Jonathan Stroud: "Bartimäus - Das Auge des Golem"
Episode zwei über den bezaubernden Dschinn
Als Bartimäus am Ende des ersten Romans "Das Amulett von Samarkand"
sich in den Anderen Ort verflüchtigte, hätte manch Leser ihn sicher
gerne länger in unserer Dimension behalten. Ein Dschinn mit derart
amüsanten Anekdoten darf einfach nicht jenseits von Zeit und Raum
untertauchen. Aber keine Angst, nun ist das selbstverliebte Geistwesen
von alleine zurückgekommen, na ja, nicht ganz, natürlich musste der
junge Zauberer Nathanael (John Mandrake für Nichteingeweihte) wieder
etwas nachhelfen: Beschwörungen, Pentagramme und all das Zeug, das
höhere Wesenheiten so gar nicht mögen.
1868 nimmt der zweite Band der "Bartimäus"-Trilogie seinen Anfang. Vor den Mauern der alten Kaiserstadt
Prag
setzt das britische Heer zum Sturm an. Angeführt werden die
expansionshungrigen Insulaner von Premierminister Gladstone, dem
mächtigsten Zauberer seiner Zeit. Honorius (von dem später noch die
Rede sein wird) und Patterknife stehen der britischen Armee mit
schrecklicher Macht zur Seite. Beide sind Afriten, Dämonen weit
zerstörerischer als einfache Dschinns (Entschuldigung, Bartimäus!). Der
Kaiser ist am Ende, Kanzler Meyrink (sic!) verzweifelt. Es kommt wie es
kommen muss: Prag fällt, und Bartimäus, auf Seiten der Tschechen aktiv,
gelingt gerade noch die Flucht.
Zeitsprung in die Gegenwart: Britanniens Premier Devereux und mit ihm die ganze
Zaubereroberschicht des Reiches ist in heller Aufregung. Ein Unwesen zieht mitten
im Herzen Londons eine Spur der Verwüstung. Es scheint gegen bekannte Formen
der Magie immun. Neben dem machtgierigen Polizeikommissar Duvall wird der mittlerweile
14-jährige John Mandrake auf den Fall angesetzt. John hat durch die Vernichtung
des Verräters Lovelace (Band I) das Vertrauen des Premiers. Mit Bartimäus' Hilfe
stellt Mandrake fest, dass die gefürchtete Wesenheit ein Golem
ist. Niemand will ihm vorerst Glauben schenken, da diese riesenhaften Lehmmonster
seit dem Untergang Prags nicht mehr aufgetaucht sind. Das magische Wissen zu
ihrer Herstellung und Beherrschung gilt als verloren. John wird inkognito nach
Prag geschickt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Offiziell herrscht zwischen
Briten und Tschechen zwar Waffenstillstand, doch im Untergrund brodelt es gegen
die Herren von der Insel. Kein leichtes Unterfangen für Mandrake. Er trifft
den alten Kavka, der Zauberpergamente herstellt und erfährt mehr über den Golem
und dessen geheimnisvolles drittes Auge. Zurück in London geht das Chaos erst
richtig los. Politische Intrigen machen dem jungen Zauberer das Überleben schwer.
Dem Anschein nach wollen mächtige Feinde sein Ableben.
Parallel dazu erfährt der Leser in Rückblenden den Werdegang von
Kathleen Jones, dem als Kitty bekannten halbwüchsigen Mädchen, das in
der Widerstandsbewegung aktiv ist. Wie ist es zur Wut der jungen Miss
Jones gegen das Zaubererregime gekommen? Viel Willkür und Sadismus der
magiebesessenen Oberschicht kommen als Ursache zutage. Alles beginnt
als Kittys bester Freund Jakob die Schwarze Schleuder über sich ergehen
lassen muss, nur weil er beim Spiel mit dem Ball die Windschutzscheibe
der Nobelkarosse des Zauberers Tallow
eingeschossen hatte. Auch Kitty, die bei dem Vorfall beteiligt ist,
wird der Dämonentortur unterzogen, übersteht sie aber fast unbeschadet
und entdeckte so eine angeborene Magieresistenz an sich. Als das
Mädchen gegen Tallow vor Gericht geht, erfährt sie eine demütigende
Prozessfarce. Ab dann nimmt Kitty den aktiven Widerstand gegen die
Diktatur der Zauberer auf.
Buchdrucker Hrynek, Jakobs Vater, übt hingegen auf subtile Art Rache.
Unbemerkt fügt er Druckfehler in Zauberformeln ein, was folglich dazu
führt, dass Tallow beim Rezitieren selbiger ein peinliches Malheur
passiert: Sein Gesicht nimmt die gelbe Farbe einer
Narzisse an - sehr zum Gespött der anderen Zauberer.
