Friedrich Ani: "Wie Licht schmeckt"


Lukas' sehnlichster Wunsch ist es, einmal drei Tage lang allein durch München zu streifen. Er möchte drei Tage lang dorthin gehen wo es ihn gerade hintreibt; ohne Ziel vor Augen und vor allem ohne seinen Eltern darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Die besonders überängstlichen Erwachsenen sind natürlich strikt gegen dieses Vorhaben. Obwohl ihnen Lukas oft damit in den Ohren liegt, bleibt ihm der Wunsch verwehrt. Anlässlich seines 14. Geburtstags erfüllt er sich diesen einfach selber. Lukas verlässt ohne Worte das elterliche Haus. Durch eine Unachtsamkeit seinerseits kracht er wenig später mit einem blinden Mädchen zusammen. Es kommt zum Sturz.
Lukas kann den Vorfall nicht vergessen. Das Mädchen auf der Rolltreppe geistert ständig in seinem Kopf herum. Von einem Zettel, der aus ihrer Tasche fiel, konnte er den Namen eines Gasthofs ablesen. Wie magnetisch angezogen macht er sich auf den Weg und trifft Sonja, so heißt die Blinde, wieder. Sie arbeitet als Kellnerin. Lukas ist verwundert, ob der Tatsache, dass eine blinde junge Frau als Serviererin jobbt. Beeindruckt von der Selbstständigkeit des Mädchens und obwohl er seinen Geburtstag lieber allein verbringen möchte, geht er, auf das Drängen von Sonja und ihrer Freundin Vanessa hin, mit den beiden Mädchen ins Freibad.
Lukas macht sich eigentlich nicht viel aus Baden, geht aber trotzdem schwimmen um nicht als Feigling dazustehen. Aus unerklärlichen Gründen wird der Junge ohnmächtig. Die Bademeisterin bekommt davon nichts mit, da sie gerade an anderer Stelle gebraucht wird. Mutig springt Sonja in das Becken und rettet Lukas das Leben. Nach diesem Erlebnis trennen sich ihre Wege für kurze Zeit. Lukas streunt mutterseelenallein in der Nacht umher. So war sein Wunsch. Er kann nicht begreifen, wie Sonja ohne Augenlicht im Stande war, ihn aus dem Wasser zu fischen. Er führt ein Experiment durch und schließt für einige Minuten seine Augen. Bei dem Versuch einem blinden Menschen nachzuempfinden, fällt er eine steile Treppe hinab und fügt sich mehrere leichte Verletzungen zu. Trotzdem verschwendet er keinen Gedanken daran nach Hause zu gehen. Am Morgen des nächsten Tages findet er in seinem Buch Sonjas Adresse. Sie muss sie ihm im Schwimmbad hineingeschrieben haben.
Sonja ist allein zu Hause. Die Beiden führen ein klärendes Gespräch. Lukas hätte noch so viele Fragen an das Mädchen, doch die hat Anderes mit ihm vor. Sie erleben gemeinsame erotische Momente. Etwas später führt Sonja Lukas in ein Restaurant, wo sie ihn in die hohe Kunst der Sommeliers einführt. Sie zeigt ihm die Welt mit den Sinnen, die ihr zur Verfügung stehen. Lukas fühlt, wie eine tiefe Zuneigung in ihm heranwächst, doch dann lässt Sonja ihn eiskalt vor ihrer Tür abblitzen.
Auf der Party eines Bekannten fällt sein Blick auf das Kinoprogramm einer Tageszeitung. Er erinnert sich daran, bei Sonjas Zeitung einen markierten Film gesehen zu haben. Er fährt zum besagten Kino. Sonja und Vanessa sind wie erwartet ebenfalls da. Zu dritt sehen sie sich einen chinesischen Actionfilm an, wobei Lukas als Audio-Descriptor fungiert. Nach dem Film hat Lukas eine Idee. Er bringt Sonja in die Maximilianstraße und zeigt ihr während eines unbeschreiblich schönen Sonnenuntergangs wie Licht schmeckt. Die Beiden werden einander nie wieder begegnen. Lukas macht sich um einige Erfahrungen reicher auf den Heimweg.

Der aus der Ich-Perspektive erzählte Roman ist die Geschichte eines mitten in der Pubertät befindlichen jungen Mannes. Der Autor lässt seine Leser tief in dessen Gedankenwelt blicken und gibt sich alle Mühe, die Figur Lukas zu einem glaubwürdigen Vierzehnjährigen zu machen. Sein frischer Erzählstil und die flapsige, jugendliche Sprache unterstützen sein Bestreben. Trotzdem wirft die Handlung einige Ungereimtheiten - oder sagen wir mal - Unglaubwürdigkeiten auf. Da wäre zum Beispiel der Restaurantbesuch. Ich frage mich, in welchem Lokal der Kellner seelenruhig und mit devotem Blick einem Vierzehnjährigen eine Flasche Wein kredenzt? Und welche Siebzehnjährige sitzt daneben und beschreibt mit den Worten eines französischen Weinkenners dessen Abgang? Natürlich können blinde Menschen hervorragend Personen um sich herum wahrnehmen, doch schaffen sie es auch, alleine den Service in einem großen Bierlokal auf die Reihe zu bekommen? Ich habe da so meine Zweifel. Und welcher Vierzehnjährige liest freiwillig Theaterstücke von Samuel Beckett, zitiert daraus und zieht Parallelen zu seinen privaten Problemen? Ich kenne keinen. Wäre drei Tage allein in der Stadt herumirren ein Heilmittel für die Pubertät, würden mit Sicherheit viele genervte Eltern ihre Sprösslinge für ein paar Tage aussetzen, um es danach mit einem zum normalen Erwachsenen Herangereiften zu tun zu haben.
Dennoch ist die Geschichte sehr berührend und spricht junge Leser sicherlich an. Der Autor versucht, eine junge Frau mit Behinderung auf unkonventionelle Art an Jugendliche heranzutragen und vermittelt, dass auch solche vom Schicksal gebeutelte Menschen ihr Leben fest im Griff haben können. Dies gelingt ihm bravourös. Gleichzeitig findet das gesellschaftlich tabuisierte Thema Sexualität mit Behinderung auf respektvolle Weise Eingang in die Handlung.
Abgesehen von den eingangs erwähnten Schwächen ist "Wie Licht schmeckt" ein Buch, das eine Vorreiterposition im Hinblick auf die Thematik einnimmt und es somit verdient, gelesen zu werden.

Der Autor Friedrich Ani wurde 1959 in Kochel am See geboren. Er arbeitete unter Anderem als Polizeireporter, Kulturjournalist und verfasste einige Skripten für Fernsehserien wie Ein Fall für Zwei.
Weiters erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Preise wie etwa den Literaturförderpreis der Stadt München, den Staatlichen Förderungspreis für Literatur des Bayrischen Kulturministeriums und den Deutschen Krimi-Preis 2002. Wie vielseitig das literarische Schaffen dieses Mannes ist, zeigt seine Erlangung des 2. Preises beim Wettbewerb um den Playboy-Gratwandererpreis für Erotische Literatur.
Heute lebt Friedrich Ani als Schriftsteller in München.

(NiNanu; 08/2005)


Friedrich Ani: "Wie Licht schmeckt"
dtv, 2005. 224 Seiten. (Ab 13 J.)
ISBN 3-423-62224-5.
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