Peter Maiwald: "100 Geschichten"

Ein Lese- und Vorlesebuch


Für ihre Familie ist Angelika kaum noch auszuhalten. Sie soll nämlich beim Schulfest Schneewittchen spielen und findet sich allzu perfekt in ihre Rolle: Hat sie einen Apfel in der Hand, so fällt sie wie tot zu Boden, wenn es klingelt, schreit sie: "Nicht aufmachen! Draußen ist eine Hexe!", und sie liegt wie tot in der Badewanne. Nach dem erfolgreich verlaufenen Schulfest atmet die Familie auf, aber da kommt Angelika mit einer tollen Neuigkeit: Beim nächsten Schulfest soll sie Rotkäppchen spielen!

Bobo heult, weil er seinen Vater vermisst. Edi will eigentlich mit ihm kämpfen, aber mit einem, der heult, kann man nicht kämpfen. Edi weiß, warum Bobo heult, und erklärt ihm, seine Eltern seien auch getrennt, und es habe so einige Vorteile, keinen Vater zu haben. Nachdem er sie aufgezählt hat, zieht Bobo getröstet ab. Doch jetzt muss Edi dauernd an seinen Vater denken, den er schrecklich vermisst - und nun heult Edi.

Herr Abelmann verwahrt sich dagegen, dass er allein lebt - nein, erklärt er den Kindern, die ihm gegen Entgelt seine Einkäufe erledigen, er lebt mit seiner Einsamkeit. Allerdings ist diese oft keine angenehme Lebensgefährtin, sie stichelt nämlich und sagt ihm dann, warum ihn niemand besuchen mag: weil er zu dumm, zu dick, zu klein, zu hässlich, zu langweilig oder vielleicht zu arm ist. Sie zeigt ihm die anderen, die diese Probleme nicht haben. Doch Herrn Abelmanns Einsamkeit hat auch eine gute Seite: Mit niemandem kann er besser seine schönen, spannenden Bücher lesen. Und einer, der tolle Bücher liest, ist nie einsam.

Und Max lernt Max zwei kennen, eine Stimme, die eines Nachts zu ihm spricht. Max zwei ist Maxens zweites Ich, jenes Ich, das Max nicht sein will: der Verlierer-Max, der Max, dem alles schief geht, der vergessliche Max, der schlampige Max, der Faul-Max, der Lügen-Max und so fort. Als Max den Max zwei besser kennen lernt, kann er ihn plötzlich richtig gut leiden.

Die hier vorgestellten Kinder und weitere Personen aus ihrem Umfeld begegnen dem Leser in den hundert Geschichten öfters, freilich auch wesentlich skurrilere Figuren, zum Beispiel der Zeitkönig, der Riese Grandomir und der Zwerg Miniplir oder auch der Teufel höchstpersönlich, der sich als ein recht sympathischer, wenn auch sonderbarer Zeitgenosse entpuppt. Diese Kindergruppe lebt in ihrer typischen Kinderwelt, in der so ziemlich alles möglich ist und kaum etwas wirklich erstaunt. Nur die Erwachsenen haben wenig Verständnis für Zwurbel und ähnliche Wesen oder für Kinder, die einfach nur "Piep" sagen. Und wenn ein Erwachsener wie Herr Richard Heinemann beschließt, er sei jetzt unübersehbar ein Baum, halten ihn die anderen Erwachsenen für verrückt. Nicht jedoch Max, der kann ihn gut verstehen.

Fantasievoll, in positivem Sinne versponnen und oft sehr tiefsinnig sind diese 100 Geschichten, manche auch voller Kinderwitz, andere entwickeln sich um Probleme, wie die meisten Kinder sie selbst erleben oder im Freundeskreis erfahren: Eltern trennen sich; der Freund ist böse mit der Hauptperson der Geschichte; die zaghafte Liebe zu einem anderen Kind wird nicht erwidert; man wünscht sich etwas ganz intensiv, und es wird einfach nicht wahr; die Erwachsenen leben in ihrer eigenen Welt und verstehen Kinderträume und -ängste nicht.

Der Umfang der Geschichten beträgt selten über zwei Seiten und überfordert daher das Durchhaltevermögen von Erstlesern nicht. Und wenn man das Buch zum abendlichen Vorlesen verwendet, so bleibt wegen der Kürze der Geschichten noch Zeit, hinterher darüber zu reden. Denn das ist eine Besonderheit dieser kleinen Episoden: Sie regen zum Gespräch, zur Auseinandersetzung und zum Weiterspinnen an.

Die liebenswerten Illustrationen tun ein Übriges, um dieses Buch zu einer der Perlen im Regal zu machen.

(Regina Károlyi; 12/2006)


Peter Maiwald: "100 Geschichten"
Illustriert von Leonard Erlbruch.
dtv junior Reihe Hanser, 2006. 256 Seiten. (Ab 6 J.)
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Peter Maiwald, geboren 1946, lebt als freier Schriftsteller in Düsseldorf. Er schreibt Gedichte und Kurzprosa, politische Revuen, Reportagen, Hörspiele und Kinderbücher. "100 Geschichten" ist sein erstes Kinderbuch in der Reihe Hanser.

