Sue Scullard: "Miss Harriets Reise mit dem Drachen"
Der Klabauter kann nicht verhehlen,
dass eines seiner Lieblingsbücher von einem Drachen handelt. Die Qualze und
die sieben Brüder (geschrieben von Helga Weymar) ist ein fantastischer Roman,
der von einer Reise erzählt, die sieben Brüder bestreiten. Ihr Ziel besteht
darin, die einzige Schwester ausfindig zu machen, welche von der bösartigen
Qualze entführt worden ist. Und es dauert eine Weile, bis sie feststellen können,
dass die Qualze den heiratswilligen Prinzen in einen Drachen verwandelt hat.
Dieses Buch erschien im Jahre 1972, und es wäre eine wunderbare Sache, wenn
es zu einer Neuauflage dieses Kleinodes der fantastischen Kinderliteratur käme.
Bei Miss Harriets Reise mit dem Drachen verhält es sich so, dass dieses
Buch bereits im Jahre 1986 (bzw. in deutscher Übersetzung 1987) erschienen ist.
Nunmehr kann dieses ungewöhnliche Werk von einer neuen Generation von Kindern
bewundert werden. Die ausgebildete Magister of Art arbeitet als Holzschnitzerin
und freie Illustratorin. Sie ist eine leidenschaftliche Bergsteigerin, die nicht
nur die schottischen Highlands kennt, sondern ebenso die Alpen. Ihre Abenteuerlust
hat sie also mit ihrer Heldin Miss Harriet gemein. Übrigens sollte die
kühne Forscherin drei Jahre später, also im Jahre 1990, in ihrem Ballon um
die Welt reisen.
Miss Harriet ist das Gegenteil einer konservativen Engländerin. Sie ist stets
bereit, sich auf ein Abenteuer einzulassen. Seit ihrer Kindheit träumt sie davon,
einen Drachen zu entdecken. Ihr Forscherdrang hat sie schon in alle möglichen
Gegenden der Erde verschlagen. Somit ist ihr Wohnzimmer mit allerlei Dingen
vollgestopft, die von ihren Expeditionen herrühren. Das geht von afrikanischen
Masken über wertvolle Vasen und geheimnisvolle Truhen bis zu einer Drachenskulptur.
Nie mochte sie glauben, dass Drachen ausgestorben
seien. Während ihrer ersten Expedition durch Südpatagonien hörte sie von einem
alten Mann eine seltsame Geschichte. Er behauptete, im Inneren der Erdkugel
hielten sich riesengroße, bösartige Vögel auf, welche die Lavamassen glühend
heiß und flüssig hielten, wobei sie den feurigen Atem der Drachen nutzen konnten.
Miss Harriet dachte immer wieder über diese Geschichte nach und machte sich
eines Tages auf nach Patagonien.
Ein Schiff brachte sie in Küstennähe, von wo sie Rauch in den weiten Bergen
aufsteigen sah. Sie war davon überzeugt, dass es sich um Drachenrauch handelte.
Mit einem Ballon ging es also den Gipfeln der Berge entgegen, und in einem mit
Bäumen und Ästen vollgepfropften Nest befand sich tatsächlich ein Drache, der
zudem ein Ei bewachte. Das Ei war schnell mit dem Lasso in ein Fangnetz verbracht,
und der Drachenkopf konnte sich der Schlinge nicht erwehren, die ihn zu einem
Gefangenen der Forscherin machte. Miss Harriet brachte ihren Sensationsfund
per Schiff nach
London, wo der Drache in einem Käfig ausgestellt wurde. Um den Käfig herum
kreiste ein Vogel, und die Forscherin entdeckte rasch, dass er das Ei gestohlen
hatte. Sie machte sich auf, den Vogel samt Ei mit ihrem Ballon zu verfolgen.
Dabei geriet sie in eine seltsame Gegend voller weiterer Drachen und merkwürdig
aussehender Vögel. In dieser geheimnisvollen Welt schlüpfte das Drachenbaby
aus dem Ei und wuchs exorbitant schnell. Da es ein zutrauliches Tierchen ist,
flog es mit Miss Harriet auf seinem Rücken aus dieser Welt hinaus, und bald
fanden sich die zwei Freunde in einer herrlichen Stadt wieder, die von einer
mächtigen Schlange bewacht wurde. Nie hätte die Forscherin den Weg aus dieser
Stadt heraus gefunden, wäre ihr nicht der Jungdrache behilflich gewesen. Sein
Instinkt führte ihn zu seiner Mutter, die immer noch gefangen in ihrem Käfig
hockte und zum ersten Mal in ihrem Leben ihr Junges zu Gesicht bekam. Miss Harriet
war ganz entzückt von den beiden Drachen. Doch sie wollte nicht, dass diese
Wesen für immer ihr Leben in einem Käfig verbringen sollten. Also entließ sie
ihre Freunde ins Freie und winkte ihnen im Bewusstsein nach, dass sie sie nie
wieder sehen würde.
Das Buch besticht insbesondere durch fantastische Zeichnungen. Der kleine oder
größere Leser wird auf eine Reise mitgenommen, die ihn in verschiedene Welten
inmitten von zauberhaften Wesen wie Drachen, Schlangen
oder monströsen Schmetterlingen führt. Bemerkenswert ist auch die Darstellung
der Stadt, die von der Schlange bewacht wird und somit von fremdartigen Eindringlingen
verschont bleibt. Die Geschichte selbst mag darauf hinweisen, dass der Forscher
nicht darauf aus sein sollte, seine Entdeckungen dauerhaft begierigen Gaffern
als Ausstellungsobjekt vorzuführen. Wie lange Miss Harriet die Drachen in dem
goldenen Käfig belässt, wird nicht gesagt. Vielleicht sind es ja sogar ein paar
Jahre.
Es geht in erster Linie darum, Kinder auf eine spannende Reise mitzunehmen,
bei der es viel zu erleben gibt. Und um die Erfüllung eines Lebenstraums, an
den Miss Harriet Zeit ihres Lebens zu glauben vermochte. Was Kinder in diesem
Sinne aus dem Buch mitnehmen mögen, ist, an Träume zu glauben, die sich irgendwann
erfüllen könnten - und den Glauben an diese (Lebens-)Träume nie zu verlieren.
Das Buch wird von einem Kuvert ergänzt, in dem sich der Papagei befindet, der
Miss Harriet auf ihren Reisen begleitet. Zudem besteht die Möglichkeit, nach
einer Bastelanleitung den Ballon der Forscherin zu konstruieren.
(Klabauter; 09/2005)
Sue Scullard: "Miss Harriets Reise mit dem Drachen"
Übersetzt von Hildegard Krahe
Lappan, 2005. 40 Seiten. (Ab 5 J.)
ISBN 3-8303-1097-8.
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Sue Scollard wurde 1958 geboren und lebt in Kent.