Leseprobe:
(...) Sie lächelten. Bleich, fiebernd. Sie war schlank und hochgewachsen. Der weiße Bademantel umspielte locker die schwarzbestrumpften Beine. Und wieder das bleiche ovale Gesicht, die großen saugenden Augen, der jungenhafte Haarschnitt. Die Flamme versengte seine Finger, erlosch. Als er ein neues Streichholz anzünden wollte, legte sie ihre glatte kühle Hand auf seine. Ihre Finger pressten sie, fest, fester, dann lösten sie den Griff, suchten die Knöpfe, den Reißverschluss. Der Schal flog zu Boden, der Mantel, der Pullover, das Hemd. Ihre Lippen klebten auf seinen, reglos, ohne Kuss. Weiche, geschmeidige Lippen, jugendlich frischer Atem, tiefe, gierige Atemzüge, erregte Brüste, kühle, glatte, und eine kräftige, ungeduldig und tief eindringende Zunge. Und schnell wie der Mantel, die Hose, der Pulli fiel auch der Rest zu Boden. Ihre Hände vibrierten, ihr Körper vibrierte. Die Stimme blieb ruhig, aber ihr ganzer Leib pulsierte wie in Panik. Ihre Finger glitten hastig über die Schultern des Fremden, über seine Brust, seine Hüften und tiefer. Sie war groß und jung und nackt, angeschmiegt an den fremden Körper des Fremden. Sie glühte, fieberte nach Bestätigung, nach Verschmelzung. Ein Schauer durchlief sie, als sie die Faust um den schwächlichen Kleinen schloss. Der Kuss, schwer und heiß, ohne Leidenschaft, war wie ein Pakt von Gehetzten. In der warmen Höhlung ihrer geübten, schützenden Hand belebte sich die Kobra. Sie drückte fest zu, spürte das Zucken. Das Leben, sie lebten, noch lebten sie! "Tudor, Tudor!" schluchzte sie flüsternd. Und es war, als hätte dieses Flüstern den ganzen Raum eingesogen. Keine Bewegung mehr, kein Laut mehr, nur noch der Atem des Gefangenen. Immer samtener, seidiger wurden ihre Finger, immer sanfter das Ritual. "Tudor, Tudor!" wiederholte die Unbekannte zärtlich den Zauberspruch , und die Schlange reckte sich, wippte immer kräftiger im Fluidum ihrer magnetischen Hand, im Raunen der Vestalin. "Tudor, Tudor", mit murmelnden Lippen am Kopf des Erweckten. Ein schwellendes Totem, mit dem Namen des Abwesenden, den es ersetzen sollte. Ein Ersatz, gewiss, was denn sonst, in dieser Welt aus lauter Ersatz, vollkommen aufgegangen im Namen, in der Rolle, in dem Körper des andern, eine Verwechslung, die jede Identifizierung und jede Unterscheidung ausschloss, genau wie die Regeln der Ersatzwelt mit all ihren Masken es forderten. Auch Tólea war niedergekniet, seine Finger verflochten sich mit ihren, lösten sich wieder. Lautloses Dunkel, kalt und kompakt und starr, als wären sie in einer Gruft. Aber das Begehren durchrauschte sie mit Gewalt, schürte den Atem. Glut und Kälte zugleich. Die Frau ließ sich auf den Rücken sinken, aber entließ ihn nicht aus der Umarmung, presste ihn klammernd an sich, führte ihn durch das spröde Gestrüpp zur flammenden Blume, die sich öffnete, bereit, ihn zu empfangen. "Und deine", murmelte das Dunkel, "wie heißt deine, dein schwarzes Loch, dein Dschungel, dein schwarzer Mund, deine schwarze Blume, dein Tor, deine Männerfresserin?" fragte traumbefangen die Frau Tudors. Das schmerzte, es schmerzten der Sog, die Stille, die zuckende Glut, doch er wusste, er würde nicht eingelassen, ehe er den Zwillingsnamen preisgab. "Irina", flüsterte kaum hörbar, sich selbst kaum hörend, der Unbehauste. Die Wände schienen zu vibrieren, verhalten, bedrohlich. Vom Fenster her ein feines, warnendes Klirren. Die Wände, die Decke, der Boden begannen zu schwanken. "Irina", wiederholte die Vestalin, ihn empfangend, "Irina", stöhnte das Weib. "So heiße ich selber. Ja, das ist auch mein Name", hauchte verzückt und wie plötzlich befreit die Traumwandlerin, "Irina, Irina, o Gott, mein eigener Name", wimmerte sie unter den wilden Stößen Tudors. Das ganze Baugerüst knirschte, bebte, der Krater stieß seine Gerüche, seine Mikroben aus, das Magma pulste, stieg, "nein, nein, noch nicht!", und wieder war er in ihren Händen, von ihren Hexenküssen gewiegt und wiedergeboren, umschlossen von ihren salzigen Armen, von knisternder Meerestiefe. Ihre langen Beine bebten, die Wände, die Decke, der Boden, die Fenster, unter den Feuergarben aus dem unerschöpflichen Euter der Nacht. "Oh, Irina, Irina", atmete er, atmete der Waisenknabe, der Clown, "Irina, Irina", Geständnis und Absolution, und presste seine tränennasse Maske zwischen ihre elektrisierenden Brüste, überwältigt an ihren kosmischen Bauch, das Echo suchend, den Segen, tiefer und tiefer, drängte die lügenden Lippen an die fleischfressende Blüte. (...)
(Aus "Der schwarze
Briefumschlag" von Norman Manea)