Antoinette Portis: "Das ist kein Karton!"
Karton ist ein Karton ist ein
Karton ist ein Karton!?
Wiederholungen wie die vorstehende, die Gertrude Steins bekanntestem Satz
nachempfunden ist, können sowohl Wahrnehmung als auch Wiedergabe von Wirklichkeit
revolutionieren, und das nicht für alle gleichermaßen Sichtbare beflügelt die
Fantasie vieler Menschen; sei es J.K. Rowlings Gleis 9 3/4, der für "Muggels"
unsichtbar ist, oder der Kobold Pumuckl, den nur Meister Eder sehen kann, um
zwei bekannte Beispiele zu nennen.
Nicht allein Kindern, fantasievollen Menschen aller Altersstufen fällt es
leicht, in auf den ersten Blick eher unscheinbaren Alltagsgegenständen
Möglichkeiten zu erkennen, die weit über deren "praktischen Nutzen"
hinausgehen. So kann beispielsweise ein Leintuch zur Schleppe werden, ein Topf
zum Hut, ein Seil zur Schlange, ein Kochlöffel zum Zauberstab ... oder eben ein
Karton zum Rennauto - das "Spielzeug" liegt quasi im Auge des
Betrachters.
Die Aufmachung von "Das ist kein Karton!" erinnert übrigens tatsächlich an einen
Transportkarton, und sogar der Geruch ist ähnlich, was nicht jeder Nase zusagen
mag.
Auf der Titelseite sieht man ein Häschen nachdenklich neben einer ganz
gewöhnlichen Schachtel stehen.
Ich seh', ich seh', was du nicht siehst ... vom Abtauchen in
höchstpersönliche Fantasiewelten
Wie heißt es so schön in Antoine de
Saint-Exupérys Erzählung "Der
kleine Prinz": "Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."
Der nicht in Erscheinung tretende teilnahmslose Fragensteller in "Das ist
kein Karton!" will unablässig vom kleinen Häschen wissen, warum es dieses oder
jenes in/mit dem Karton tue, beispielsweise lautet seine erste Frage: "Warum sitzt
du in einem Karton?", denn genau das ist für den
"Außenstehenden" zu sehen.
Häschens Antwort: "Das ist kein Karton!", und nach dem
Umblättern wird die subjektive Momentwirklichkeit des Häschens in der Form
dargestellt, dass sowohl das Häschen als auch der Karton mit ausdrucksstarken
schwarzen Strichzeichnungen umgesetzt sind, und all das, was sich
"nur" in der
Fantasie des Häschens hinzugesellt hat, in roten Linien gehalten ist.
Antoinette Portis hat also das Wesentliche für die Augen sichtbar gemacht.
Im ersten
Fall handelt es sich hierbei um ein Rennauto. Und warum steht das Häschen auf
dem Karton? Weil dieser der "Hasengipfel" ist. So geht es weiter, bis das Häschen
schlussendlich (frustriert? erschöpft?) feststellt: "Das ist mein Kein-Karton!"
Antoinette Portis, in Kalifornien ansässig, verfasste sowohl Text als auch Illustrationen. Obwohl die
Zeichnungen ausnehmend schlicht und sparsam ausgefallen sind, vermitteln sie
doch Eindrücke von der lebhaften Fantasie des Häschens; jedenfalls ist die
Botschaft unmissverständlich.
Es sollte allerdings nicht beim Durchblättern dieses Buchs bleiben; viele Dinge
warten darauf, ebenso höchstpersönlich unmittelbar entdeckt zu werden wie des
Häschens Karton.
Die im Buch unkommentiert bleibende Widmung der Autorin wirkt einigermaßen befremdlich:
"Für alle Kinder, die in Pappkartons sitzen", und es ist nicht
nachvollziehbar, dass Saskia Heintz' Übersetzungskünste vor gewissen Buchdeckelaufschriften
haltgemacht haben.
Ein wahrer Klassiker für Fantasievolle und uneingeschränkt zu empfehlen ist
hingegen das im Jahr 1974 erschienene Kinderbuch "Das Zauberzimmer"
von Mira Lobe und Susi Weigel.
(Irmgard Ernst; 08/2007)
Antoinette Portis: "Das ist kein Karton!"
(Originaltitel "Not a Box")
Übersetzt von Saskia Heintz.
Hanser Kinderbuch, 2007. 26 Seiten. (Ab 3 J.)
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Ein Buchtipp:
Mira Lobe
(Text), Susi
Weigel (Illustrationen): "Das Zauberzimmer"
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