Gewohnt amüsante Bonmots liefert der bezaubernde Bartimäus. Mittels der seit
Band I so vortrefflich funktionierenden Fußnotenkommunikation spricht er direkt
zum Leser. Über die Funktionsweise von Fernrohren verrät der Dschinn etwa Folgendes:
"Das Fernrohr enthielt einen Kobold, dessen Sehvermögen es Menschen erlaubte,
auch im Dunkeln etwas zu erkennen. Ein recht nützliches Gerät, würden launische
Kobolde nicht gelegentlich das Bild verzerren oder nach Belieben irgend welche
unpassenden Requisiten hinzufügen. Bäche aus Goldstaub, befremdliche Traumbilder
oder Spukgestalten aus der Vergangenheit des Betrachters." Nicht nur in
Optik, auch in Geschichte ist der
Für einen ganz besonderen Zauberstab interessiert sich der ominöse Mr
Hopkins, der Kontakt mit dem Widerstand aufnimmt. Es geht um den Stab
des Staatgründers Gladstone, welcher mit dessen Gebeinen unter
Westminster Abbey liegt. Von dort soll er entwendet und gemeinsam mit
Gladstones Umhang Hopkins übergeben werden. Alle anderen magischen
Artefakte dürfe der Widerstand für seine umstürzlerischen Pläne für
sich behalten, so die Abmachung. Der Grabraub läuft gut an, solange bis
eine warnende Keilschriftinschrift ignoriert und ein Skelett erweckt
wird. Erraten, es ist der eingangs erwähnte Afrit Honorius. Die vielen
Jahre - in einem Haufen von Gebeinen im modrigen Sarkophag gefangen -
haben dem untoten Grabwächter auf die Psyche geschlagen. Kichernd und
mordend verheert er fortan London. Nun hat Premier Devereaux nicht nur
einen Golem frei herumlaufen, sondern auch noch einen wahnsinnigen
Dämon am Hals.
Wer fordert das Britische Imperium vor aller Augen heraus? Wer steckt
hinter diesem wohl kalkulierten Chaos? Das gilt es durch Kaufen und
Lesen der zweiten Bartimäus-Episode "Das Auge des Golem" herauszufinden.
Jonathan Stroud hat in Band II Bartimäus weniger Raum gegeben als im "Amulett von Samarkand",
was der Rezensent als schade empfindet, was aber für die Dramaturgie
des Dreiteilers wichtig ist. Die Lebenswege von Nathanael und Kitty
kreuzen sich immer öfter und man darf gespannt sein, wohin dies im III.
Band führt. Weicht das korrupte Zaubererimperium einer Demokratie, in
der Magier und Gewöhnliche gleichberechtigt sind? Werden die beiden
Junghelden ein Paar? Oder entscheidet sich Kitty für den
Kindheitsfreund Jakob? Kommt es zum Feldzug Devereaux' gegen Amerika?
Was auch geschehen mag, Bartimäus wird es uns gewiss unter dem
Fußnotensternchen der Verschwiegenheit berichten.
Postskriptum (bei Nichtbeachtung post mortem zu lesen): Wagemutige, die
Bartimäus vom Anderen Ort herbeibeschwören wollen, sollten nie auf die
Höflichkeit vergessen: Sprechen sie ihn als "Dämon" an, könnte dies
unter die Kategorie "berühmte letzte Worte" fallen, denn: "Die
korrekte Bezeichnung lautet 'Dschinn'. Man darf aber durchaus Adjektive
wie 'edler' oder 'herrlicher' hinzufügen. Eine simple Frage der
Umgangsformen" (Bartimäus).
(lostlobo; 07/2005)
Jonathan Stroud: "Bartimäus - Das Auge
des Golem"
(Originaltitel "The Bartimaeus Trilogy: Vol.II: The Golem's Eye")
Aus dem Englischen von Katharina Orgaß, Gerald Jung.
cbj, 2005. 672 Seiten. (Ab 10 J.)
Buch
bei amazon.de bestellen
Hörbuch (gekürzte Lesung; gesprochen von Peer Augustinski):
Randomhouse Audio, 2005. 6 Audio-CDs; Laufzeit ca. 450 Minuten; mit Begleitheft.
ISBN 3-86604-005-9.
Audio-CDs
bei amazon.de bestellen
Ein weiteres Buch des Autors:
"Bartimäus - Die Pforte des Magiers. Bartimäus 3"
"Ich bin Bartimäus, Sakhr al-Dschinni. Damals, vor langer Zeit, war ich
frei. Da fegte ich auf einem Wolkenstreif durch die Lüfte und entfesselte im
Vorüberfliegen ausgewachsene Sandstürme. Ich führte Heere gegen die Legionen
der Toten in die Schlacht, auf dass die Chronisten meine Heldentaten mit
ehrfürchtiger Feder niederschrieben. O ja! Ich war Bartimäus - schnell wie ein
Gepard, stark wie ein Elefantenbulle, todbringend wie eine Kobra! Aber das war
damals. Und heute - ja heute ..."
