Agnès de Lestrade: "Der liebste Wolf der Welt"

Illustriert von Constanza Bravo


Rotkäppchen und der (vegetarische) Wolf?

Das Märchen der Gebrüder Grimm kennt wohl jedes Kind. Aber wie das mit den alten Märchen so ist, sie haben bereits ein paar Jährchen auf dem Buckel und sind nicht mehr ganz zeitgemäß. Das haben die französische Autorin Agnès de Lestrade und ihre Illustratorin Constanza Bravo zum Anlass genommen, das Grimm'sche Märchen zu verjüngen und ein wahrhaft witziges und zeitgenössisches Bilderbuch für Kinder ab vier Jahren mit dem Titel "Der liebste Wolf der Welt" zu kreieren.

Anders als früher lässt sich unser Rotkäppchen jedoch nicht mehr so leicht von Gevatter Isegrim "einlullen". Auch ziert das kleine Mädchen in de Lestrades Buch kein rotes Käppchen mehr. Rot sind höchstens noch ihre Zopfhalter, ihre geringelten Strümpfe und Schuhe. Die Handlung ist indes an die Gebrüder Grimm angelehnt.

Wiederum gelüstet es den Wolf nach Menschenfleisch, jungem, saftigem vor allem: "Ich habe genug Kaninchen und widerborstige Maulwürfe gefressen. Heute gehe ich und fresse ein Kind." Gesagt, getan! In der nächstgelegenen Stadt wird er - verkleidet mit Krawatte und mit weiß getünchtem, charmantem Gesicht - alsbald fündig, in Form einer wohlgenährten, aber rotzfrechen Göre. Denn kaum als er sein Maul aufreißen will, um das kleine Ding zu fressen, da prasselt es schon auf ihn ein: ... ob er sich nicht einmal überlegt hätte, dass er viel zu viel tierisches Eiweiß zu sich nähme, das er sich mit seiner übermäßigen Fleischfresserei seine Blutfettwerte verderbe und sein Fell immer glanzloser würde. Gemüse ist das Zauberwort! Das sollte er mehr fressen.
"Dieses Mädchen war komplett verrückt. Wölfe fraßen kein Gemüse, niemals.", dachte der Wolf. Obwohl bei näherer Betrachtung die Glanzlosigkeit seines Fells durchaus bestätigt werden konnte. Vielleicht sollte er ja doch seine Ernährung umstellen?

Wolf wird Vegetarier
Also nimmt er spontan das Angebot der frechen Göre an und wird ihr und deren Großmutter Gast; im Hinterkopf immer noch den nun doppelt zu erwartenden Festschmaus: gut genährtes Mädchen plus gut genährte Großmutter (obwohl sich diese als viel zu mager für einen hungrigen Wolf herausstellt).
Und man mag es kaum glauben: aus unserem bösen, verfressenen Raubtier wird "Der liebste Wolf der Welt". Fortan hilft er in Großmutters Garten beim Gemüseanbau und ernährt sich von leckeren vegetarischen Gerichten. Überbackener Blumenkohl, mit Käse gefüllte Champignons oder Artischocken in Sahnesoße stehen ab sofort auf seinem Speisezettel. Und irgendwie sieht er gleich viel besser und gesünder aus. Gemüseessen scheint doch keine so schlechte Idee zu sein.

Doch es kommt, was kommen muss. Die Natur setzt sich bei unserem gezähmten Gesellen mit aller Macht durch. Die fleischlichen Fantasien in Form von Großmutters Hühnern und Kaninchen treiben ihn des nächtens ruhelos umher und hernach in deren Ställe.
Unser Mädchen muss seine aufgebrachte und misstrauisch gewordene Großmutter immer wieder überzeugen: "Er ist der liebste Wolf der Welt und isst nur noch Gemüse."
Aber einmal angefangen, kann Isegrim nicht mehr aufhören. Und seinen Vorsatz, das junge Ding zu fressen, den hat er auch noch nicht aufgegeben.
Doch unser Wolf hat seine Rechnung ohne die pfiffige Göre gemacht. Wer so schlau von Cholesterin und gesunder Ernährung daherredet, der lässt sich doch nicht einfach so wegfressen!

Modernes mit Vitaminen angereichertes Märchen
In einem wunderbar ironischen, angenehm zu lesenden, modernen Gute-Laune-Märchen erzählt Agnès de Lestrade die Geschichte um "Rotkäppchen" neu und reichert sie mit jeder Menge gesunder Vitamine an, dass einem das Wasser im Munde zusammenläuft.
Anders als bei den Gebrüdern Grimm ist das Kind intelligenter als die Erwachsenen und schlägt dem Wolf am Ende ein gehöriges Schnippchen.

Vor allem aber lebt dieses freche Bilderbuch von der Qualität seiner Abbildungen. Der Technik der Collage, die mit viel Liebe zum Detail aufwartet, stellt die Illustratorin Constanza Bravo gezeichnete Figuren mit zum Teil auffallend disproportionierten Formen entgegen. Diese Mixtur verstärkt geradezu emotional starke Momente im Buch. Bunte, gekritzelte Bleistiftspuren und dicke rote Pfeile geben der Erzählung einen punktierten Rhythmus, kompensieren das geschriebene Wort noch zusätzlich und fördern die im Text vorhandenen Mehrdeutigkeiten ans Tageslicht.

Auch wenn der Wolf auf manchen Seiten gar gruselig ausschaut, so müssen die Kinder keine Angst vor ihm haben. Bereits zu Beginn der Erzählung durchschaut man diesen hinterlistigen Burschen, wenn er sich aus seinem Reservoir an Masken (lächelnd, vertrauenerweckend, unschuldig) bedient und die jeweils passende aufsetzt.

Am Ende siegt - wie auch schon in den alten Märchen - das Gute über das Böse. Doch im Gegensatz zu früher haben sich die kleinen Mädchen weiterentwickelt und warten nicht mehr auf ihren Prinzen (oder Jäger), der sie aus den Fängen des Ungeheuers befreit. Heutzutage nehmen sie ihr Schicksal selbst in die Hand und misstrauen den Wölfen unseres städtischen Dschungels.

Fazit:
"Der liebste Wolf der Welt" ist auf den ersten Blick ein trügerisches, vielleicht gar widerborstiges, auf den zweiten jedoch ein wunderbar ironisches und ohne Bedingungen zu genießendes Bilderbuch voller Witz und Humor.

Empfohlen für Kinder ab vier Jahren, obwohl zu bezweifeln ist, dass Kinder in diesem Alter schon etwas mit zu hohen Blutfettwerten und tierischem Eiweiß anzufangen wissen.

(Heike Geilen; 03/2008)


Agnès de Lestrade: "Der liebste Wolf der Welt"
Illustriert von Constanza Bravo.
(Originaltitel "Le plus gentil Loup du monde")
Carl Hanser Verlag, 2008. 32 Seiten (Ab 4 J.).
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