Interview mit Attila Bartis über "Die Ruhe"


sandammeer: Gleich zu Anfang eine Frage, die Sie wahrscheinlich in den meisten Interviews beantworten müssen. Sie sind ausgebildeter Fotograf. Wie kamen Sie zum Schreiben?

Attila Bartis: Meiner Meinung nach stellt sich die Frage genau umgekehrt: Warum benötige ich neben dem Schreiben die Fotografie? In der Tat fotografiere ich, aber ich hatte schon jahrelang geschrieben, bevor ich zum ersten Mal einen Fotoapparat in die Hand nahm. Natürlich ist es wesentlich schwieriger zu entscheiden, seit wann genau man schreibt, genauer: seit wann man das schreibt, was bereits als Literatur zählt, als den Zeitpunkt, seit dem man fotografiert. In einem gewissen Sinn macht einen die bloße Anwendung der Technik schon zum Fotografen. Sekundär ist, ob man gut oder schlecht, Amateur oder Profi ist; was wir produzieren, ist alles Teil der Geschichte der Fotografie. Die Literatur ist diesbezüglich viel strenger und viel weniger fassbar. Man kann schwerlich behaupten, dass die Literatur die Summe der irgendwann niedergeschriebenen Texte darstelle. Ebenso wenig können wir sagen, das Schreiben, der Gebrauch von Feder und Papier, sei ein unerlässlicher Teil der Literatur. Denken wir zum Beispiel an die Volksdichtung. Wenn wir all dies in Betracht ziehen, ist es schwer zu entscheiden, ob ich bereits Autor war, als ich Fotograf wurde, oder noch lediglich schrieb?

sandammeer: Die Figuren in Ihrem Roman sind so unglaublich realistisch dargestellt. Bilden Sie ab - hat der Roman biografische oder autobiografische Züge? Oder stammen die Figuren und ihre furchtbaren Verwicklungen allein aus Ihrer Vorstellungskraft? Wenn die zweite Frage zutrifft: Woher nehmen Sie Ihre Ideen?

Attila Bartis: Ich glaube, die auf beide Fragen zu gebenden Antworten entsprechen gemeinsam der Wahrheit, auch dann, wenn sie sich scheinbar gegenseitig ausschließen. Natürlich hat der Text autobiografische Züge, worunter man versteht, dass man den Ursprung manches Satzes oder Motivs ermitteln kann. Aber hier findet die Parallele ein Ende. Die Literatur ist kein Spiegel, in dem sich die Wirklichkeit betrachtet, sondern eine andere Wirklichkeit, die zum Teil aus unserem Leben erbaut ist.

sandammeer: Um auf die intensiven "Bilder" zurückzukommen, die Sie mit Ihrer Sprache schaffen: Zahlreiche Szenen (wie jene der einsamen Judit auf der Bühne) gleichen in ihrer Ausdruckskraft expressionistischen Bildern. Sehen Sie Romanszenen aus der Perspektive des Fotografen?

Attila Bartis: Ich sehe sie nicht als Fotograf, sondern ich sehe sie einfach nur. Aber das ist gar nicht exakt ausgedrückt, weil wir, wenn wir etwas sehen, unvermeidlich ein wenig außerhalb sind. Ich kann während des Schreibens nicht außerhalb sein.

sandammeer: Viele potenzielle deutschsprachige Leser sind mit der jüngeren Geschichte Ungarns und der politischen Situation dort nicht sonderlich gut vertraut. Im Klappentext der deutschen Ausgabe wird "Die Ruhe" als "eines der bleibenden Bücher über die Wende in Ungarn" bezeichnet. Ich selbst sah im Grunde nur die Folgen des ungarischen Kommunismus als "Aufhänger" für die katastrophale Veränderung der Rebeka Weér - oder verstärkten die politisch bedingten Restriktionen latent vorhandene Charakterzüge? - und fand Parallelen zwischen dem maroden Umfeld (vor allem der Stadt Budapest), dem System und dem Inneren der Figuren. Doch empfand ich in Ihrem Roman gerade die Rolle der politischen Wende in Ungarn als nebensächlich. Wie "ungarisch" ist Ihr Roman Ihrer Meinung nach, und wie viel (und welche) Bedeutung hat die Wende für "Die Ruhe"?

Attila Bartis: Die Politik, die Geschichte, überhaupt das Vergangene ist, wie ein Stigma, zweifellos im Text gegenwärtig. Aber die Politik interessiert nicht um ihrer selbst willen, sondern das, was sie aus uns macht, was für seelisch-geistige Verzerrungen sie verursacht. Es käme mir nicht in den Sinn, mit der Akkuratesse eines Historikers zu "verewigen", was in Mitteleuropa zu Ende ging. Es interessiert, was in den Menschen zu Ende ging.

sandammeer: Immer wieder erinnert Ihr Roman an Sartre und Camus, er enthält deutlich existenzialistische Elemente. Haben Sie sich bewusst an die großen Existenzialisten angelehnt, oder ergaben sich die Parallelen aus der von Ihnen konzipierten Handlung und Ihren Charakteren?

