Mira Lobe: "Insu-Pu"
Die Insel der verlorenen Kinder
Mira Lobe wurde 1913 als Hilde Mirjam
Rosenthal in Görlitz geboren. Germanistik und Kunstgeschichte wollte sie nach
ihrer Schulzeit studieren, doch als Jüdin war ihr das untersagt. Sie schließt
die Textil- und Modeschule in Berlin ab und wandert 1936 nach Palästina aus, als
ihr der Judenhass der Nazis zu gefährlich wird. Ihre Mutter, Großmutter und
Schwester sollten später noch rechtzeitig nachkommen.
Sie heiratet 1940
den Schauspieler und Regisseur Friedrich Lobe. Als sie 1943 mit ihrer Tochter
Claudia schwanger ist und die Nachrichten aus Europa und Asien immer
schrecklicher werden, fängt sie mit dem Schreiben an und hört bis zu ihrem
Lebensende nicht mehr damit auf.
1951 kommt sie mit ihrem Mann nach Wien,
nach der Schließung des kommunistischen Theaters, das ihn engagiert hatte, leben
sie für einige Monate in Ost-Berlin am Deutschen Theater der DDR, bevor sie das
Heimweh kurze Zeit später wieder zurück nach Wien treibt.
Ab dieser Zeit
veröffentlicht Mira Lobe jährlich bis zu drei Kinderbücher, insgesamt über
hundert. Viele davon werden mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem das 1972
erschienene "Das kleine Ich-bin-Ich", das seither viele Generationen von Kindern
zur Ausbildung eines gesunden Selbstbewusstseins motiviert hat.
Mira
Lobes Bücher sind geprägt von Wärme, Zuneigung, Ungeduld, Verständnis,
Engagement und Toleranz. Die Autorin beschreibt das Verständnis für Außenseiter
und die Geduld gegenüber den Schwachen. Ihre Bücher sind spannend und stimmen
mit sich selbst überein. Und sie haben Humor.
Schon in ihrem ersten,
jetzt vom Jungbrunnen-Verlag in Wien dankenswerterweise wiederaufgelegten Buch
"Insu-Pu", das 1948 in Israel und dann 1951 mit erweitertem Titel und
veränderten geografischen Angaben erstmals auf deutsch veröffentlicht wurde,
treten alle diese literarischen Qualitäten schon klar zu Tage.
In Urbien
(lies: England) herrscht Krieg. Feinde (lies: die Nazis) bombardieren das Land,
und die Sicherheit der Kinder ist bedroht. Deshalb sollen urbische Kinder über
das Meer nach Terranien (lies: USA) in Sicherheit gebracht werden. Auf dem Weg
dorthin läuft eines der Schiffe des Verbandes auf eine Mine und sinkt. Alle
Kinder können gerettet werden, nur ein Boot mit vier Mädchen und sieben
Jungen hat sich während der Rettungsaktion losgerissen und treibt auf dem
Meer.
Am nächsten Tag stranden
die Kinder (das jüngste ist etwa acht Jahre, das älteste 16 Jahre alt) auf
einer Insel, die nur von Tieren bewohnt wird und fangen an, ihr Überleben zu
organisieren.
Schon bald nennen sie ihr Eiland Insu-Pu, als Abkürzung für
"Insula puerorum" - Insel der Kinder.
Mira Lobe beschreibt eindrucksvoll,
wie sich die Kinder durch alle normalen Konflikte hindurch, die durch
unterschiedliche Lebensalter, Herkunft, Bildung und Talente entstehen, zu einer
Gemeinschaft entwickeln, die zusammenhält. Es drückt sich darin die unbändige
Hoffnung von Überlebenden aus, dass das Lernen von Verständigung im Kindesalter verhindern wird, dass solch ein Verbrechen und Völkermord jemals wieder
geschehen wird.
Michel, der Enkel des Präsidenten von Terranien, durch
dessen Einfluss und Penetranz die ganze Kinderaktion erst möglich wurde, lässt
nicht locker. Er glaubt nicht an den Tod der Kinder, erst recht nicht als, er
eine Funkbotschaft von ihnen empfängt. Endlich kann er einen Erwachsenen
überzeugen, und eine tollkühne Rettungsaktion beginnt ...
Ein schönes
Buch, das auch in der heutigen Zeit mithelfen kann, Mira Lobes tiefe Überzeugung
weiterzugeben, dass Kinder (vielleicht auch in der Folge die Erwachsenen?) ein
wirklich gemeinschaftliches Leben aufbauen können.
(Winfried Stanzick; 04/2006)
Mira
Lobe: "Insu-Pu"
Jungbrunnen Verlag, 2006. 260 Seiten. (Ab 10
J.)
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Leseprobe:
Beim
Näherkommen sahen sie, dass die Insel, auf die sie zusteuerten, nicht sehr groß
zu sein schien. Von einem flachen, weißen Strand stieg sie jäh steil hinauf und
war oben mit Palmen und hohem Gesträuch bewachsen.
"Kinder, Kinder",
sagte der Große, "wir haben alle mehr Glück als Verstand."
"Abwarten",
bemerkte Stefans Nachbarin. Sie war das älteste Mädchen im Boot und schien der
Meinung zu sein, dass eine schnippische Antwort nie schaden könne. Der Große
überging ihren Einwurf.
"Seht einmal", sagte er, "die Insel ist grün.
Also stehen Bäume darauf: Wo Bäume wachsen, ist Wasser, wo Wasser ist, leben
Tiere, wo Tiere sind, gibt es etwas zu essen."
"Und was ist, wenn die
Tiere wild sind?", erkundigte sich das Mädchen. "Tiger und Löwen und so etwas
...?"
"Oder Kannibalen!", rief Thomas begeistert. "Die binden einen an
den Marterpfahl und rösten einen von unten her!"
"Hör auf!", piepste das
rothaarige Mädchen und ließ vor Entsetzen das Ruder los.
Der Große
runzelte die Stirn und brummte: "Was seid ihr für eine ängstliche Gesellschaft!
Erst habt ihr Angst zu ertrinken oder von Haifischen gefressen zu werden, und
kaum seht ihr ein Stückchen Land, da zittert ihr schon vor Löwen und
Kannibalen." - Die Kinder schwiegen beschämt und ruderten, was das Zeug hielt.
Die Insel kam langsam näher, und immer deutlicher konnten sie den Strand und
oben die grünen Bäume sehen. Stefan wurmte es, dass der Große ihn für feige
hielt.
"Hast du denn niemals Angst?", fragte er ihn nach einer
Weile.
"Und wenn ich welche habe, dann sage ich es nicht!", kam großartig
die Antwort. Und nach einer Pause, zögernd: "Ich darf es nämlich
nicht."
"Warum darfst du nicht?", fragte das Mädchen
neugierig.
"Ich habe es geschworen", antwortete der Große. Sie hörten
alle auf zu rudern und starrten ihn offenen Mundes an.
"Schaut mich doch
nicht so an", verwies er sie. "Ich bin Pfadfinder, ganz einfach. Wir haben
Gesetze; eins davon heißt: Ein Pfadfinder ist nicht feige." Er holte einen
Feldstecher aus der rechten Hosentasche und einen Kompass aus der linken und
blickte mit bedeutsamer Miene nach der Insel hinüber. "Süd-Südost", murmelte er.
Und dann sah er lehrerhaft auf die Kinder und fügte hinzu: "Wir sind etwas
abgetrieben." (...)