2000 Jahre sind vergangen, seit Bartimäus auf der Höhe seiner Macht war.
Heute, gefangen in der Welt der Magier, spürt er seine Kräfte schwinden. Doch
noch will sein Meister Nathanael ihn nicht aus seinen Diensten entlassen. Muss
er doch als Informationsminister gegen die Aufständischen und seine
Widersacherin Kitty kämpfen. Diese hat sich verbotenes Wissen über Magie und
Dämonen angeeignet und ist dabei auf ein längst vergessenes Geheimnis
gestoßen ... Da wird London plötzlich von einer bislang unbekannten Macht
angegriffen und Nathanael, Kitty und Bartimäus stehen vor der größten
Herausforderung in der Geschichte der Zauberei. Und das Schlimmste: Sie müssen
zusammenarbeiten. Das großartige Finale der Bartimäus-Trilogie. (cbj)
Buch
bei amazon.de bestellen
Leseprobe:
Bartimäus
Prag 1868
Bei Sonnenuntergang entzündeten die Feinde eines nach dem andern ihre
Lagerfeuer und es waren so viele wie noch in keiner Nacht zuvor. Die Lichter
funkelten wie glühende Edelsteine in der kargen Landschaft, so zahlreich, dass
es schien, als sei eine verzauberte Stadt aus dem Boden gewachsen. Im Gegensatz
dazu waren bei den Häusern hinter unseren Mauern die Läden verrammelt, die
Lichter gelöscht. Es war eine seltsam verkehrte Welt - die Stadt Prag lag
finster und tot, wogegen das Land ringsum vor Leben loderte.
Bald darauf ließ der Wind nach. Er hatte schon seit Stunden kräftig von Westen
geblasen und uns den Lärm der feindlichen Manöver zugetragen: das Geratter der
Belagerungsmaschinen, die Rufe von Soldaten und Tieren, das Ächzen der
versklavten Geister, den würzigen Duft der Beschwörungsrituale. Jetzt war er
unnatürlich abrupt abgeflaut, es herrschte tiefe Stille.
Ich schwebte hoch über dem Strachovkloster, dicht hinter der wuchtigen
Stadtmauer, die ich vor dreihundert Jahren errichtet hatte.
Meine ledernen Schwingen schlugen gemessen und kraftvoll, mein Blick überprüfte
alle sieben magischen Ebenen bis hin zum Horizont. Was ich sah, trug nicht zu
meiner Erheiterung bei. Ein Großteil des britischen Heeres war unter
Tarnzaubern verborgen, doch schon brandeten erste Ausläufer seiner magischen
Macht an den Fuß des Burgbergs. Die Auren eines gigantischen Aufgebots an
Geistern schimmerten schwach im Zwielicht; immer wieder kündeten kurze Erschütterungen
der Ebenen von der Ankunft neuer Bataillone. Menschentruppen marschierten
zielstrebig durchs Dunkel. Mittendrin stand eine Gruppe gewaltiger weißer
Zelte, deren Kuppeln an die Eier des Vogel Rock gemahnten und die von oben bis
unten mit Schutzschilden und anderen Bannzaubern wie mit dicken Spinnweben überzogen
waren.
Ich hob den Blick zum Himmel. Dort türmten sich Unheil kündende schwarze
Wolken, die im Westen mit gelben Schlieren durchsetzt waren. Ganz hoch oben und
im ersterbenden Licht kaum zu erkennen, erspähte ich verschwommen sechs Punkte,
die ein gutes Stück außerhalb des Detonationsradius kreisten. Sie flogen
stetig entgegen dem Uhrzeigersinn, vermaßen ein letztes Mal die Mauern,
inspizierten unsere Verteidigungsanlagen.
Ach, übrigens ... das war auch mein Auftrag.
Am Strachovtor, dem äußersten und verwundbarsten Punkt der Stadtmauer, hatte
man den Turm erhöht und verstärkt. Die uralten Torflügel waren mit dreifachen
Schließzaubern und unzähligen Auslösemechanismen versehen und auf den
bedrohlich aufragenden Zinnen wimmelte es von scharfäugigen, hellhörigen
Wachposten.
So war es jedenfalls gedacht.
Hin zum Turm flog ich, mit Falkenkopf, auf Lederschwingen, in mein Tarngespinst
gehüllt. Mit bloßen Füßen landete ich lautlos auf einem Sims und erwartete,
zum nachdrücklichen Beweis äußerster Alarmbereitschaft unverzüglich in
scharfem Ton angerufen zu werden.
Nichts dergleichen geschah. Ich warf meinen Tarnzauber ab und wartete auf
irgendein diskretes, wenn auch verspätetes Zeichen, dass mich jemand bemerkt
hatte. Ich hustete vernehmlich. Immer noch nichts. Ein schimmernder Schild
schirmte einen Teil der Brustwehr ab. Dahinter kauerten fünf Wachen. Der Schild
war ein ziemlich windiges Ding, auf einen Menschen, beziehungsweise höchstens
drei Dschinn ausgelegt, weshalb darunter ein ziemliches Gerangel im Gange war.
(...)