Johann Wolfgang von Goethe: "Osterspaziergang"
Reihe Poesie für Kinder
Jeder
sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
denn sie sind selber auferstanden:
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
aus der Straßen quetschender Enge,
aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
sind sie alle ans Licht gebracht.
(Auszug aus "Osterspaziergang" von Johann Wolfgang von Goethe)
Der "Faust" hat Goethe über Jahrzehnte seines Lebens
beschäftigt, und über dieses monumentale Werk ist
wohl schon ausreichend geschrieben worden. Der "Osterspaziergang" als
Bestandteil des "Faust" soll uns in dieser Besprechung nicht weiter
kümmern. Nein, wir wollen den "Osterspaziergang" einmal ganz
eigenständig betrachten und - besser noch - insbesondere in
Bezug auf dieses wunderbare Kinderbuch. Die Sache ist nämlich
die, dass jedes Gedicht für sich betrachtet ein in sich
geschlossenes Geschehnis - egal ob äußerlich oder
innerlich - abbildet.
Gedichte vermögen es, dem Leser innere Bilder nahezulegen. Es
geht nicht um die berühmte "Interpretation" wie bei Prosa,
sondern um Emotionen sowie um den Blick auf das Besondere.
Ostern als Fest der Auferstehung Jesu soll die Menschen
buchstäblich hinter den Öfen hervorlocken. Der Winter
ist vorbei, auch wenn es um die Osterzeit herum nicht immer
frühlingshaft warm ist. Somit nimmt auch der
"Osterspaziergang" Bezug auf den Winter, indem er seinen Abschied
"feiert" und den Frühling einläutet. Die
farbenprächtigen Bilder dieser Adaption sind von magischer
Anziehungskraft. Denn die große Bedeutung des
"Osterspaziergangs" - ganz für sich betrachtet - wird durch
sie vollkommen klar. Ein Mensch beobachtet die Szenerie, nimmt sich
Zeit für einen Spaziergang, bemerkt, wie die
Kirchgänger nach der Messe ihre Herzen in die Hand nehmen und
die Freuden, die der Frühling bietet, genießen. Sie
gehen ganz auf in den Sonnenstrahlen, unterhalten sich, fahren Boot,
und letztlich sind sie eine Gemeinschaft, die sich schlicht und einfach
am Menschsein und an der Geselligkeit erfreut.
Das Besondere am vorliegenden Buch ist, dass Goethe selbst als
Spaziergänger abgebildet ist, der nur bedingt Zugang zu den
fröhlichen Menschen, die den Frühling
begrüßen, hat. Er wirkt wie ein Fremder, der nicht
weiß, wie ihm geschieht. Er ist ein Abwesender im
großen Ganzen. Die Bilder suggerieren dabei
überhaupt nicht, dass es hier um Abgrenzungen, um Wertungen
geht. Nein, sie machen deutlich, wie sehr der Mensch seiner Mitmenschen
bedarf, und wie wichtig es ist, das Sein ganz im Jetzt zu
konzentrieren. Der "Vergeistigte" mag unzählige Erfahrungen
machen, durch die er der Welt mehr oder weniger seinen Stempel
aufdrückt, doch er hinkt meist den Erfahrungen hinterher, die
allein die Gegenwart bietet. Dieser "Osterspaziergang" bildet das Jetzt
ab, und der Leser kann diese Erfahrung bei jeder neuen Betrachtung
anders auslegen. Es ist wie im "wahren Leben", es kommt ganz auf den
Blickwinkel an. Einmal weckt dieses mein Interesse, dann jenes. Doch
nur in der Konzentration auf die Einzigartigkeit der Dinge werden jene
Geheimnisse offenbar, die Ostern zu einem besonderen Fest machen. Die
Auferstehung als Momentaufnahme, für die es keine Steigerung
mehr gibt. Die Welt entsteht jeden Tag neu für den Menschen,
der sich in ihr manifestiert. Und so kann es in seltenen
Fällen auch mit Büchern sein, die bei jeder
Betrachtung wie neu erscheinen. Dieser Glücksfall ist bei
diesem "Osterspaziergang" gegeben. Poesie für Kinder, wie sie
besser nicht dargestellt sein kann.
(Klabauter; 03/2012)
Johann
Wolfgang von Goethe: "Osterspaziergang"
Reihe
Poesie für Kinder.
Mit Bildern von Klaus
Ensikat.
Kindermann Verlag, 2012. 32 Seiten. (Ab 7 J.)
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