Ein weiteres Kinderbuch von Peter Maiwald:

"Die Mammutmaus sieht wie ein Mammut aus. Gedichte für Kinder"

Mit zweifarbigen Illustrationen von Hildegard Müller.
Der Tausendfüßler, der um die Ecke wetzte und sich das Bein verletzte, Muscheln, die kuscheln, und Herr Pittermann, der sagt, er sei der Weihnachtsmann ... Von kuriosen und erheiternden Dingen erzählen die Gedichte Peter Maiwalds. So schön kann Dichten sein, wenn man mit den Wörtern spielt! (Hanser Kinderbuch)
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Leseprobe:

Schneewittchen

Schneewittchen saß im Holundergebüsch und trat mit ihren Füßen gegen die Äste und sagte dreimal: "Kartoffelsuppe! Kartoffelsuppe! Kartoffelsuppe!" Und das kam so:

"Angelika", hatte Frau Eifelfels in der Schule gesagt, "beim Schulfest wollen wir ein Märchen aufführen und du sollst Schneewittchen spielen."

"Mutter, Mutter", hatte Angelika gerufen, als sie nach Hause kam, "ich soll beim Schulfest Schneewittchen spielen."

"Na, denn man los", sagte Angelikas Mutter.

Und Angelika legte los. Von diesem Tag an las sie in jeder freien Minute das Märchen von Schneewittchen und lernte alle Sätze, die Schneewittchen sagte, auswendig. Aber damit nicht genug. Von diesem Tag an begann Angelika nicht nur, wie Schneewittchen zu sprechen, nein, sie begann, wie Schneewittchen zu gehen, mehr noch, sie begann, wie Schneewittchen zu atmen, und noch mehr, sie begann, wie Schneewittchen zu leben.

"Oh, guten Morgen, mein schöner Prinz", hauchte Angelika, wenn sie am Morgen beim Frühstück ihren Bruder sah. Der tippte sich nur an die Stirn. "Kartoffelsuppe", sagte Angelika beleidigt zu ihrem Bruder. "Kartoffelsuppe" und "Spielverderber". "Kartoffelsuppe" sagte Angelika immer, wenn sie etwas nicht mochte, denn von allem, was sie nicht mochte, mochte sie Kartoffelsuppe am wenigsten.

Eines Nachmittags, als Angelikas Bruder ins Badezimmer kam, sah er Angelika bewegungslos in der Badewanne liegen. "Spinnst du?", sagte Angelikas Bruder.

"Ich bin Schneewittchen und ich bin tot und ich liege in einem Glassarg", sagte Angelika leise und blieb weiter bewegungslos in der Badewanne liegen. "Du spinnst", sagte Angelikas Bruder. "Kartoffelsuppe", schrie Angelika wütend.

Von nun an konnte Angelika an keinem Spiegel in der Wohnung mehr vorbeigehen ohne hineinzurufen: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?" Und jedes Mal, wenn Angelika einen Apfel zur Hand hatte, rief sie: "Oweh, er ist vergiftet!" Und fiel wie tot zu Boden. "Jetzt ist sie verrückt geworden", sagte Angelikas Mutter und machte sich Sorgen. "Die hat einen Hau weg", sagte Angelikas Bruder. "Jetzt übertreibst du es aber", sagte Angelikas Vater. "Kartoffelsuppe", sagte Angelika gekränkt, stand auf und lief in den Garten, setzte sich in den Holunderbusch und trat wütend seine Äste.

"Meinetwegen, soll sie halt Schneewittchen sein", sagte Angelikas Vater, "bis zum Schulfest sind es ja nur noch ein paar Tage", und er sagte nichts mehr, wenn Angelika wie tot in der Badewanne lag oder beim Apfelessen wie tot hinfiel oder mit dem Spiegel sprach. "Von mir aus", sagte Angelikas Mutter, "soll sie Schneewittchen sein, bis zum Schulfest ist es nicht mehr lang", und sie sagte nichts mehr, wenn Angelika sagte: "Mutter, hast du meine sieben Zwerge gesehen?" Oder rief: "Hab keine Zeit! Muss sieben Tellerchen und sieben Becherchen und sieben Gäbelchen und sieben Messerchen und sieben Löffelchen waschen."

"Na gut", sagte auch Angelikas Bruder, "irgendwann ist es ja mit dem Schneewittchenschneewittchen-Tun vorbei", und er wunderte sich nicht mehr, wenn Angelika, wenn es an der Haustür läutete, rief: "Nicht aufmachen! Draußen steht eine alte Hexe und will mich mit einem Apfel vergiften."

Der Tag des Schulfestes kam und Angelika spielte das schneewittichste Schneewittchen, das man sich nur denken kann. Angelikas Familie war stolz auf Angelika, aber auch erleichtert, denn nun war das Schneewittchen-Theater endlich vorbei. Da kam Angelika aus der Schule und rief: "Mutter, Mutter, stell dir vor, beim nächsten Schulfest soll ich Rotkäppchen spielen!"

"Kartoffelsuppe! Kartoffelsuppe!", schrie Angelikas Familie im Chor.

"Was habt ihr denn", sagte Angelika, "ich weiß gar nicht, was ihr habt?"

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