Leseprobe aus "Unschuldige Tage im Krieg"
von Mario Fortunato
Stefano Portelli sollte sich
noch lange an den reinen, endlosen Kuss erinnern. Sich erinnern an den
Geruch der feuchten Erde und die Stille ringsum, eine Stille, die nur
vom raschen Pochen des Blutes in den Adern unterbrochen wurde. Sich
erinnern an die Wipfel der Bäume, die sich in einiger Entfernung langsam
wiegten, und an das Schlafbedürfnis, das plötzlich seinen Körper
durchflutete. Dies vor allem würde er nicht vergessen können, den
blitzartigen Wunsch zu schlafen, dann aber die Flucht nach Hause, weit
weg von seiner Frau, weit weg von allem. Mit der Zeit würde dieser Kuss
ein vertrauter und doch unerreichbarer Ort werden, ein Berg am Horizont,
begraben in seinem Herzen.
Er lernt Eleonora Polidori auf einem Fest kennen. Er Jahrgang 1912, sie
1916. Ein Jahr sind sie verlobt, dann die Heirat. Stefano hat erst
kürzlich sein Jurastudium abgeschlossen. Jurisprudenz wie sein Vater und
sein Großvater. Geistreich kann man ihn nicht nennen, eher ernst und
beharrlich. Das Gesetz stellt für ihn keine künstliche, leere Rhetorik
dar, bedeutet nicht, dass man ein Gebäude aus Worten, Interpretationen
oder Hypothesen auf nichts errichtet. Für ihn besitzt die Gerechtigkeit
ein konkretes, konstruktives Fundament. Sie ist ein Denken oder ein
Ideal, das zur täglichen Praxis, zur rechtschaffenen Mühe der Erfahrung
gehört. In seiner jugendlichen Vorstellungswelt verhilft ihm das
Jurastudium dazu, ein gerechter Mensch zu werden, zugleich Anwalt und
Richter seiner eigenen Handlungen und der der anderen.
Eleonoras Lebensgeschichte ist anders. Sie liest viele Romane und liebt
die Poesie.
Eine reguläre Ausbildung bleibt ihr verwehrt. In dem winzigen Dorf im
Oberen Latium, wo sie lebt, bleiben die Schulen und erst recht die
Universität allein den Söhnen vorbehalten. Sie stammt aus einer Familie
kleiner Grundbesitzer. Der Vater fast ein Bauer.
Ernesto und Giuseppe, ihre zwei Brüder, Schreihälse und Lügner, sind
begeisterte Anhänger des faschistischen Regimes. Eleonoras Wesen ist
schamhaft, sehr zurückhaltend. Als sie merkt, dass Stefano ihr den Hof
macht, täuscht sie Gleichgültigkeit vor. Doch in Wirklichkeit empfindet
sie für diesen jungen Mann, der ein wenig älter ist als sie, eine
Sympathie, von der eine ruhige Zufriedenheit auf sie übergeht. Stefanos
freundliche und taktvolle Umgangsformen findet sie wohltuend. Seine
sozialistisch angehauchten Ideale gefallen ihr. Eleonora hat, vielleicht
gerade, weil sie ihr selber fehlt, immer eine gewisse Bewunderung für
die Bildung gehegt - das Wort hat für sie keinen konkreten Sinn, sondern
ist wie eine vibrierende Stimmgabel, die konzentrische Klänge aussendet.
In ihren Augen ist Stefano ein in jeder Hinsicht gebildeter Mann: Er
stammt aus einer Juristenfamilie, steht kurz davor, selbst sein
Jurastudium abzuschließen. Wenn der Faschismus
einmal vorbei ist (nach Eleonoras ehrlicher Überzeugung kann er nicht
ewig dauern), wird Stefano gewiss in der neuen politischen Welt seinen
Platz finden.
Aber als sie sich auf dem Fest kennenlernen, gibt es keine Zeit für
derlei Betrachtungen. Zunächst stehen einfachere Dinge im Vordergrund.
Ein Blick, eine Handbewegung, eine Falte im Anzug. Wer weiß, warum
ausgerechnet dieser Blick, diese Bewegung oder diese Falte ein Zeichen
hinterlassen, das man auf keinen Fall übersehen kann. Eleonora und
Stefano sind zwei besonnene junge Leute. Keine sentimentalen
Übertreibungen. Er fragt, ob sie sich noch einmal treffen können, sie
sagt ja. Sie sagt es mit dem Anschein von Desinteresse, nicht, weil sie
sich etwas einbildet, sondern um Stefano auf die Probe zu stellen. Wenn
etwas entstehen soll, denkt sie, soll es etwas Ernstes sein.
Das Fest dauert nicht lange. Es ist Ende Mai 1938. Die Abende sind noch
kühl. Rom
ist nicht weiter entfernt als fünfzig Kilometer, doch scheint es auf
einem anderen Planeten zu liegen. Die Welt ist so weit weg. Vielleicht
wird es einen Krieg geben, aber nicht jetzt. Jetzt bewundert man die
Aussicht von der Terrasse, die jungen Leute trinken Wein,
und einige tanzen
unter den wachsamen Blicken der Verwandten.
An dem Abend jedenfalls kein Kuss. (...)
Mario
Fortunato: "Unschuldige Tage im Krieg"
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
Schöffling & Co., 2010. 248 Seiten.
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"Kann ein Kuss die
Existenz eines Menschen zerstören? Ein Kuss - kein Verbrechen, keine
Gewalttätigkeit, kein Verstoß gegen die Regeln: Kann ein einfacher,
durchaus banaler Kuss das Geschick eines Menschen aus den Angeln heben
und den gesamten Verlauf seines Lebens ändern?"
Mit unnachahmlicher Leichtigkeit fängt der bedeutende italienische
Schriftsteller Mario Fortunato Augenblicke der Liebe ein. Ein Kuss mit
unerhörten Konsequenzen verbindet Menschen im ländlichen Italien mit
Londoner Intellektuellen, Mussolinis Soldaten
mit der englischen Kolonialgesellschaft in Afrika oder dem einfachen
Volk in Russland, Männer mit Frauen und Männer mit Männern.
Mitten in einer weit gespannten Weltkriegskulisse kreuzen sich die Wege
einer sizilianischen Familie und eines Piloten der Royal Air Force,
die sich am Ende gemeinsam gegen die Herrschaft des Nazifaschismus
auflehnen. Doch zuvor müssen sie sich mit ihren kulturellen
Befangenheiten und sexuellen Vorurteilen auseinandersetzen.
Eine nachdenkliche Schilderung eines kaum bekannten Kapitels
europäischer Geschichte.
Mario Fortunato, geboren 1958, studierte Philosophie in Rom.