immer wieder an Einzelnen entzündet, die dann neue Gemeinschaften in die Welt setzen und die Kirche wieder auf Kurs bringen. Das ist das eigentliche Mysterium.

sandammeer: Der "Hype" um den Papst auf dem Kölner Weltjugendtag hat gezeigt, dass die Jugend zu ihrer Orientierung nicht nur kurzlebige Star-Idole sucht, sondern durchaus auch Leitfiguren mit eher unbequemen Forderungen. Ihrer Meinung nach sollte die Kirche sich auf die Grundaussagen der Bibel und auf ihre Funktion als Volk Gottes zurückbesinnen und weder dank ausgefeilter Marketingstrategien auf der Wellness-Welle mitschwimmen noch eine Rückwendung zum Fundamentalismus vollziehen. Wie ist das in der Praxis mit
unserer Jugend und unserer Gesellschaft möglich?

C. Nürnberger: Schwierig. Aber diese Begeisterung der Jugend zeigt ja, dass da vielleicht etwas Neues entsteht. Vielleicht etwas, das der Jugend selbst und auch vielen Erwachsenen noch gar nicht richtig bewusst ist. Sie alle haben das Gefühl, dass dieser säkulare Zirkus, den wir seit fünfzig Jahren haben, keines unserer Probleme wirklich löst. Die meisten unserer Probleme schiebt man seit dreißig Jahren ungelöst vor sich her. Alle paar Monate gibt es Gipfelkonferenzen und G8-Treffen; die Politiker lächeln dann überlegen in die Kameras und suggerieren, sie hätten alles im Griff. Sie gleichen immer mehr dem irakischen Informationsminister, der auch immer gesagt hat: "Wir haben alles im Griff" - und hinter ihm schlugen die Raketen ein. Das merken die Menschen, deshalb beginnt jetzt ein Tasten und Sehnen und ein unbewusstes Fragen, ob es in der Religion noch eine Weisheit zu entdecken gibt, die uns helfen könnte, die vielen Probleme zu lösen, die wir haben. Das ist, glaube ich, der Hintergrund dieses "Hypes" um den Papst und auch die Sehnsucht nach Menschen, denen man vertrauen kann. Das Vertrauen in die Politiker, in die Eliten dieser Gesellschaft hat ja auch sehr stark gelitten. Dann hält man sich eben an Leute wie den Papst, auch wenn er Kondom und Pille verbietet; man sagt sich: "Okay, das ist weiter nicht ernst zu nehmen, aber vielleicht andere Aspekte."
Das ist ein Anfang. Und wenn der Gott existiert, von dem die Bibel spricht, wird er sich schon etwas einfallen lassen, damit etwas entsteht. Wie man das organisieren könnte, weiß ich nicht - das muss der liebe Gott machen, wenn es ihn gibt und wenn er Interesse daran hat.

sandammeer: Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Regina Károlyi am 21.10.2005.