"Tan de Repente - Aus heiterem Himmel"
R: Diego Lerman
D: Tatiana Saphir,
Carla Crespo, Verónica Hassan, Beatriz Thibaudin, María Merlino, Marcos
Ferrante, u. a.
ARG/NL 2002. 90 Minuten. OmU.
Ein Appell, in Hinkunft mit Haut und
Haaren zu leben, die festgefahrenen Konventionen hinter sich zu lassen, Neuem
voller Neugierde zu begegnen und jeden Tag in vollen Zügen zu genießen. Eine
Geschichte, die berührt, unter die Haut geht und es versteht, die Zuschauer
aufzurütteln.
"Tan de Repente" erzählt von der dicklichen Dessous-Verkäuferin
Marcia, die im Alltagstrott fast erstickt, triefend vor Selbstmitleid jeden
neuen Tag hinnimmt und ihrem Exfreund, der sie verlassen hat und mittlerweile
mit einer ihrer Freundinnen verheiratet ist, immer noch nachweint. Ihr Alltag
ist verplant, gestattet keine Spontaneität, und die allgegenwärtige Einsamkeit
lässt Marcia sukzessive verkümmern.
Eines Tages wird die heterosexuelle Marcia von Mao und Lenin, zwei Punkmädchen,
auf der Straße angesprochen. Mao macht Marcia eindeutige sexuelle Avancen. Marcia
beteuert immer wieder, nicht lesbisch und daher auch nicht interessiert zu sein.
Trotzdem wehrt sie sich nicht, als Mao ihr verspricht sie zu überraschen und
ihr zu beweisen, dass Liebe auf den ersten Blick möglich ist. Die beiden Punkmädchen
erbeuten ein Taxi und entführen Marcia ans
Meer, das sie zuvor noch nie gesehen hat. Marcia ist beeindruckt und verängstigt
zugleich. Mao bemüht sich um das dickliche Mädchen, und als das Trio nach einigen
Umwegen in einem kleinen Ort inmitten der Provinz ankommt, lässt sich Marcia
auf ein sexuelles Abenteuer mit Mao ein, in der Hoffnung, tatsächlich geliebt
zu werden. Doch die drei Mädchen haben keine Gemeinsamkeiten und schaffen es
nicht, einander Geborgenheit zu bieten. Vielmehr geht es um Sex und den Reiz
des Neuen, um die permanent spürbare Einsamkeit zu vergessen. Marcia versucht
sofort, sich an Mao zu klammern, was diese zu verhindern weiß.
Im Kontrast dazu stehen das dörfliche Leben und uralte
Frauen, die trotz etlicher Beschwerden das Leben genießen und Spaß haben können.
Eine der Frauen ist Lenins Großtante, bei der sie früher gelebt hat. In der
Beziehung zwischen den Beiden wird Zuneigung sichtbar und plötzlich auch die
Möglichkeit, sich an einfachen Dingen des Lebens zu erfreuen.
Die
Kontraste, die dieser Film zu bieten hat, wird durch eine Verfilmung in
Schwarz-Weiß markant unterstrichen. Wechsel von Großstadt und Dorf, Enge und
unendliche Weite und die Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen lassen viele
Situationen realitätsnah und doch skurril erscheinen. Gut und Böse verschwimmen,
festgefahrene Verhaltensmuster werden hinterfragt, Gegensätze prallen
aufeinander und Tristesse wird zuweilen von Humor und Ironie verdrängt. Doch
eines begleitet den Film von Anfang bis zum Ende: der massive Wunsch, ein
erfülltes, buntes, schillerndes Leben voller neuer prickelnder Erfahrungen zu
vereinen mit Geborgenheit und Liebe. Ein unvereinbarer Kontrast oder vielfältige
Aspekte eines ausgefüllten, abwechslungsreichen Lebens ohne halbherzige
Kompromisse?
Ein reizvoller Film von Diego Lerman, dessen Geschichte sich
in mir festgefressen hat, mich zum Nachdenken zwingt und den Begriff
"Normalität" wieder um vieles kritischer hinterfragen lässt.
(Margarete; 05/2004)
Drehbuch: Diego Lerman, Maria Meira.
Kamera: Luciano Zito, Diego del Piano.
Schnitt: Benjamin Avila, Alberto
Ponce. Musik: Juan Ignacio Bouscayrol.
Ton: Leandro de Loredo, Julian
Caparros. Ausstattung: Mauro Doporto, Luciana Khon.
Kostüm: Constanza
Pierpaoli. Produktion: Lita Stantic Producciones.
Produzenten: Sebastian
Ariel, Nicolas Martinez Zemborain.