Attila Bartis: Ich weiß nicht so viel über den Existenzialismus, dass ich es wagen würde, mich für einen Existenzialisten zu halten oder heftigen Einspruch dagegen zu erheben. Verbleiben wir so, dass wahrscheinlich meine die Existenz betreffenden Vorstellungen in bestimmten Punkten mit denen der Existenzialisten übereinstimmen.

sandammeer: Manche Autoren schreiben überaus komplexe Manuskripte ganz spontan nieder. "Die Ruhe" wirkt sorgfältig durchdacht: Eine flüchtige Andeutung fällt, der Leser denkt: "Kann das wirklich so gemeint sein? Ist das Grauen dieser Existenzen noch steigerungsfähig?" - Und in der Folge kommt es doppelt so schlimm, mit weit reichenden Folgen. Wie viel Planung steckt in dieser eigentlich unglaublichen, aber absolut glaubwürdig dargestellten Handlung? Wie lange haben Sie am Manuskript gearbeitet?

Attila Bartis: Ich bin gezwungen, die Beschuldigung, ein großer Konstrukteur zu sein - die sehr schmeichelhaft ist -, von mir zu weisen, auch wenn ich damit möglicherweise eine Enttäuschung verursache. Der alles durchplanende, überblickende, zusammenfassende Verstand muss respektiert werden, aber mir steht das ziemlich fern. Zum Glück gibt es für die Kreativität keine Vorschriften. Einen Fotoapparat kann man nicht ohne diesen Verstand entwerfen, aber eine Welt kann man erschaffen. Der Text ist praktisch eine assoziative Kette, wobei eine weniger gebundene, sogar weniger planbare Form nicht existiert. Die erste Version entstand zwischen dem ersten Tag und dem Ostersonntag des Jahres 2000, vom Schlaf abgesehen im Großen und Ganzen ohne Unterbrechung. Das war praktisch eine völlig ungegliederte Textfolge, mit zwanzigseitigen Sätzen. Danach dauerte es im Großen und Ganzen anderthalb Jahre, bis jeder Punkt und jedes Komma an seinen Platz gekommen war, aber im Verlauf dieser Arbeit änderten sich die Geschichte und der Aufbau nicht mehr.

sandammeer: Ihr Roman "geht unter die Haut" und wirkt mit seiner Düsternis intensiv nach. Wie erging es Ihnen als Autor nach der Fertigstellung des Manuskripts? Ich kann mir nur vorstellen, dass Sie von diesem gewaltigen Werk monatelang erschöpft gewesen sein müssen. Wie lange dauerte es, bis Sie ein neues Projekt beginnen konnten?

Attila Bartis: Wahrscheinlich wäre es unter vielen Gesichtspunkten glücklicher gewesen, wenn es so geschehen wäre, wie Sie es sich vorstellen, aber es war mir nicht möglich, erschöpft zu sein, und, was noch schlechter ist: in mir die Geschichte abzuschließen, den endgültigen Punkt am Ende zu setzen. Noch vor dem Abschluss des Romans nahm ich den Auftrag des Nationaltheaters an, die Bühnenversion des Romans zu schreiben. Was bedeutete, dass ich am Tag nach Erscheinen des Buchs mit der Arbeit beginnen musste.

sandammeer: Die ungeheuer starken, zerstörerischen Emotionen vor allem bei Andor, dem Protagonisten, und seiner Mutter, sowie der obsessive Hang zur Selbstzerstörung bei Eszter, der Geliebten: Muss man das nicht selbst empfunden haben, um es derart unmittelbar und kraftvoll darzustellen? Wie kommt man als Autor davon wieder los? Mit anderen Worten, wie gefährlich ist es, solch ein Buch zu schreiben?

Attila Bartis: Ich kann nicht beurteilen, wie gefährlich Schreiben ist, oder überhaupt, was man unter Gefahr versteht. Ich habe beim Schreiben genau dieselben Gefühle wie im Leben. Manchmal bebt mir der Bauch, mein Herz ist in meinem Hals, ich lache zehn Minuten lang über einen einfachen Satz, oder, Verzeihung, schluchze eben. So habe ich keinen Grund, das für gefährlicher zu halten als das Leben. Und was wir im Leben zu ertragen lernen mussten, das ertragen wir ohne Schwierigkeiten auch beim Schreiben.

sandammeer: "Ruhe" findet sich in Ihrem Roman allenfalls vordergründig und an wenigen Stellen. Ich kann den Titel (er wurde für die deutsche Übersetzung wörtlich übernommen) eigentlich nur ironisch auffassen. Liege ich damit richtig? Wie kam der Titel zustande?

Attila Bartis: Man ist es gewohnt, dass der Titel gewöhnlich das Werk beschreibt, darauf hinweist, und nicht auf eine Erwartung, eine Hoffnung, einen dem Text folgenden Zustand. Ich denke statt im Vorfeld des Romans lieber an die Ruhe nach dem Text. Doch zudem hat der Titel zweifellos einen leicht bitter-ironischen Ton.

sandammeer: Wann ungefähr dürfen wir Ihr nächstes Buch in einer deutschen Übersetzung erwarten?

Attila Bartis: Erst einmal müsste ich einen neuen Roman schreiben, damit es Sinn hätte, über diese Frage nachzudenken. Zwischen dem Abschluss von "Der Spaziergang" und dem Beginn von "Die Ruhe" vergingen acht Jahre. Jetzt besitze ich mehr Erfahrung, aber ich habe trotzdem noch Zeit zu warten.

sandammeer bedankt sich herzlich für das Interview!


Das Interview führte Regina Károlyi im November und Dezember 2005 per E-Mail.
Übersetzung der Fragen vom Deutschen ins Ungarische: Prof. Sándor Károlyi
Übersetzung der Antworten aus dem Ungarischen ins Deutsche: Regina Károlyi, Prof. Sándor Károlyi

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