"Gegen die Wand"

R: Fatih Akin
D: Sibel Kekilli, Birol Ünel
Deutschland 2003

Liebe als Gegengift zum Fatalismus


Hamburger Vorstadt: Alkohol im Übermaß, Aggression, Thekenschlägerei, ein verwahrloster Mann rast mit dem Auto frontal gegen eine Hausmauer - mit dieser Tristesse leitet Regisseur Fatih Akin seinen Film "Gegen die Wand" ein. Der Fatalismus ist allgegenwärtig. Mehr noch, nicht mal der Suizid mag dem abgewrackten Säufer Cahit Tomruk (Birol Ünel) gelingen. Sein Leben entlässt ihn einfach nicht aus der Pflicht, wenngleich es im Krankenhaus eine Wende zu nehmen beginnt.

Cahit wird von der beinahe halb so alten Sibel Güner (Sibel Kekilli) angesprochen. Die 23-jährige Frau unterbreitet ihm frech und charmant ein Angebot: Er soll zum Schein ihr Ehemann werden, ohne jede Verpflichtung, lediglich um sie aus der Enge ihres traditionalistischen Elternhauses zu befreien. Ihr Vater, ein gläubiger Moslem, würde nur einen Türken als Schwiegersohn akzeptieren, ebenso ihr Bruder als Schwager. Cahit weigert sich empört, auf Sibels Vorschlag einzugehen, doch als sie sich aus Verzweiflung die Pulsadern auftrennt, stimmt er zu. Die beiden heiraten, und Sibel ist endlich frei, ihr Leben zu leben, scheinbar Versäumtes nachzuholen. One-night-stands und Drogen sind ab nun Begleiterscheinungen.

Doch der Hedonismus ist nur Oberfläche. Zwischen Sibel und Cahit entwickelt sich ein immer stärkeres Band der Zuneigung. Sie richtet seine heruntergekommene Wohnung auf eigene Kosten neu ein, kocht liebevoll für ihn und sieht trotz seiner verkappten Existenz nicht auf Cahit herab. Die Amokfahrt gegen die Wand hatte offensichtlich doch ihr Gutes: Cahits früheres Dasein fand aufprallartig sein Ende, ein neues Leben, eine Wiedergeburt in Liebe, zieht am Horizont herauf. Aber Fortuna meint es nicht gut. Ein Totschlag im Affekt - zur Ehrenrettung Sibels - macht alles zunichte. Cahit wandert hinter Schloss und Riegel, während seine Frau nach Istanbul aufbricht, mit dem Versprechen, auf seine Entlassung zu warten. Doch wieder kommt es anders als erwartet: Nach anfänglichem adretten Dasein als Zimmermädchen in einem Luxushotel, setzt Sibel wieder auf Drogenexzesse. Eines Nachts provoziert sie drei Betrunkene und bleibt mit Bauchstich am Straßenpflaster liegen. Sibel überlebt, durchwandert ihre "Wiedergeburt", landet in der Bürgerlichkeit.

Jahre später gibt es ein Wiedersehen mit Cahit. Wie verläuft es? Was wird obsiegen? Liebe oder Vernunft? Leidenschaft oder Sicherheit? Gehen die beiden mit dem Kopf durch statt gegen die Wand?

Regisseur Fatih Akin gilt als der Quentin Tarantino des deutschen Kinos. Künstlerische Parallelen sind in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Beide Querdenker setzen bei ihren Protagonisten auf Außenseitertypen, verwenden ungeschönte physische Gewalt als bildliche Erzählform oder warten mit außergewöhnlichem Soundtracks auf. Akin lässt für "Gegen die Wand" traditionell türkische Musik ebenso anklingen wie harten, westlichen Rock, ohne dass es zum akustischen culture clash kommt.

"Gegen die Wand" reüssierte bei der Berlinale 2004 in der Kategorie "Bester Film" als Sieger. Selten noch waren Jury und Publikum bei der Verleihung des Goldenen Bären so einig. Als "Plädoyer für die Liebe" wurde der Streifen gehandelt. Wenngleich die "Bild" mit Bekanntwerden der Hauptdarstellerin Sibel Kekilli eine Schmuddelkampagne gegen sie startete. Der Grund: Ihre Vergangenheit als Aktrice sexuell expliziter Filme. Die Scheinmoral quoll von den Titelseiten. Dem Erfolg des Filmes hat das keinen Abbruch getan, im Gegenteil. "Gegen die Wand" ist nicht repräsentativ für das Normleben vieler Deutschtürken, sondern nimmt ganz gezielt Nonkonformisten heraus, in sich Verlorene, Menschen auf der Suche nach Freiheit und Liebe - oder besser noch, nach Freiheit unter den Gesetzen der Liebe. Und dieser Anforderung werden Sibel Kekilli und Birol Ünel grandios gerecht.

(lostlobo; 05/2004)


Filmmusik:
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http://www.gegendiewand.de

Buchtipp:

"Gegen die Wand. Das Buch zum Film. Mit Dokumenten, Materialien, Interviews"
Es war eine Sensation, als der Preisträger des Goldenen Bären der Berliner Filmfestspiele 2004 verkündet wurde: Fatih Akins "Gegen die Wand". Die Sensation bestand aber nicht in erster Linie darin, dass nach 18 Jahren wieder einmal ein deutscher Film den Sieg davontrug. Wichtiger war: Der Regisseur und seine Hauptdarsteller sind junge, in Deutschland aufgewachsene Türken, die mit diesem hochverdienten Erfolg schlagartig ins öffentliche Bewusstsein brachten, in welchem Maße Deutschland auch kulturell längst ein Einwandererland ist.
Neben dem Originaldrehbuch, zahlreichen Abbildungen, Hintergrundmaterialien und Interviews mit dem Regisseur und der Hauptdarstellerin Sibel Kekilli versammelt der Band die Stimmen einer heftigen öffentlichen Diskussion, die sofort nach der Preisverleihung ausbrach. (Kiepenheuer & Witsch)
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